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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

UM nur den Sinn der Systeme, die von Kant bis auf Nietzsche gebaut
worden sind, zu versteh". Aber das ist es eben, das ars lcmM gilt hier in
so vollem Maße, daß dem, der diesen Weg geht, wenig Zeit und keine Be¬
fähigung mehr bleibt, sich auch selber in positiven Schöpfungen zu versuchen.
Er wird durch dieses Studium, durch die Gewohnheit, nur immer aufzu¬
nehmen und zu verdauen, gewissermaßen selbst zum Scholastiker, der keine
Augen mehr hat, sich außerhalb dieses Feldes umzusehen in der wirklichen
Welt der Erfahrung, auch wenn ihm eine kleine Spanne Zeit hierfür bliebe.
Darum kann aber auch dieses abfällige Urteil nicht aus dem Studium dessen
gewonnen werden, was andre vor uns gedacht, sondern aus Argumenten, die
ganz außerhalb dieses ganzen Gesichtskreises liegen. Aber da sind sie denn
auch in Fülle vorhanden, für jeden, der seine Augen geschont hat, dadurch,
daß er kühn genug war, es uicht für unerläßlich zu halten, sich auf diese
obligate Wissenschaft blind zu starren.

Ja, wird man sagen, ein solcher ist eben der außenstehende Laie, dem
die Wissenschaft überhaupt ein geschlossenes Buch ist, und der vielleicht auch
über die höhere Mathematik aburteilt, weil ihm auch deren Formeln wie ein
Hexeneinmaleins erscheinen.

So könnte es sein. Aber zum Glück gibt es ganz objektive Argumente,
die die Sache zur Entscheidung bringen können. Der unendliche Widerspruch
der einzelnen Systeme der Philosophie entscheidet hier allerdings noch nicht,
denn in jeder Wissenschaft platzen die Geister aufeinander. Aber bei näherm
Hinblick offenbart sich doch ein ganz gewaltiger Unterschied, der in meinen
Augen entscheidend ist. In Naturwissenschaft und Mathematik kann keine
neue Entdeckung von irgendeiner Bedeutung gemacht werden, ohne daß sie
auf den Errungenschaften der vorhergehenden Zeit fußt. Wer die Hauptsätze
nicht inne hat, taumelt rettungslos in der Wildnis und kann nur einzelne
Tatsachen finden, aber daß er fördernd auf die Wissenschaft einwirke, davon
kann gar nicht die Rede sein. Ganz anders in der Philosophie.*) Und das
kann jeder Vorurteilsfreie von außen sehen und braucht sich dazu auf kein
näheres Studium einzulassen. Jeder der neuern geht auf Kant zurück. Dort
scheint also der letzte feste Ankerpunkt zu liegen; dann aber zieht er seine
eigne Straße, die der seiner Konkurrenten oft diametral entgegengesetzt ist.

In den Naturwissenschaften verhalten sich die einzelnen Theorien wie
die Häute eines Kerbtieres, die oft ein sehr verschiednes Aussehen haben,
zumal wenn die Raupe Puppe oder die Puppe Schmetterling wird, aber alle



Der amerikanische Philosoph W, James sagt in seinem "Willen zum Glauben", 18S9,
S> 13- In der Philosophie besteht das eigenartige Glücksgefühl, das sie gewahrt in der Über¬
zeugung der Gewißheit, die so ausgedrückt werden könnte: "Andre Philosophien sind Samm¬
lungen meist falscher Ansichten; die meinige bietet festen Boden dar für alle Zeit." Wie ver¬
schieden ist dieser Zustand von der der Naturwissenschaft, wo jeder den andern trägt und ohne
diese Solidarität gar tun Weiterschreiten möglich ist!
Scholastentum

UM nur den Sinn der Systeme, die von Kant bis auf Nietzsche gebaut
worden sind, zu versteh». Aber das ist es eben, das ars lcmM gilt hier in
so vollem Maße, daß dem, der diesen Weg geht, wenig Zeit und keine Be¬
fähigung mehr bleibt, sich auch selber in positiven Schöpfungen zu versuchen.
Er wird durch dieses Studium, durch die Gewohnheit, nur immer aufzu¬
nehmen und zu verdauen, gewissermaßen selbst zum Scholastiker, der keine
Augen mehr hat, sich außerhalb dieses Feldes umzusehen in der wirklichen
Welt der Erfahrung, auch wenn ihm eine kleine Spanne Zeit hierfür bliebe.
Darum kann aber auch dieses abfällige Urteil nicht aus dem Studium dessen
gewonnen werden, was andre vor uns gedacht, sondern aus Argumenten, die
ganz außerhalb dieses ganzen Gesichtskreises liegen. Aber da sind sie denn
auch in Fülle vorhanden, für jeden, der seine Augen geschont hat, dadurch,
daß er kühn genug war, es uicht für unerläßlich zu halten, sich auf diese
obligate Wissenschaft blind zu starren.

Ja, wird man sagen, ein solcher ist eben der außenstehende Laie, dem
die Wissenschaft überhaupt ein geschlossenes Buch ist, und der vielleicht auch
über die höhere Mathematik aburteilt, weil ihm auch deren Formeln wie ein
Hexeneinmaleins erscheinen.

