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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Entstehung der Religion

gewohnheitsmüßige Norm des Handelns aus, die in bestimmten Fällen dem
egoistischen, in andern dem altruistischen Triebe den Vorrang läßt, und die
sich dann in der Tradition zur Sitte fixiert. So gehört in diesem Stadium
die Sitte, die später der Sittlichkeit ihren Namen gegeben hat. noch ganz und
gar einem vorsittlichen Zustande an. der in der blinden Befolgung ursprüng¬
liche Gefühlsmotive und überlieferter Gewohnheiten befangen geblieben ist."

Diesem vorsittlichen Zustande stehn die aus rein egoistischen Motiven ge¬
übten Kulthandlungen gegenüber, von denen ,.zu jenen aus ursprünglichen
Neigungsgefühlen entspringenden selbstlosen Handlungen keine Brücke hinüber¬
führt". Tritt dann aber der Gott an die Stelle des Dämons, der Richter,
der das Gute belohnt und das Böse bestraft, so beginnt eine lebhafte Wechsel¬
wirkung zwischen den sittlichen Trieben und der Religion, die nun wirklich
Religion ist. Erst durch diese wird die äußere Norm zur innern, zu einer
wirklichen Norm. "Denn nun erst hat sie die Macht gewonnen, wiederum
das Gewissen des Einzelnen durch das man erwachende Gefühl zu binden,
daß es das Gebot eines über ihm stehenden allgebietenden Willens sei, dem
er zu folgen habe. Damit wirkt dann aber dieses Bewußtsein zugleich läuternd
auf das erwachende sittliche Gefühl selbst zurück. Die instinktiven Nciguugs-
und Furchtaffekte werden zu Geboten der Liebe gegen den Nächsten, der Ehr¬
furcht vor dem Alter, der Hingabe an die durch Kultus und Sitte enger
verbundne Gemeinschaft. ... So läßt der Götterkult erst aus dem primitiven
Widerstreit egoistischer und altruistischer Triebe sittliche Normen hervorgehn.
Diese, deren Quelle tief im eignen Gemüt liegt, werden nach oben projiziert,
in den Willen der Götter. In dieser Form erst können sie sich zu wirklichen
Normen erheben. Aber hier wirken sie nun auch auf die Göttervorstellnngen
selbst zurück. Die Götter, deren Walten anfänglich noch wenig verschieden
von der rohen Willkür des Heldengeschlechts ist, dem sie ihren Ursprung ver¬
danken, nähern sich, indem die sittlichen Regungen, die eine höhere Kultur
erstehn ließ, in sie hinüberwandern, mehr und mehr sittlichen Idealen. Der
Abschluß dieses Prozesses besteht darin, daß das religiöse Ideal aus dem
Jenseits in das Diesseits, dem es seinen Ursprung verdankt, und das zu
ordnen seine Bestimmung ist, in der Gestalt des Gottmenschen zurückkehrt,
der nun religiöses und sittliches Ideal zugleich ist. ... So entsteht die Sitt¬
lichkeit aus der Religion, nicht umgekehrt; und die Religion nimmt ihren
Ursprung aus der an sich der sittlichen Motive entbehrenden Idee des Über¬
sinnlichen." Aber dieser ersten Wurzel gesellt sich dann, wie wir ge ehen
haben, in den sittlichen Gefühlen eine zweite zu. sodaß man sagen kann,
Religion und Sittlichkeit Hütten einander in Wechselwirkung gegenseitig hervor¬
gebracht. Weiter wird gezeigt, wie sich die Sittlichkeit als Norm des
Gemeinschaftslebens allmählich durchsetzt und dann weithin unabhängig von
ihrer religiösen Wurzel fortbesteht. "Dabei darf jedoch nicht übersehen werden,
daß ohne die starke Einwirkung religiöser Triebkräfte die Entstehung dieser


Grenzboten I V 1S09 ^
Die Entstehung der Religion

gewohnheitsmüßige Norm des Handelns aus, die in bestimmten Fällen dem
egoistischen, in andern dem altruistischen Triebe den Vorrang läßt, und die
sich dann in der Tradition zur Sitte fixiert. So gehört in diesem Stadium
die Sitte, die später der Sittlichkeit ihren Namen gegeben hat. noch ganz und
gar einem vorsittlichen Zustande an. der in der blinden Befolgung ursprüng¬
liche Gefühlsmotive und überlieferter Gewohnheiten befangen geblieben ist."

