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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Zur Psychologie der radikalen Presse

zum größten Teil aus Nichtfreisinnigen bestehn, so haben wir schon das merk¬
würdige Problem, das Haltung und Stellung der freisinnigen Presse bietet,
seinen Grundzügen nach umschrieben.

Hat jemand schon einmal einen überzeugten Freisinnigen gesehen? Man
redet von dem echten Freisinn der Berliner Bezirksvereine. Und hier ist
wieder das Phänomen zu konstatieren, daß die Bezirksvereine an sich wohl
freisinnig sind, die einzelnen Mitglieder aber keine Freisinnigen. Es wird
zum Beispiel ein großartiger Vortrag gehalten, worin sich die Phrasen von
volksverräterischer Steuerpolitik, Junkergelüsten und industrieller Begehrlich¬
keit überschlagen. Am Schluß des Vortrags ungeheurer Beifall. Spricht
man aber nachher mit denen, die am eifrigsten die Hände bewegt haben,
so entpuppt sich der wilde Fortschrittsmann als ein demütiges Hühnchen.
Und mit Staunen sieht man, daß er zwar an den freisinnigen Prinzipien
hoch und heilig festhält, zu derselben Zeit aber diese Prinzipien gar nicht
ernst nimmt. Es ist genau dieselbe Sache wie mit der keuschen Jungfrau,
der auf der Bühne die Kameliendame eine Heroine ist, die sich aber sehr
davor hüten würde, im gewöhnlichen Leben ihr auch nur die Hand zu
reichen. Ja, je toller es auf der Bühne kommt, desto lieber ist es dem
Jüngferchen. Weil es keinen Sturm im Herzen hat, läßt es sich einen Sturm
auf der Bühne vormimen. Weil es sich nicht ins Leben traut, geht es ins
Theater.

Mehr noch als die Bezirksvereinsreden ist für die sogenannten wasch¬
echter Freisinnigen ihre Presse das Theater. Es ist ihnen höchst angenehm,
wenn die Späne da nur so fliegen. Und die Redakteure dieser Blätter
wissen genau, was ihr Publikum verlangt: sie ziehen sich die Jacke aus und
hobeln in Hemdsärmeln, triefend von Schweiß und Zerstörungslust. Einige
merken es, andre aber auch nicht, daß sie im Grunde nichts andres sind als
der Hofnarr ihres Publikums. Die, die es nicht merken, sind meist im Grunde
Sozialisten.

Hieraus entspringt zweierlei, das für die radikale Presse charakteristisch
ist. Einmal ihre Inkonsequenz, die sich nicht nur darin äußert, daß die
gegenteiligsten Meinungen im Laufe einer Woche vertreten werden, nein,
sogar darin, daß in einer und derselben Nummer die verschiedensten Meinungen
zu Worte kommen. Der freisinnige Leser nämlich versteht nur so lange Spaß,
als nicht an seine materiellen Interessen gerührt wird. Der Radikalismus
seines Blattes ist ihm höchst ergötzlich. Aber wo sich dieser Radikalismus
gegen ihn selbst wendet, da remonstriert der Bürger. An den Geldbeutel
darf nicht getippt werden! So ist die freisinnige Zeitung denn genötigt, sich
immer wieder selbst zu berichtigen. Auf einen Artikel, der das Portemonnaie
der Leser kitzelt, folgen Dutzende von Einsendungen und Abbestellungen.
Natürlich desavouiert man sich daraufhin nicht selber: das würde allen
modernen Pressegrundsätzen ins Gesicht schlagen. Man schreibt das Gegen-


Zur Psychologie der radikalen Presse

zum größten Teil aus Nichtfreisinnigen bestehn, so haben wir schon das merk¬
würdige Problem, das Haltung und Stellung der freisinnigen Presse bietet,
seinen Grundzügen nach umschrieben.

Hat jemand schon einmal einen überzeugten Freisinnigen gesehen? Man
redet von dem echten Freisinn der Berliner Bezirksvereine. Und hier ist
wieder das Phänomen zu konstatieren, daß die Bezirksvereine an sich wohl
freisinnig sind, die einzelnen Mitglieder aber keine Freisinnigen. Es wird
zum Beispiel ein großartiger Vortrag gehalten, worin sich die Phrasen von
volksverräterischer Steuerpolitik, Junkergelüsten und industrieller Begehrlich¬
keit überschlagen. Am Schluß des Vortrags ungeheurer Beifall. Spricht
man aber nachher mit denen, die am eifrigsten die Hände bewegt haben,
so entpuppt sich der wilde Fortschrittsmann als ein demütiges Hühnchen.
Und mit Staunen sieht man, daß er zwar an den freisinnigen Prinzipien
hoch und heilig festhält, zu derselben Zeit aber diese Prinzipien gar nicht
ernst nimmt. Es ist genau dieselbe Sache wie mit der keuschen Jungfrau,
der auf der Bühne die Kameliendame eine Heroine ist, die sich aber sehr
davor hüten würde, im gewöhnlichen Leben ihr auch nur die Hand zu
reichen. Ja, je toller es auf der Bühne kommt, desto lieber ist es dem
Jüngferchen. Weil es keinen Sturm im Herzen hat, läßt es sich einen Sturm
auf der Bühne vormimen. Weil es sich nicht ins Leben traut, geht es ins
Theater.

