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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Aufgaben der Volksvertreter

unsrer Volksgenossen, die sonst träge abseits standen, eilten zur Urne, um, so
viel es an ihnen war, zu bekräftigen, daß diese Politik, festgelegt durch den
Weihnachtsbrief des damaligen Reichskanzlers, ihnen ein Segen für das Vater¬
land schiene. Hütte damals eine der Blockparteien ihre Mitwirkung versagt, der
Ruf: Verrat! würde tausendstimmig durch das Land erschollen sein. Der Block
ist zerfallen. Mit Sentimentalitäten ist er nicht wieder zusammenzuleimen.
Der Wille, der den heutigen Abgeordneten zu ihrem Mandat verholfen hat,
kann nicht mehr in die Tat umgesetzt werden. Nutzlos ist es auch, die Frage
aufzuwerfen, ob es richtig gewesen sein würde, Neuwahlen auszuschreiben. Aber
praktisch wichtig ist die Frage: Wie hat sich nun der Abgeordnete
zu verhalten, der den Willen der Wähler, den zu vertreten er
im Wahlkampf vielfach versprochen hat, nicht mehr zu erfüllen
vermag?

Am schwersten muß die Antwort auf die Frage den konservativen
Abgeordneten werden. Wie groß oder wie gering die Veranlassung war, die
die konservative Fraktion sich mit dem Zentrum zusammenfinden hieß, mag
hier dahingestellt bleiben; das ist in den vergangnen Monaten bis zum Überdruß
erörtert worden. Dagegen bleibt die Tatsache bestehn, daß sie es waren, die
den Block sprengten. Die Deutschkonservativen tragen die volle Wucht der
Verantwortung dafür, den Blockreichstag in sein Gegenteil verkehrt zu haben.
Die Konsequenzen aus dieser Tatsache werden aber nicht gezogen. Selbst in
den Wahlkreisen, in denen die Wiederwahl eines konservativen Abgeordneten
zweifellos ist, hat sich nicht ein einziger Abgeordneter gefunden, der sein Mandat
in die Hände der Wähler zurückgelegt hätte. Das ist kein gutes Zeichen für
die politische Moral in Deutschland. Das Verhalten der konservativen Abge¬
ordneten wäre nnr dann zu verstehn, wenn sie ans die allseitige Zustimmung
ihrer Wähler verweisen könnten. Das Gegenteil ist aber der Fall: von überall
her sind ungezählte Stimmen der Entrüstung laut geworden von Männern,
die mit dem Bekenntnis konservativer Gesinnung die Erklärung verbunden haben,
konservativ bleiben zu wollen.

Darf man aus diesem Versälle" der konservativen Abgeordneten den
Schluß ziehn, daß sie die Abstimmung über die Reichsfinanzreform nur als
eine Extratour ansehen? -- daß sie, nun der Zankapfel um Liebesgaben und
Erbschaftssteuer bis auf das Kerngehäuse verzehrt worden ist, bereit wären, den
Block zu erneuern? Die Äußerungen konservativer Parteiorgane und konser¬
vativer Parteiführer lassen der Möglichkeit solcher Schlußfolgerung kaum einen
Spielraum. Wie sollten auch dieselben Männer, die im heißesten Streite die
alte Front verlassen und in den Reihen der Gegner ihre frühern Verbündeten
bekämpft haben, eine neue Frontänderung vornehmen können? Dazu bedürfte
es andrer Männer und einer andern Führung. Es kann keinem Zweifel unter¬
liegen, daß die Mehrzahl der konservativen Abgeordneten ihre Wahlversprechuugen
fürderhin nicht mehr einzulösen gedenkt und darauf vertraut, daß es ihnen bis


Aufgaben der Volksvertreter

unsrer Volksgenossen, die sonst träge abseits standen, eilten zur Urne, um, so
viel es an ihnen war, zu bekräftigen, daß diese Politik, festgelegt durch den
Weihnachtsbrief des damaligen Reichskanzlers, ihnen ein Segen für das Vater¬
land schiene. Hütte damals eine der Blockparteien ihre Mitwirkung versagt, der
Ruf: Verrat! würde tausendstimmig durch das Land erschollen sein. Der Block
ist zerfallen. Mit Sentimentalitäten ist er nicht wieder zusammenzuleimen.
Der Wille, der den heutigen Abgeordneten zu ihrem Mandat verholfen hat,
kann nicht mehr in die Tat umgesetzt werden. Nutzlos ist es auch, die Frage
aufzuwerfen, ob es richtig gewesen sein würde, Neuwahlen auszuschreiben. Aber
praktisch wichtig ist die Frage: Wie hat sich nun der Abgeordnete
zu verhalten, der den Willen der Wähler, den zu vertreten er
im Wahlkampf vielfach versprochen hat, nicht mehr zu erfüllen
vermag?