Diesem vorsittlichen Zustande stehn die aus rein egoistischen Motiven ge¬
übten Kulthandlungen gegenüber, von denen ,.zu jenen aus ursprünglichen
Neigungsgefühlen entspringenden selbstlosen Handlungen keine Brücke hinüber¬
führt". Tritt dann aber der Gott an die Stelle des Dämons, der Richter,
der das Gute belohnt und das Böse bestraft, so beginnt eine lebhafte Wechsel¬
wirkung zwischen den sittlichen Trieben und der Religion, die nun wirklich
Religion ist. Erst durch diese wird die äußere Norm zur innern, zu einer
wirklichen Norm. „Denn nun erst hat sie die Macht gewonnen, wiederum
das Gewissen des Einzelnen durch das man erwachende Gefühl zu binden,
daß es das Gebot eines über ihm stehenden allgebietenden Willens sei, dem
er zu folgen habe. Damit wirkt dann aber dieses Bewußtsein zugleich läuternd
auf das erwachende sittliche Gefühl selbst zurück. Die instinktiven Nciguugs-
und Furchtaffekte werden zu Geboten der Liebe gegen den Nächsten, der Ehr¬
furcht vor dem Alter, der Hingabe an die durch Kultus und Sitte enger
verbundne Gemeinschaft. ... So läßt der Götterkult erst aus dem primitiven
Widerstreit egoistischer und altruistischer Triebe sittliche Normen hervorgehn.
Diese, deren Quelle tief im eignen Gemüt liegt, werden nach oben projiziert,
in den Willen der Götter. In dieser Form erst können sie sich zu wirklichen
Normen erheben. Aber hier wirken sie nun auch auf die Göttervorstellnngen
selbst zurück. Die Götter, deren Walten anfänglich noch wenig verschieden
von der rohen Willkür des Heldengeschlechts ist, dem sie ihren Ursprung ver¬
danken, nähern sich, indem die sittlichen Regungen, die eine höhere Kultur
erstehn ließ, in sie hinüberwandern, mehr und mehr sittlichen Idealen. Der
Abschluß dieses Prozesses besteht darin, daß das religiöse Ideal aus dem
Jenseits in das Diesseits, dem es seinen Ursprung verdankt, und das zu
ordnen seine Bestimmung ist, in der Gestalt des Gottmenschen zurückkehrt,
der nun religiöses und sittliches Ideal zugleich ist. ... So entsteht die Sitt¬
lichkeit aus der Religion, nicht umgekehrt; und die Religion nimmt ihren
Ursprung aus der an sich der sittlichen Motive entbehrenden Idee des Über¬
sinnlichen." Aber dieser ersten Wurzel gesellt sich dann, wie wir ge ehen
haben, in den sittlichen Gefühlen eine zweite zu. sodaß man sagen kann,
Religion und Sittlichkeit Hütten einander in Wechselwirkung gegenseitig hervor¬
gebracht. Weiter wird gezeigt, wie sich die Sittlichkeit als Norm des
Gemeinschaftslebens allmählich durchsetzt und dann weithin unabhängig von
ihrer religiösen Wurzel fortbesteht. „Dabei darf jedoch nicht übersehen werden,
daß ohne die starke Einwirkung religiöser Triebkräfte die Entstehung dieser


Grenzboten I V 1S09 ^
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[0413] Die Entstehung der Religion gewohnheitsmüßige Norm des Handelns aus, die in bestimmten Fällen dem egoistischen, in andern dem altruistischen Triebe den Vorrang läßt, und die sich dann in der Tradition zur Sitte fixiert. So gehört in diesem Stadium die Sitte, die später der Sittlichkeit ihren Namen gegeben hat. noch ganz und gar einem vorsittlichen Zustande an. der in der blinden Befolgung ursprüng¬ liche Gefühlsmotive und überlieferter Gewohnheiten befangen geblieben ist." Diesem vorsittlichen Zustande stehn die aus rein egoistischen Motiven ge¬ übten Kulthandlungen gegenüber, von denen ,.zu jenen aus ursprünglichen Neigungsgefühlen entspringenden selbstlosen Handlungen keine Brücke hinüber¬ führt". Tritt dann aber der Gott an die Stelle des Dämons, der Richter, der das Gute belohnt und das Böse bestraft, so beginnt eine lebhafte Wechsel¬ wirkung zwischen den sittlichen Trieben und der Religion, die nun wirklich Religion ist. Erst durch diese wird die äußere Norm zur innern, zu einer wirklichen Norm. „Denn nun erst hat sie die Macht gewonnen, wiederum das Gewissen des Einzelnen durch das man erwachende Gefühl zu binden, daß es das Gebot eines über ihm stehenden allgebietenden Willens sei, dem er zu folgen habe. Damit wirkt dann aber dieses Bewußtsein zugleich läuternd auf das erwachende sittliche Gefühl selbst zurück. Die instinktiven Nciguugs- und Furchtaffekte werden zu Geboten der Liebe gegen den Nächsten, der Ehr¬ furcht vor dem Alter, der Hingabe an die durch Kultus und Sitte enger verbundne Gemeinschaft. ... So läßt der Götterkult erst aus dem primitiven Widerstreit egoistischer und altruistischer Triebe sittliche Normen hervorgehn. Diese, deren Quelle tief im eignen Gemüt liegt, werden nach oben projiziert, in den Willen der Götter. In dieser Form erst können sie sich zu wirklichen Normen erheben. Aber hier wirken sie nun auch auf die Göttervorstellnngen selbst zurück. Die Götter, deren Walten anfänglich noch wenig verschieden von der rohen Willkür des Heldengeschlechts ist, dem sie ihren Ursprung ver¬ danken, nähern sich, indem die sittlichen Regungen, die eine höhere Kultur erstehn ließ, in sie hinüberwandern, mehr und mehr sittlichen Idealen. Der Abschluß dieses Prozesses besteht darin, daß das religiöse Ideal aus dem Jenseits in das Diesseits, dem es seinen Ursprung verdankt, und das zu ordnen seine Bestimmung ist, in der Gestalt des Gottmenschen zurückkehrt, der nun religiöses und sittliches Ideal zugleich ist. ... So entsteht die Sitt¬ lichkeit aus der Religion, nicht umgekehrt; und die Religion nimmt ihren Ursprung aus der an sich der sittlichen Motive entbehrenden Idee des Über¬ sinnlichen." Aber dieser ersten Wurzel gesellt sich dann, wie wir ge ehen haben, in den sittlichen Gefühlen eine zweite zu. sodaß man sagen kann, Religion und Sittlichkeit Hütten einander in Wechselwirkung gegenseitig hervor¬ gebracht. Weiter wird gezeigt, wie sich die Sittlichkeit als Norm des Gemeinschaftslebens allmählich durchsetzt und dann weithin unabhängig von ihrer religiösen Wurzel fortbesteht. „Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß ohne die starke Einwirkung religiöser Triebkräfte die Entstehung dieser Grenzboten I V 1S09 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/413>, abgerufen am 24.07.2024.