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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Arbeit im Reichstag

und sie als einen bedauerlichen Mangel an reifer politischer Einsicht kenn¬
zeichnen, aber es wird doch nichts andres übrig bleiben, als damit zu rechnen,
daß wir auf dem bisherigen Wege nicht weiterkommen. Da sieht es freilich
so aus, als ob die Auswege aus dieser unerträglichen Lage sämtlich versperrt
wären. Wenn Konservative und Liberale sinnlos aufeinander losschlagen,
arbeiten wir nur für den sich freuenden Dritten, die Sozialdemokratie, und
nebenbei für die sorgsame Pflege der größten politischen Unart, über die wir
in Deutschland zu klagen haben, die wir überwinden müssen, und die zu über¬
winden wir schon auf dem Wege waren, nämlich der politischen Gleichgiltig-
keit und der Sucht, sich in den Schmollwinkel zurückzuziehn. Wenn nun aber
jede der großen Parteien nichts weiter tut, als auf diese Übeln Folgen des
Streits hinzuweisen und von der Höhe ihrer Selbstgerechtigkeit aus nur zur
Verdeckung der begangnen Fehler und zur Vermeidung fernerer, selbstver¬
schuldeter Schwierigkeiten dem Gegner mit vornehmer Geste halb widerwillig
die Fingerspitzen hinstreckt, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Ant¬
wort Spott und Hohn ist und nur um so heftiger erwidert wird, man möge
die Suppe, die man eingebrockt habe, nun gefälligst auch selber aufessen.

So ist es konservativen Blättern gegangen, wenn sie sich bemühten, einen
Strich unter die Vergangenheit zu machen. Es blickte doch immer das Be¬
streben durch, die erhobnen Vorwürfe als ungerecht und unhaltbar hinzustellen,
und das wirkte auf die Gegenseite wieder aufs neue aufreizend und erbitternd,
und man stellte die empörte Gegenfrage: Wie? diese Partei hat sich so schwer
versündigt und die ganze unliebsame Lage herbeigeführt, und jetzt sollen wir
das alles für ungeschehen ansehen und ihnen helfen, die Flut zu beschwören,
die sie selbst herausgerufen haben? Und auch der Hinweis, daß die neue sozia¬
listische Hochflut auch den Liberalismus schädigen muß, blieb wirkungslos;
dieser Hinweis hat für zahlreiche bürgerliche Kreise, die ihrer innern Über¬
zeugung nach vom Sozialismus weltenfern stehn, schon jeden Schrecken ver¬
loren, weil der Haß gegen das herrschende Regiment die frühere Furcht vor
dem roten Gespenst längst überwuchert hat, und das um so mehr, als diese
Furcht infolge der Beobachtungen von langjähriger Dauer ohnehin sehr zu¬
sammengeschrumpft ist und sich in ein gewöhnliches, stark mit Geringschätzung
gemischtes Unbehagen verwandelt hat. Wohlgemerkt. wir schildern hier nicht,
was sein sollte, oder was wir für richtig halten, sondern was ist.

Aber auch die Liberalen haben entsprechende Erfahrungen gemacht, wenn
gelegentlich in ihrer Presse der Versuch gemacht wurde, sich ganz auf den
Boden des gegenwärtigen Bedürfnisses zu stellen und zum Frieden mit den
Konservativen zu raten. Dann bekamen auch sie die höhnische Antwort zu
hören: Ihr habt uns die ganze Schuld an den gegenwärtigen Übelständen
aufgebürdet und gegen uns in ganz unverantwortlicher Weise gehetzt; jetzt
wollt ihr uns gegenüber die Rolle der Großmut spielen und verlangt von
uns, daß wir alles vergessen sollen?


Neue Arbeit im Reichstag

und sie als einen bedauerlichen Mangel an reifer politischer Einsicht kenn¬
zeichnen, aber es wird doch nichts andres übrig bleiben, als damit zu rechnen,
daß wir auf dem bisherigen Wege nicht weiterkommen. Da sieht es freilich
so aus, als ob die Auswege aus dieser unerträglichen Lage sämtlich versperrt
wären. Wenn Konservative und Liberale sinnlos aufeinander losschlagen,
arbeiten wir nur für den sich freuenden Dritten, die Sozialdemokratie, und
nebenbei für die sorgsame Pflege der größten politischen Unart, über die wir
in Deutschland zu klagen haben, die wir überwinden müssen, und die zu über¬
winden wir schon auf dem Wege waren, nämlich der politischen Gleichgiltig-
keit und der Sucht, sich in den Schmollwinkel zurückzuziehn. Wenn nun aber
jede der großen Parteien nichts weiter tut, als auf diese Übeln Folgen des
Streits hinzuweisen und von der Höhe ihrer Selbstgerechtigkeit aus nur zur
Verdeckung der begangnen Fehler und zur Vermeidung fernerer, selbstver¬
schuldeter Schwierigkeiten dem Gegner mit vornehmer Geste halb widerwillig
die Fingerspitzen hinstreckt, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Ant¬
wort Spott und Hohn ist und nur um so heftiger erwidert wird, man möge
die Suppe, die man eingebrockt habe, nun gefälligst auch selber aufessen.

So ist es konservativen Blättern gegangen, wenn sie sich bemühten, einen
Strich unter die Vergangenheit zu machen. Es blickte doch immer das Be¬
streben durch, die erhobnen Vorwürfe als ungerecht und unhaltbar hinzustellen,
und das wirkte auf die Gegenseite wieder aufs neue aufreizend und erbitternd,
und man stellte die empörte Gegenfrage: Wie? diese Partei hat sich so schwer
versündigt und die ganze unliebsame Lage herbeigeführt, und jetzt sollen wir
das alles für ungeschehen ansehen und ihnen helfen, die Flut zu beschwören,
die sie selbst herausgerufen haben? Und auch der Hinweis, daß die neue sozia¬
listische Hochflut auch den Liberalismus schädigen muß, blieb wirkungslos;
dieser Hinweis hat für zahlreiche bürgerliche Kreise, die ihrer innern Über¬
zeugung nach vom Sozialismus weltenfern stehn, schon jeden Schrecken ver¬
loren, weil der Haß gegen das herrschende Regiment die frühere Furcht vor
dem roten Gespenst längst überwuchert hat, und das um so mehr, als diese
Furcht infolge der Beobachtungen von langjähriger Dauer ohnehin sehr zu¬
sammengeschrumpft ist und sich in ein gewöhnliches, stark mit Geringschätzung
gemischtes Unbehagen verwandelt hat. Wohlgemerkt. wir schildern hier nicht,
was sein sollte, oder was wir für richtig halten, sondern was ist.

Aber auch die Liberalen haben entsprechende Erfahrungen gemacht, wenn
gelegentlich in ihrer Presse der Versuch gemacht wurde, sich ganz auf den
Boden des gegenwärtigen Bedürfnisses zu stellen und zum Frieden mit den
Konservativen zu raten. Dann bekamen auch sie die höhnische Antwort zu
hören: Ihr habt uns die ganze Schuld an den gegenwärtigen Übelständen
aufgebürdet und gegen uns in ganz unverantwortlicher Weise gehetzt; jetzt
wollt ihr uns gegenüber die Rolle der Großmut spielen und verlangt von
uns, daß wir alles vergessen sollen?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/399>, abgerufen am 04.07.2024.