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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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mit dem Kinderkreuzzuge in Parallele und meint, die schwedischen Feldgottes¬
dienste unter freiem Himmel möchten sie angeregt haben. Vom Spätsommer
1707 an sah man überall in Nieder- und Mittelschlesien Versammlungen von
Kindern, denen ein jugendlicher Vorbeter Psalmen oder Lieder vorsang, die
der Chor wiederholte. In jenen Gegenden, wo die Evangelischen weder
Kirchen noch Schulen hatten, war die Bewegung offenbar eine rührende
Widerspieglung der schwärmerischen Stimmung der Erwachsnen und vielleicht
auch Nachahmung geheimer Gottesdienste von Buschpredigern. Als aber das
Kinderbeten im Februar 1708, begünstigt durch den sehr milden Winter, in
den Vorstädten Breslaus und bald auch in der Stadt begann, verlor es
seinen ursprünglichen Charakter und artete in leeres Spiel und rohen Tumult
aus. Eine mit Stöcken bewaffnete Rotte von Jungen erstürmte eine Kirche
und nötigte den Prediger zum Rückzüge. Der Pastor Neumann riet in einer
sehr verstündigen Predigt von der Peitsche ab, da nur Belehrung nottue.
Der Rat leitete auf dieses Gutachten hin die Bewegung in eine gesunde Bahn,
indem er den Kindern einige kleine Kirchen anwies und einen geordneten
Jugendgottesdienst für sie einrichtete.

Der Stadt Breslau war ebenso wie den noch unter einheimischen evan¬
gelischen Herzögen stehenden Landesteilen Schlesiens in einem Rezeß zum
Prager Frieden von 1635 und dann im Westfälischen Frieden das libsrurn
Mkroitium ^uAustAvas lnntkWoius zugesichert worden. Dem damals geltenden
Rechte gemäß suchte sich die Bürgerschaft auch die Glaubenseinheit zu wahren,
indem sie keine Katholiken zu Ämtern zuließ, und die Innungen nur Lehr¬
linge, Gesellen und Meister ihres Glaubens aufnahmen. Doch war die Ein¬
heit von vornherein durch die nicht zu beseitigenden Klöster durchbrochen und
durch die Beamten des am Südufer des Stromes, also auf der Stadtseite
gelegnen Bezirks der kaiserliche" Burg. Die Stadt war jetzt keine Republik
mehr sondern Provinzialhauptstadt, genoß jedoch immerhin noch ein ansehn¬
liches Maß von Selbstverwaltung. Aber daß sich im Stadtbezirk Katholiken
erhielten und mehrten, konnte unter diesen Umständen nicht verhindert
werden. Auf deren Mehrung bedacht, strebte der Wiener Hof, Jesuiten ein¬
zuschmuggeln -- nicht zur Freude der übrigen, auf den allmächtigen Orden
eifersüchtigen Klerisei. (Ein altes Sprüchlein schlesischer Pfarrer lautet: mal"
Mwolug, in via, xejor, ubi Mri8ta, xsssin^, udi ^ssuits; heute gilt in
allen drei Stücken das Gegenteil.) Bürgerschaft und Rat wehrten aus allen
Kräften ab. Ihre Besorgnis wuchs, als einzelne Jesuiten zu amtieren an¬
gefangen hatten und ihre Predigtweise auch evangelische Zuhörer, ihr Unter¬
richt auch evangelische Knaben anzog. In einem Privathause zunächst, dann
in der Burg wurde ein Gymnasium eingerichtet, und das sollte zur Uni¬
versität erhoben werden. Reinkens hat bei der Hundertfünfzigjahrfeier, der
jetzige katholische Professor der Kirchengeschichte in Breslau, öl. Nürn¬
berger, bei der Zweihundertjahrfeier im Jahre 1903 die Geschichte dieser
Gründung erzählt. Die Patres boten ihre ganze Diplomatie auf, sich mit