So könnte es sein. Aber zum Glück gibt es ganz objektive Argumente,
die die Sache zur Entscheidung bringen können. Der unendliche Widerspruch
der einzelnen Systeme der Philosophie entscheidet hier allerdings noch nicht,
denn in jeder Wissenschaft platzen die Geister aufeinander. Aber bei näherm
Hinblick offenbart sich doch ein ganz gewaltiger Unterschied, der in meinen
Augen entscheidend ist. In Naturwissenschaft und Mathematik kann keine
neue Entdeckung von irgendeiner Bedeutung gemacht werden, ohne daß sie
auf den Errungenschaften der vorhergehenden Zeit fußt. Wer die Hauptsätze
nicht inne hat, taumelt rettungslos in der Wildnis und kann nur einzelne
Tatsachen finden, aber daß er fördernd auf die Wissenschaft einwirke, davon
kann gar nicht die Rede sein. Ganz anders in der Philosophie.*) Und das
kann jeder Vorurteilsfreie von außen sehen und braucht sich dazu auf kein
näheres Studium einzulassen. Jeder der neuern geht auf Kant zurück. Dort
scheint also der letzte feste Ankerpunkt zu liegen; dann aber zieht er seine
eigne Straße, die der seiner Konkurrenten oft diametral entgegengesetzt ist.

In den Naturwissenschaften verhalten sich die einzelnen Theorien wie
die Häute eines Kerbtieres, die oft ein sehr verschiednes Aussehen haben,
zumal wenn die Raupe Puppe oder die Puppe Schmetterling wird, aber alle



Der amerikanische Philosoph W, James sagt in seinem „Willen zum Glauben", 18S9,
S> 13- In der Philosophie besteht das eigenartige Glücksgefühl, das sie gewahrt in der Über¬
zeugung der Gewißheit, die so ausgedrückt werden könnte: „Andre Philosophien sind Samm¬
lungen meist falscher Ansichten; die meinige bietet festen Boden dar für alle Zeit." Wie ver¬
schieden ist dieser Zustand von der der Naturwissenschaft, wo jeder den andern trägt und ohne
diese Solidarität gar tun Weiterschreiten möglich ist!
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[0264] Scholastentum UM nur den Sinn der Systeme, die von Kant bis auf Nietzsche gebaut worden sind, zu versteh». Aber das ist es eben, das ars lcmM gilt hier in so vollem Maße, daß dem, der diesen Weg geht, wenig Zeit und keine Be¬ fähigung mehr bleibt, sich auch selber in positiven Schöpfungen zu versuchen. Er wird durch dieses Studium, durch die Gewohnheit, nur immer aufzu¬ nehmen und zu verdauen, gewissermaßen selbst zum Scholastiker, der keine Augen mehr hat, sich außerhalb dieses Feldes umzusehen in der wirklichen Welt der Erfahrung, auch wenn ihm eine kleine Spanne Zeit hierfür bliebe. Darum kann aber auch dieses abfällige Urteil nicht aus dem Studium dessen gewonnen werden, was andre vor uns gedacht, sondern aus Argumenten, die ganz außerhalb dieses ganzen Gesichtskreises liegen. Aber da sind sie denn auch in Fülle vorhanden, für jeden, der seine Augen geschont hat, dadurch, daß er kühn genug war, es uicht für unerläßlich zu halten, sich auf diese obligate Wissenschaft blind zu starren. Ja, wird man sagen, ein solcher ist eben der außenstehende Laie, dem die Wissenschaft überhaupt ein geschlossenes Buch ist, und der vielleicht auch über die höhere Mathematik aburteilt, weil ihm auch deren Formeln wie ein Hexeneinmaleins erscheinen. So könnte es sein. Aber zum Glück gibt es ganz objektive Argumente, die die Sache zur Entscheidung bringen können. Der unendliche Widerspruch der einzelnen Systeme der Philosophie entscheidet hier allerdings noch nicht, denn in jeder Wissenschaft platzen die Geister aufeinander. Aber bei näherm Hinblick offenbart sich doch ein ganz gewaltiger Unterschied, der in meinen Augen entscheidend ist. In Naturwissenschaft und Mathematik kann keine neue Entdeckung von irgendeiner Bedeutung gemacht werden, ohne daß sie auf den Errungenschaften der vorhergehenden Zeit fußt. Wer die Hauptsätze nicht inne hat, taumelt rettungslos in der Wildnis und kann nur einzelne Tatsachen finden, aber daß er fördernd auf die Wissenschaft einwirke, davon kann gar nicht die Rede sein. Ganz anders in der Philosophie.*) Und das kann jeder Vorurteilsfreie von außen sehen und braucht sich dazu auf kein näheres Studium einzulassen. Jeder der neuern geht auf Kant zurück. Dort scheint also der letzte feste Ankerpunkt zu liegen; dann aber zieht er seine eigne Straße, die der seiner Konkurrenten oft diametral entgegengesetzt ist. In den Naturwissenschaften verhalten sich die einzelnen Theorien wie die Häute eines Kerbtieres, die oft ein sehr verschiednes Aussehen haben, zumal wenn die Raupe Puppe oder die Puppe Schmetterling wird, aber alle Der amerikanische Philosoph W, James sagt in seinem „Willen zum Glauben", 18S9, S> 13- In der Philosophie besteht das eigenartige Glücksgefühl, das sie gewahrt in der Über¬ zeugung der Gewißheit, die so ausgedrückt werden könnte: „Andre Philosophien sind Samm¬ lungen meist falscher Ansichten; die meinige bietet festen Boden dar für alle Zeit." Wie ver¬ schieden ist dieser Zustand von der der Naturwissenschaft, wo jeder den andern trägt und ohne diese Solidarität gar tun Weiterschreiten möglich ist!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/264>, abgerufen am 24.07.2024.