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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

nichts von Goethe wüßte, so würde ich ihn wenigstens in seinem Dilettantismus
verstehn." Diesen bezeichnenden Satz fand ich dieser Tage als den Ausspruch
eines reifen Kopfes.

Noch nie hat die Ästhetik eine neue Kunstperiode angebahnt. posteriori
hat sie sich mit den neuen Richtungen meist befreundet und dadurch gerade
zu erkennen gegeben, daß man mit den ihr eigentümlichen Wendungen und
Erschleichungen eben alles beweisen kann, was man will.

Dies ist nun allerdings wieder ein Urteil von außen her, aber ein Urteil,
das, wenn es richtig ist, ausspricht, daß die Methode der Philosophie, daß deren
Dialektik sophistisch ist, oder daß sie, weil man dies doch wohl nicht allgemein
annehmen kann, von Grundsätzen ausgeht, die nicht Stich halten.

Und da findet sich denn in der Tat, daß, wo man nur in ein philosophisches
Werk hineinsieht,*) man auf hergebrachte Begriffe stößt, die mehrdeutig sind,
unter denen sich jeder etwas andres denkt, und daß mit diesen Begriffen
operiert wird, als wenn es konkrete Rechenpfennige wären. Daß man dies
tut, ist durch den Gebrauch geheiligt. Weil es andre, weil es große Männer
getan haben, darum tut man es auch, und da stecken wir eben wieder mitten
in der Scholastik.

So ist es auch mit dem Zweig der Philosophie, mit dem wir es hier
auch näher zu tun haben wollten, so ist es anch mit der Ästhetik. Immer
hebt der Beweis mit dem Major eines verwesten Schulbegriffs an, anstatt
daß man um sich schaut, wo einem täglich ans der Straße, im Walde, überall
Dinge in den Schoß fallen, die für Schlußfolgerungen zu brauchen sind.

Wo man es packt, da ist es interessant. Aber die Scholastiker haben
dieses Packen eben verlernt. Sie glauben an die Alleinbeseligung des Winkels,
in den sie sich eingesponnen haben. Für diese Umgebung, auf die sie sich
"trainiert" haben, ist ihr Blick scharf. Darüber hinaus sehen sie nichts; ja
halten es für unanständig, etwas zu sehen.

Daß solche Zustände möglich sind, beweist die Geschichte. War doch
noch zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, also zwei Jahrhunderte nach



*) Zum Beispiel des Hegelianers Ulrici Beweis für das Dasein Gottes: Gott und
die Natur, 1862, S, 344. Alle Bedingtheit setzt eine Bedingung voraus, die als solche notwendig unbedingt ist.
Die Atonie sind gegenseitig durcheinander bedingt. Die Bedingung dieser gegenseitigen Bedingtheit kann aber nicht in ihnen selbst liegen,
weil sonst das Bedingte zugleich (an sich selbst) ein Unbedingtes sein müßte. Folglich setzt
das Dasein der Atome ein Unbedingtes voraus, das als Grund ihrer Bedingtheit zugleich not¬
wendig der Grund ihrer Existenz ist. Und diese Unbedingtheit ist das erste fundamentale Moment im Begriffe Gottes. Von H. Se. Chamberlain werden Thomas von Aquin, Spinoza und Hegel in
eine Linie gestellt und Luther und Kant gegenüber. Jene "Umversalsystematiker" hätten die
Wissenschaft um keinen schöpferischen Gedanken bereichert. Die Grundlagen des neunzehnten
Jahrhunderts. 4. Aufl. II, S. 634. Vgl. auch S. 712.
Scholastentum

nichts von Goethe wüßte, so würde ich ihn wenigstens in seinem Dilettantismus
verstehn." Diesen bezeichnenden Satz fand ich dieser Tage als den Ausspruch
eines reifen Kopfes.

Noch nie hat die Ästhetik eine neue Kunstperiode angebahnt. posteriori
hat sie sich mit den neuen Richtungen meist befreundet und dadurch gerade
zu erkennen gegeben, daß man mit den ihr eigentümlichen Wendungen und
Erschleichungen eben alles beweisen kann, was man will.

Dies ist nun allerdings wieder ein Urteil von außen her, aber ein Urteil,
das, wenn es richtig ist, ausspricht, daß die Methode der Philosophie, daß deren
Dialektik sophistisch ist, oder daß sie, weil man dies doch wohl nicht allgemein
annehmen kann, von Grundsätzen ausgeht, die nicht Stich halten.

Und da findet sich denn in der Tat, daß, wo man nur in ein philosophisches
Werk hineinsieht,*) man auf hergebrachte Begriffe stößt, die mehrdeutig sind,
unter denen sich jeder etwas andres denkt, und daß mit diesen Begriffen
operiert wird, als wenn es konkrete Rechenpfennige wären. Daß man dies
tut, ist durch den Gebrauch geheiligt. Weil es andre, weil es große Männer
getan haben, darum tut man es auch, und da stecken wir eben wieder mitten
in der Scholastik.

So ist es auch mit dem Zweig der Philosophie, mit dem wir es hier
auch näher zu tun haben wollten, so ist es anch mit der Ästhetik. Immer
hebt der Beweis mit dem Major eines verwesten Schulbegriffs an, anstatt
daß man um sich schaut, wo einem täglich ans der Straße, im Walde, überall
Dinge in den Schoß fallen, die für Schlußfolgerungen zu brauchen sind.

Wo man es packt, da ist es interessant. Aber die Scholastiker haben
dieses Packen eben verlernt. Sie glauben an die Alleinbeseligung des Winkels,
in den sie sich eingesponnen haben. Für diese Umgebung, auf die sie sich
„trainiert" haben, ist ihr Blick scharf. Darüber hinaus sehen sie nichts; ja
halten es für unanständig, etwas zu sehen.

Daß solche Zustände möglich sind, beweist die Geschichte. War doch
noch zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, also zwei Jahrhunderte nach



*) Zum Beispiel des Hegelianers Ulrici Beweis für das Dasein Gottes: Gott und
die Natur, 1862, S, 344. Alle Bedingtheit setzt eine Bedingung voraus, die als solche notwendig unbedingt ist.
Die Atonie sind gegenseitig durcheinander bedingt. Die Bedingung dieser gegenseitigen Bedingtheit kann aber nicht in ihnen selbst liegen,
weil sonst das Bedingte zugleich (an sich selbst) ein Unbedingtes sein müßte. Folglich setzt
das Dasein der Atome ein Unbedingtes voraus, das als Grund ihrer Bedingtheit zugleich not¬
wendig der Grund ihrer Existenz ist. Und diese Unbedingtheit ist das erste fundamentale Moment im Begriffe Gottes. Von H. Se. Chamberlain werden Thomas von Aquin, Spinoza und Hegel in
eine Linie gestellt und Luther und Kant gegenüber. Jene „Umversalsystematiker" hätten die
Wissenschaft um keinen schöpferischen Gedanken bereichert. Die Grundlagen des neunzehnten
Jahrhunderts. 4. Aufl. II, S. 634. Vgl. auch S. 712.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/266>, abgerufen am 04.07.2024.