Breslau

mit dem Kinderkreuzzuge in Parallele und meint, die schwedischen Feldgottes¬
dienste unter freiem Himmel möchten sie angeregt haben. Vom Spätsommer
1707 an sah man überall in Nieder- und Mittelschlesien Versammlungen von
Kindern, denen ein jugendlicher Vorbeter Psalmen oder Lieder vorsang, die
der Chor wiederholte. In jenen Gegenden, wo die Evangelischen weder
Kirchen noch Schulen hatten, war die Bewegung offenbar eine rührende
Widerspieglung der schwärmerischen Stimmung der Erwachsnen und vielleicht
auch Nachahmung geheimer Gottesdienste von Buschpredigern. Als aber das
Kinderbeten im Februar 1708, begünstigt durch den sehr milden Winter, in
den Vorstädten Breslaus und bald auch in der Stadt begann, verlor es
seinen ursprünglichen Charakter und artete in leeres Spiel und rohen Tumult
aus. Eine mit Stöcken bewaffnete Rotte von Jungen erstürmte eine Kirche
und nötigte den Prediger zum Rückzüge. Der Pastor Neumann riet in einer
sehr verstündigen Predigt von der Peitsche ab, da nur Belehrung nottue.
Der Rat leitete auf dieses Gutachten hin die Bewegung in eine gesunde Bahn,
indem er den Kindern einige kleine Kirchen anwies und einen geordneten
Jugendgottesdienst für sie einrichtete.

Der Stadt Breslau war ebenso wie den noch unter einheimischen evan¬
gelischen Herzögen stehenden Landesteilen Schlesiens in einem Rezeß zum
Prager Frieden von 1635 und dann im Westfälischen Frieden das libsrurn
Mkroitium ^uAustAvas lnntkWoius zugesichert worden. Dem damals geltenden
Rechte gemäß suchte sich die Bürgerschaft auch die Glaubenseinheit zu wahren,
indem sie keine Katholiken zu Ämtern zuließ, und die Innungen nur Lehr¬
linge, Gesellen und Meister ihres Glaubens aufnahmen. Doch war die Ein¬
heit von vornherein durch die nicht zu beseitigenden Klöster durchbrochen und
durch die Beamten des am Südufer des Stromes, also auf der Stadtseite
gelegnen Bezirks der kaiserliche» Burg. Die Stadt war jetzt keine Republik
mehr sondern Provinzialhauptstadt, genoß jedoch immerhin noch ein ansehn¬
liches Maß von Selbstverwaltung. Aber daß sich im Stadtbezirk Katholiken
erhielten und mehrten, konnte unter diesen Umständen nicht verhindert
werden. Auf deren Mehrung bedacht, strebte der Wiener Hof, Jesuiten ein¬
zuschmuggeln — nicht zur Freude der übrigen, auf den allmächtigen Orden
eifersüchtigen Klerisei. (Ein altes Sprüchlein schlesischer Pfarrer lautet: mal»
Mwolug, in via, xejor, ubi Mri8ta, xsssin^, udi ^ssuits; heute gilt in
allen drei Stücken das Gegenteil.) Bürgerschaft und Rat wehrten aus allen
Kräften ab. Ihre Besorgnis wuchs, als einzelne Jesuiten zu amtieren an¬
gefangen hatten und ihre Predigtweise auch evangelische Zuhörer, ihr Unter¬
richt auch evangelische Knaben anzog. In einem Privathause zunächst, dann
in der Burg wurde ein Gymnasium eingerichtet, und das sollte zur Uni¬
versität erhoben werden. Reinkens hat bei der Hundertfünfzigjahrfeier, der
jetzige katholische Professor der Kirchengeschichte in Breslau, öl. Nürn¬
berger, bei der Zweihundertjahrfeier im Jahre 1903 die Geschichte dieser
Gründung erzählt. Die Patres boten ihre ganze Diplomatie auf, sich mit