Mehr noch als die Bezirksvereinsreden ist für die sogenannten wasch¬
echter Freisinnigen ihre Presse das Theater. Es ist ihnen höchst angenehm,
wenn die Späne da nur so fliegen. Und die Redakteure dieser Blätter
wissen genau, was ihr Publikum verlangt: sie ziehen sich die Jacke aus und
hobeln in Hemdsärmeln, triefend von Schweiß und Zerstörungslust. Einige
merken es, andre aber auch nicht, daß sie im Grunde nichts andres sind als
der Hofnarr ihres Publikums. Die, die es nicht merken, sind meist im Grunde
Sozialisten.

Hieraus entspringt zweierlei, das für die radikale Presse charakteristisch
ist. Einmal ihre Inkonsequenz, die sich nicht nur darin äußert, daß die
gegenteiligsten Meinungen im Laufe einer Woche vertreten werden, nein,
sogar darin, daß in einer und derselben Nummer die verschiedensten Meinungen
zu Worte kommen. Der freisinnige Leser nämlich versteht nur so lange Spaß,
als nicht an seine materiellen Interessen gerührt wird. Der Radikalismus
seines Blattes ist ihm höchst ergötzlich. Aber wo sich dieser Radikalismus
gegen ihn selbst wendet, da remonstriert der Bürger. An den Geldbeutel
darf nicht getippt werden! So ist die freisinnige Zeitung denn genötigt, sich
immer wieder selbst zu berichtigen. Auf einen Artikel, der das Portemonnaie
der Leser kitzelt, folgen Dutzende von Einsendungen und Abbestellungen.
Natürlich desavouiert man sich daraufhin nicht selber: das würde allen
modernen Pressegrundsätzen ins Gesicht schlagen. Man schreibt das Gegen-


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[0258] Zur Psychologie der radikalen Presse zum größten Teil aus Nichtfreisinnigen bestehn, so haben wir schon das merk¬ würdige Problem, das Haltung und Stellung der freisinnigen Presse bietet, seinen Grundzügen nach umschrieben. Hat jemand schon einmal einen überzeugten Freisinnigen gesehen? Man redet von dem echten Freisinn der Berliner Bezirksvereine. Und hier ist wieder das Phänomen zu konstatieren, daß die Bezirksvereine an sich wohl freisinnig sind, die einzelnen Mitglieder aber keine Freisinnigen. Es wird zum Beispiel ein großartiger Vortrag gehalten, worin sich die Phrasen von volksverräterischer Steuerpolitik, Junkergelüsten und industrieller Begehrlich¬ keit überschlagen. Am Schluß des Vortrags ungeheurer Beifall. Spricht man aber nachher mit denen, die am eifrigsten die Hände bewegt haben, so entpuppt sich der wilde Fortschrittsmann als ein demütiges Hühnchen. Und mit Staunen sieht man, daß er zwar an den freisinnigen Prinzipien hoch und heilig festhält, zu derselben Zeit aber diese Prinzipien gar nicht ernst nimmt. Es ist genau dieselbe Sache wie mit der keuschen Jungfrau, der auf der Bühne die Kameliendame eine Heroine ist, die sich aber sehr davor hüten würde, im gewöhnlichen Leben ihr auch nur die Hand zu reichen. Ja, je toller es auf der Bühne kommt, desto lieber ist es dem Jüngferchen. Weil es keinen Sturm im Herzen hat, läßt es sich einen Sturm auf der Bühne vormimen. Weil es sich nicht ins Leben traut, geht es ins Theater. Mehr noch als die Bezirksvereinsreden ist für die sogenannten wasch¬ echter Freisinnigen ihre Presse das Theater. Es ist ihnen höchst angenehm, wenn die Späne da nur so fliegen. Und die Redakteure dieser Blätter wissen genau, was ihr Publikum verlangt: sie ziehen sich die Jacke aus und hobeln in Hemdsärmeln, triefend von Schweiß und Zerstörungslust. Einige merken es, andre aber auch nicht, daß sie im Grunde nichts andres sind als der Hofnarr ihres Publikums. Die, die es nicht merken, sind meist im Grunde Sozialisten. Hieraus entspringt zweierlei, das für die radikale Presse charakteristisch ist. Einmal ihre Inkonsequenz, die sich nicht nur darin äußert, daß die gegenteiligsten Meinungen im Laufe einer Woche vertreten werden, nein, sogar darin, daß in einer und derselben Nummer die verschiedensten Meinungen zu Worte kommen. Der freisinnige Leser nämlich versteht nur so lange Spaß, als nicht an seine materiellen Interessen gerührt wird. Der Radikalismus seines Blattes ist ihm höchst ergötzlich. Aber wo sich dieser Radikalismus gegen ihn selbst wendet, da remonstriert der Bürger. An den Geldbeutel darf nicht getippt werden! So ist die freisinnige Zeitung denn genötigt, sich immer wieder selbst zu berichtigen. Auf einen Artikel, der das Portemonnaie der Leser kitzelt, folgen Dutzende von Einsendungen und Abbestellungen. Natürlich desavouiert man sich daraufhin nicht selber: das würde allen modernen Pressegrundsätzen ins Gesicht schlagen. Man schreibt das Gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/258>, abgerufen am 24.07.2024.