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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Vismarck-Literatur

Vismarck aufgab, obwohl sie in der angenehmsten Weise ausgestaltet und be¬
festigt war, weil er nämlich auch Nerven hatte und sein vielgerühmtes Schlaf¬
talent abhanden gekommen war, weil er mehr und mehr seiner Familie ent¬
fremdet wurde, und das nicht Unwichtigste kam noch hinzu: "Es ist etwas
Großes, in einen großen Mann sich hineinzuleben, seine Gedanken, Pläne,
Entschlüsse sich anzueignen, gewissermaßen in ihm aufzugehen. Die eigene
Individualität aber gerät dabei in Gefahr, zerrieben zu werden. Ich sehnte
mich nach Freiheit der Bewegung, nach unabhängiger Tätigkeit, nach selb¬
ständigem Handeln und Schaffen." Vismarck erkannte die Berechtigung dieses
Standpunkts an, Anfang Oktober 1881 ging Tiedemann als Regierungs¬
präsident nach Bromberg. Es bleibt ein unersetzlicher Verlust für die Nach¬
welt, daß das Bruchstück eines Charakterbildes Bismarcks, womit das Buch
schließt, nicht vollendet worden ist. Der vorliegende Teil, worin die tiefe
Verehrung des Verfassers ein in leuchtende Farben getauchtes Gemälde zeichnet
lind doch darin unbedeutend erscheinende Schatten nicht vergißt, beweist, daß
er wie wenige berufen war, dem deutschen Volke ein getreues Konterfei unsers
größten Staatsmanns zu hinterlassen. Erfrischend wirken die Schilderungen
aus dem Bismarckschen Familienleben. Obgleich auch sie nichts wesentlich
neues enthalten, so sind sie doch geeignet, dem Eindrucke entgegenzuarbeiten,
den viele Jahre lang gewisse Bismarckverehrer, die mit dem Altreichskanzler
immer intimer werden, je länger er tot ist, durch Schilderungen von Vor¬
gängen in der mißvergnügten Tafelrunde des Sachsenwaldes in weiten Kreisen
des deutschen Volks hervorzurufen beflissen waren.

Die Geschichte des Fürsten Bismarck in Einzeldarstellungen, die
Johannes Penzler im Verein mit zahlreichen namhaften Mitarbeitern heraus¬
gibt, ist infolge von Krankheit des Herausgebers nur langsam fortgeschritten.
Jetzt liegt der achte Band vor: Dr. Karl Herrfurth, Fürst Vismarck und
die Kolonialpolitik (Berlin, Eduard Trewendts Nachfolger. 3,75 Mark,
gebunden 5 Mark). Es handelt sich um eine umfassende und unzweifelhaft
auch erschöpfende Darstellung des Verhältnisses des Altreichskanzlers zur
Kolonialpolitik von seinen ersten Versuchen an bis selbst zur Zeit nach seinem
Ausscheiden aus dem Amt. Der Verfasser hat die einschlägige Literatur sach¬
gemäß benützt, auch stand ihm reichhaltiges, noch ungedrucktes Material der
Kotonialabteilung zur Verfügung. Das Bedenken, die Neibungsflächen und
Angriffsflächen des jungen Deutschen Reichs, das für viele so unbequem in
der Mitte des Weltteils emporgestiegen wär, nicht Unnötig zu vermehren, ließ
Vismarck nur langsam und zögernd an die Kolonialpolitik herantreten. Als
aber das wirtschaftlich erstarkte Deutschland selbst auf das Meer hinausdrängte,
betrat er bei aller Vorsicht mit wunderbarem staatsmännischem Geschick das
neue kolonialpolitische Gebiet und errang auf ihm mit fester Willenskraft die
größten Erfolge. Auch von der sich als undurchführbar erweisenden Ansicht,
der deutschen kolonialen Unternehmungslust nur mit dem Schutze des Reichs


Neue Vismarck-Literatur

Vismarck aufgab, obwohl sie in der angenehmsten Weise ausgestaltet und be¬
festigt war, weil er nämlich auch Nerven hatte und sein vielgerühmtes Schlaf¬
talent abhanden gekommen war, weil er mehr und mehr seiner Familie ent¬
fremdet wurde, und das nicht Unwichtigste kam noch hinzu: „Es ist etwas
Großes, in einen großen Mann sich hineinzuleben, seine Gedanken, Pläne,
Entschlüsse sich anzueignen, gewissermaßen in ihm aufzugehen. Die eigene
Individualität aber gerät dabei in Gefahr, zerrieben zu werden. Ich sehnte
mich nach Freiheit der Bewegung, nach unabhängiger Tätigkeit, nach selb¬
ständigem Handeln und Schaffen." Vismarck erkannte die Berechtigung dieses
Standpunkts an, Anfang Oktober 1881 ging Tiedemann als Regierungs¬
präsident nach Bromberg. Es bleibt ein unersetzlicher Verlust für die Nach¬
welt, daß das Bruchstück eines Charakterbildes Bismarcks, womit das Buch
schließt, nicht vollendet worden ist. Der vorliegende Teil, worin die tiefe
Verehrung des Verfassers ein in leuchtende Farben getauchtes Gemälde zeichnet
lind doch darin unbedeutend erscheinende Schatten nicht vergißt, beweist, daß
er wie wenige berufen war, dem deutschen Volke ein getreues Konterfei unsers
größten Staatsmanns zu hinterlassen. Erfrischend wirken die Schilderungen
aus dem Bismarckschen Familienleben. Obgleich auch sie nichts wesentlich
neues enthalten, so sind sie doch geeignet, dem Eindrucke entgegenzuarbeiten,
den viele Jahre lang gewisse Bismarckverehrer, die mit dem Altreichskanzler
immer intimer werden, je länger er tot ist, durch Schilderungen von Vor¬
gängen in der mißvergnügten Tafelrunde des Sachsenwaldes in weiten Kreisen
des deutschen Volks hervorzurufen beflissen waren.