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[0230] Breslau mit dem Kinderkreuzzuge in Parallele und meint, die schwedischen Feldgottes¬ dienste unter freiem Himmel möchten sie angeregt haben. Vom Spätsommer 1707 an sah man überall in Nieder- und Mittelschlesien Versammlungen von Kindern, denen ein jugendlicher Vorbeter Psalmen oder Lieder vorsang, die der Chor wiederholte. In jenen Gegenden, wo die Evangelischen weder Kirchen noch Schulen hatten, war die Bewegung offenbar eine rührende Widerspieglung der schwärmerischen Stimmung der Erwachsnen und vielleicht auch Nachahmung geheimer Gottesdienste von Buschpredigern. Als aber das Kinderbeten im Februar 1708, begünstigt durch den sehr milden Winter, in den Vorstädten Breslaus und bald auch in der Stadt begann, verlor es seinen ursprünglichen Charakter und artete in leeres Spiel und rohen Tumult aus. Eine mit Stöcken bewaffnete Rotte von Jungen erstürmte eine Kirche und nötigte den Prediger zum Rückzüge. Der Pastor Neumann riet in einer sehr verstündigen Predigt von der Peitsche ab, da nur Belehrung nottue. Der Rat leitete auf dieses Gutachten hin die Bewegung in eine gesunde Bahn, indem er den Kindern einige kleine Kirchen anwies und einen geordneten Jugendgottesdienst für sie einrichtete. Der Stadt Breslau war ebenso wie den noch unter einheimischen evan¬ gelischen Herzögen stehenden Landesteilen Schlesiens in einem Rezeß zum Prager Frieden von 1635 und dann im Westfälischen Frieden das libsrurn Mkroitium ^uAustAvas lnntkWoius zugesichert worden. Dem damals geltenden Rechte gemäß suchte sich die Bürgerschaft auch die Glaubenseinheit zu wahren, indem sie keine Katholiken zu Ämtern zuließ, und die Innungen nur Lehr¬ linge, Gesellen und Meister ihres Glaubens aufnahmen. Doch war die Ein¬ heit von vornherein durch die nicht zu beseitigenden Klöster durchbrochen und durch die Beamten des am Südufer des Stromes, also auf der Stadtseite gelegnen Bezirks der kaiserliche» Burg. Die Stadt war jetzt keine Republik mehr sondern Provinzialhauptstadt, genoß jedoch immerhin noch ein ansehn¬ liches Maß von Selbstverwaltung. Aber daß sich im Stadtbezirk Katholiken erhielten und mehrten, konnte unter diesen Umständen nicht verhindert werden. Auf deren Mehrung bedacht, strebte der Wiener Hof, Jesuiten ein¬ zuschmuggeln — nicht zur Freude der übrigen, auf den allmächtigen Orden eifersüchtigen Klerisei. (Ein altes Sprüchlein schlesischer Pfarrer lautet: mal» Mwolug, in via, xejor, ubi Mri8ta, xsssin^, udi ^ssuits; heute gilt in allen drei Stücken das Gegenteil.) Bürgerschaft und Rat wehrten aus allen Kräften ab. Ihre Besorgnis wuchs, als einzelne Jesuiten zu amtieren an¬ gefangen hatten und ihre Predigtweise auch evangelische Zuhörer, ihr Unter¬ richt auch evangelische Knaben anzog. In einem Privathause zunächst, dann in der Burg wurde ein Gymnasium eingerichtet, und das sollte zur Uni¬ versität erhoben werden. Reinkens hat bei der Hundertfünfzigjahrfeier, der jetzige katholische Professor der Kirchengeschichte in Breslau, öl. Nürn¬ berger, bei der Zweihundertjahrfeier im Jahre 1903 die Geschichte dieser Gründung erzählt. Die Patres boten ihre ganze Diplomatie auf, sich mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/230>, abgerufen am 24.07.2024.