Am schwersten muß die Antwort auf die Frage den konservativen
Abgeordneten werden. Wie groß oder wie gering die Veranlassung war, die
die konservative Fraktion sich mit dem Zentrum zusammenfinden hieß, mag
hier dahingestellt bleiben; das ist in den vergangnen Monaten bis zum Überdruß
erörtert worden. Dagegen bleibt die Tatsache bestehn, daß sie es waren, die
den Block sprengten. Die Deutschkonservativen tragen die volle Wucht der
Verantwortung dafür, den Blockreichstag in sein Gegenteil verkehrt zu haben.
Die Konsequenzen aus dieser Tatsache werden aber nicht gezogen. Selbst in
den Wahlkreisen, in denen die Wiederwahl eines konservativen Abgeordneten
zweifellos ist, hat sich nicht ein einziger Abgeordneter gefunden, der sein Mandat
in die Hände der Wähler zurückgelegt hätte. Das ist kein gutes Zeichen für
die politische Moral in Deutschland. Das Verhalten der konservativen Abge¬
ordneten wäre nnr dann zu verstehn, wenn sie ans die allseitige Zustimmung
ihrer Wähler verweisen könnten. Das Gegenteil ist aber der Fall: von überall
her sind ungezählte Stimmen der Entrüstung laut geworden von Männern,
die mit dem Bekenntnis konservativer Gesinnung die Erklärung verbunden haben,
konservativ bleiben zu wollen.

Darf man aus diesem Versälle» der konservativen Abgeordneten den
Schluß ziehn, daß sie die Abstimmung über die Reichsfinanzreform nur als
eine Extratour ansehen? — daß sie, nun der Zankapfel um Liebesgaben und
Erbschaftssteuer bis auf das Kerngehäuse verzehrt worden ist, bereit wären, den
Block zu erneuern? Die Äußerungen konservativer Parteiorgane und konser¬
vativer Parteiführer lassen der Möglichkeit solcher Schlußfolgerung kaum einen
Spielraum. Wie sollten auch dieselben Männer, die im heißesten Streite die
alte Front verlassen und in den Reihen der Gegner ihre frühern Verbündeten
bekämpft haben, eine neue Frontänderung vornehmen können? Dazu bedürfte
es andrer Männer und einer andern Führung. Es kann keinem Zweifel unter¬
liegen, daß die Mehrzahl der konservativen Abgeordneten ihre Wahlversprechuugen
fürderhin nicht mehr einzulösen gedenkt und darauf vertraut, daß es ihnen bis


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[0446] Aufgaben der Volksvertreter unsrer Volksgenossen, die sonst träge abseits standen, eilten zur Urne, um, so viel es an ihnen war, zu bekräftigen, daß diese Politik, festgelegt durch den Weihnachtsbrief des damaligen Reichskanzlers, ihnen ein Segen für das Vater¬ land schiene. Hütte damals eine der Blockparteien ihre Mitwirkung versagt, der Ruf: Verrat! würde tausendstimmig durch das Land erschollen sein. Der Block ist zerfallen. Mit Sentimentalitäten ist er nicht wieder zusammenzuleimen. Der Wille, der den heutigen Abgeordneten zu ihrem Mandat verholfen hat, kann nicht mehr in die Tat umgesetzt werden. Nutzlos ist es auch, die Frage aufzuwerfen, ob es richtig gewesen sein würde, Neuwahlen auszuschreiben. Aber praktisch wichtig ist die Frage: Wie hat sich nun der Abgeordnete zu verhalten, der den Willen der Wähler, den zu vertreten er im Wahlkampf vielfach versprochen hat, nicht mehr zu erfüllen vermag? Am schwersten muß die Antwort auf die Frage den konservativen Abgeordneten werden. Wie groß oder wie gering die Veranlassung war, die die konservative Fraktion sich mit dem Zentrum zusammenfinden hieß, mag hier dahingestellt bleiben; das ist in den vergangnen Monaten bis zum Überdruß erörtert worden. Dagegen bleibt die Tatsache bestehn, daß sie es waren, die den Block sprengten. Die Deutschkonservativen tragen die volle Wucht der Verantwortung dafür, den Blockreichstag in sein Gegenteil verkehrt zu haben. Die Konsequenzen aus dieser Tatsache werden aber nicht gezogen. Selbst in den Wahlkreisen, in denen die Wiederwahl eines konservativen Abgeordneten zweifellos ist, hat sich nicht ein einziger Abgeordneter gefunden, der sein Mandat in die Hände der Wähler zurückgelegt hätte. Das ist kein gutes Zeichen für die politische Moral in Deutschland. Das Verhalten der konservativen Abge¬ ordneten wäre nnr dann zu verstehn, wenn sie ans die allseitige Zustimmung ihrer Wähler verweisen könnten. Das Gegenteil ist aber der Fall: von überall her sind ungezählte Stimmen der Entrüstung laut geworden von Männern, die mit dem Bekenntnis konservativer Gesinnung die Erklärung verbunden haben, konservativ bleiben zu wollen. Darf man aus diesem Versälle» der konservativen Abgeordneten den Schluß ziehn, daß sie die Abstimmung über die Reichsfinanzreform nur als eine Extratour ansehen? — daß sie, nun der Zankapfel um Liebesgaben und Erbschaftssteuer bis auf das Kerngehäuse verzehrt worden ist, bereit wären, den Block zu erneuern? Die Äußerungen konservativer Parteiorgane und konser¬ vativer Parteiführer lassen der Möglichkeit solcher Schlußfolgerung kaum einen Spielraum. Wie sollten auch dieselben Männer, die im heißesten Streite die alte Front verlassen und in den Reihen der Gegner ihre frühern Verbündeten bekämpft haben, eine neue Frontänderung vornehmen können? Dazu bedürfte es andrer Männer und einer andern Führung. Es kann keinem Zweifel unter¬ liegen, daß die Mehrzahl der konservativen Abgeordneten ihre Wahlversprechuugen fürderhin nicht mehr einzulösen gedenkt und darauf vertraut, daß es ihnen bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/446>, abgerufen am 24.07.2024.