Die Geschichte des Fürsten Bismarck in Einzeldarstellungen, die
Johannes Penzler im Verein mit zahlreichen namhaften Mitarbeitern heraus¬
gibt, ist infolge von Krankheit des Herausgebers nur langsam fortgeschritten.
Jetzt liegt der achte Band vor: Dr. Karl Herrfurth, Fürst Vismarck und
die Kolonialpolitik (Berlin, Eduard Trewendts Nachfolger. 3,75 Mark,
gebunden 5 Mark). Es handelt sich um eine umfassende und unzweifelhaft
auch erschöpfende Darstellung des Verhältnisses des Altreichskanzlers zur
Kolonialpolitik von seinen ersten Versuchen an bis selbst zur Zeit nach seinem
Ausscheiden aus dem Amt. Der Verfasser hat die einschlägige Literatur sach¬
gemäß benützt, auch stand ihm reichhaltiges, noch ungedrucktes Material der
Kotonialabteilung zur Verfügung. Das Bedenken, die Neibungsflächen und
Angriffsflächen des jungen Deutschen Reichs, das für viele so unbequem in
der Mitte des Weltteils emporgestiegen wär, nicht Unnötig zu vermehren, ließ
Vismarck nur langsam und zögernd an die Kolonialpolitik herantreten. Als
aber das wirtschaftlich erstarkte Deutschland selbst auf das Meer hinausdrängte,
betrat er bei aller Vorsicht mit wunderbarem staatsmännischem Geschick das
neue kolonialpolitische Gebiet und errang auf ihm mit fester Willenskraft die
größten Erfolge. Auch von der sich als undurchführbar erweisenden Ansicht,
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[0220] Neue Vismarck-Literatur Vismarck aufgab, obwohl sie in der angenehmsten Weise ausgestaltet und be¬ festigt war, weil er nämlich auch Nerven hatte und sein vielgerühmtes Schlaf¬ talent abhanden gekommen war, weil er mehr und mehr seiner Familie ent¬ fremdet wurde, und das nicht Unwichtigste kam noch hinzu: „Es ist etwas Großes, in einen großen Mann sich hineinzuleben, seine Gedanken, Pläne, Entschlüsse sich anzueignen, gewissermaßen in ihm aufzugehen. Die eigene Individualität aber gerät dabei in Gefahr, zerrieben zu werden. Ich sehnte mich nach Freiheit der Bewegung, nach unabhängiger Tätigkeit, nach selb¬ ständigem Handeln und Schaffen." Vismarck erkannte die Berechtigung dieses Standpunkts an, Anfang Oktober 1881 ging Tiedemann als Regierungs¬ präsident nach Bromberg. Es bleibt ein unersetzlicher Verlust für die Nach¬ welt, daß das Bruchstück eines Charakterbildes Bismarcks, womit das Buch schließt, nicht vollendet worden ist. Der vorliegende Teil, worin die tiefe Verehrung des Verfassers ein in leuchtende Farben getauchtes Gemälde zeichnet lind doch darin unbedeutend erscheinende Schatten nicht vergißt, beweist, daß er wie wenige berufen war, dem deutschen Volke ein getreues Konterfei unsers größten Staatsmanns zu hinterlassen. Erfrischend wirken die Schilderungen aus dem Bismarckschen Familienleben. Obgleich auch sie nichts wesentlich neues enthalten, so sind sie doch geeignet, dem Eindrucke entgegenzuarbeiten, den viele Jahre lang gewisse Bismarckverehrer, die mit dem Altreichskanzler immer intimer werden, je länger er tot ist, durch Schilderungen von Vor¬ gängen in der mißvergnügten Tafelrunde des Sachsenwaldes in weiten Kreisen des deutschen Volks hervorzurufen beflissen waren. Die Geschichte des Fürsten Bismarck in Einzeldarstellungen, die Johannes Penzler im Verein mit zahlreichen namhaften Mitarbeitern heraus¬ gibt, ist infolge von Krankheit des Herausgebers nur langsam fortgeschritten. Jetzt liegt der achte Band vor: Dr. Karl Herrfurth, Fürst Vismarck und die Kolonialpolitik (Berlin, Eduard Trewendts Nachfolger. 3,75 Mark, gebunden 5 Mark). Es handelt sich um eine umfassende und unzweifelhaft auch erschöpfende Darstellung des Verhältnisses des Altreichskanzlers zur Kolonialpolitik von seinen ersten Versuchen an bis selbst zur Zeit nach seinem Ausscheiden aus dem Amt. Der Verfasser hat die einschlägige Literatur sach¬ gemäß benützt, auch stand ihm reichhaltiges, noch ungedrucktes Material der Kotonialabteilung zur Verfügung. Das Bedenken, die Neibungsflächen und Angriffsflächen des jungen Deutschen Reichs, das für viele so unbequem in der Mitte des Weltteils emporgestiegen wär, nicht Unnötig zu vermehren, ließ Vismarck nur langsam und zögernd an die Kolonialpolitik herantreten. Als aber das wirtschaftlich erstarkte Deutschland selbst auf das Meer hinausdrängte, betrat er bei aller Vorsicht mit wunderbarem staatsmännischem Geschick das neue kolonialpolitische Gebiet und errang auf ihm mit fester Willenskraft die größten Erfolge. Auch von der sich als undurchführbar erweisenden Ansicht, der deutschen kolonialen Unternehmungslust nur mit dem Schutze des Reichs

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/220>, abgerufen am 24.07.2024.