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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Deutschland und Amerika

Folgen für ihre Rücksichtslosigkeit zu tragen haben wird: aber zunächst ist der
Tarif in Kraft, und Inland wie Ausland werden sich damit abzufinden haben.

Die Überraschung in Deutschland über die Wendung war ziemlich allgemein,
kaum geringer war sie in Frankreich. Nach den Wahlversprechungen und nach
den Versicherungen Tafts hatte man etwas andres erwartet. Man hat es
eben bei uns noch immer nicht gelernt, die nordamerikanischen Verhältnisse
mit einem andern Maßstabe zu messen als die europäischen. Es ist aber die
politische Pflicht jedes Deutschen, wie die Engländer die auswärtige Politik seines
Landes mit derselben Teilnahme zu verfolgen wie die innere, obgleich es gerade
nicht erstaunlich ist, daß noch vielfach die Einsicht dafür mangelt in unserm
Lande, das jahrhundertelang nahezu in Abhängigkeit vom Auslande gelebt hat.
Seit wir aber in die Reihe der Weltmächte eingetreten sind, seit sogar die
außereuropäischen Mächte zum erstenmal in der Weltgeschichte einen stetig zu¬
nehmenden Einfluß auf die große Politik gewinnen, geht das nicht mehr an.
Auch die Zeiten Bismarcks sind vorüber, in denen man seinem Genius die
ganze auswärtige Politik anvertraute, sich des Nachdenkens darüber enthielt
und seine Handlungen rein nach dem Gefühl entweder benörgelte oder bejubelte.
In unsern größern, darum schwieriger und verwickelter gewordnen Verhältnissen
würde auch ein Bismarck nicht ausreichen, wenn nicht das ganze Volk mit
vollem Verständnis hinter seiner Politik stünde und, von vergänglichen Gefühls¬
regungen frei, das richtige Nationalgefühl und die von klarer Einsicht in die
Sachlage beseelte, für große Entscheidungen unbedingt notwendige Begeisterung
entwickelte. Dazu gehört aber eine ganz andre, viel ernster betriebne Beschäftigung
mit der auswärtigen Politik, als es in Deutschland hergebracht ist. Vor allen
Dingen müssen wir das Ausland viel besser kennen und müssen verstehen
lernen, wie dort die uns berührenden Fragen aufgefaßt und nach der Eigenart
jedes einzelnen Volks behandelt werden. Sonst werden wir auch weiter Über¬
raschungen erleben wie soeben jetzt und sie, gleich dem Chor der antiken
Tragödie, nur mit unsern Gefühlen und mit lyrischen Lauten begleiten dürfen.
Dreinschlagen kann man nicht immer.

Jeder Schritt, der dazu beiträgt, unsre Kenntnis der auswärtigen Politik
zu vermehren, ist ein Stein zum Fundament unsrer berechtigten Weltpolitik,
der nicht damit gedient wird, daß jedes Scheitern eines Wunsches oder selbst
ein unzweifelhafter Mißerfolg einfach der Reichsregierung zur Last gelegt
und gewöhnlich mit auffälliger Unkenntnis der Machtverhültnisse und der
gesamten politischen Lage benörgelt wird. Damit kommen wir nicht weiter
und bleiben nach wie vor ein politisch wenig befähigtes Volk. Wir bilden uns
nicht wenig auf unsre Schulbildung ein, die uns ja auf vielen Gebieten sehr
zustatten kommt, aber es wird meist übersehen, daß wir in her Regel auf dem
schulmäßigen Standpunkt verbleiben, die darauf fußende Weiterbildung unter¬
lassen und darum nur zu oft in Nachteil geraten gegenüber andern Völkern,
die bei vielleicht geringerer Schulbildung wenigstens niemals den praktischen


Deutschland und Amerika

Folgen für ihre Rücksichtslosigkeit zu tragen haben wird: aber zunächst ist der
Tarif in Kraft, und Inland wie Ausland werden sich damit abzufinden haben.

Die Überraschung in Deutschland über die Wendung war ziemlich allgemein,
kaum geringer war sie in Frankreich. Nach den Wahlversprechungen und nach
den Versicherungen Tafts hatte man etwas andres erwartet. Man hat es
eben bei uns noch immer nicht gelernt, die nordamerikanischen Verhältnisse
mit einem andern Maßstabe zu messen als die europäischen. Es ist aber die
politische Pflicht jedes Deutschen, wie die Engländer die auswärtige Politik seines
Landes mit derselben Teilnahme zu verfolgen wie die innere, obgleich es gerade
nicht erstaunlich ist, daß noch vielfach die Einsicht dafür mangelt in unserm
Lande, das jahrhundertelang nahezu in Abhängigkeit vom Auslande gelebt hat.
Seit wir aber in die Reihe der Weltmächte eingetreten sind, seit sogar die
außereuropäischen Mächte zum erstenmal in der Weltgeschichte einen stetig zu¬
nehmenden Einfluß auf die große Politik gewinnen, geht das nicht mehr an.
Auch die Zeiten Bismarcks sind vorüber, in denen man seinem Genius die
ganze auswärtige Politik anvertraute, sich des Nachdenkens darüber enthielt
und seine Handlungen rein nach dem Gefühl entweder benörgelte oder bejubelte.
In unsern größern, darum schwieriger und verwickelter gewordnen Verhältnissen
würde auch ein Bismarck nicht ausreichen, wenn nicht das ganze Volk mit
vollem Verständnis hinter seiner Politik stünde und, von vergänglichen Gefühls¬
regungen frei, das richtige Nationalgefühl und die von klarer Einsicht in die
Sachlage beseelte, für große Entscheidungen unbedingt notwendige Begeisterung
entwickelte. Dazu gehört aber eine ganz andre, viel ernster betriebne Beschäftigung
mit der auswärtigen Politik, als es in Deutschland hergebracht ist. Vor allen
Dingen müssen wir das Ausland viel besser kennen und müssen verstehen
lernen, wie dort die uns berührenden Fragen aufgefaßt und nach der Eigenart
jedes einzelnen Volks behandelt werden. Sonst werden wir auch weiter Über¬
raschungen erleben wie soeben jetzt und sie, gleich dem Chor der antiken
Tragödie, nur mit unsern Gefühlen und mit lyrischen Lauten begleiten dürfen.
Dreinschlagen kann man nicht immer.

Jeder Schritt, der dazu beiträgt, unsre Kenntnis der auswärtigen Politik
zu vermehren, ist ein Stein zum Fundament unsrer berechtigten Weltpolitik,
der nicht damit gedient wird, daß jedes Scheitern eines Wunsches oder selbst
ein unzweifelhafter Mißerfolg einfach der Reichsregierung zur Last gelegt
und gewöhnlich mit auffälliger Unkenntnis der Machtverhültnisse und der
gesamten politischen Lage benörgelt wird. Damit kommen wir nicht weiter
und bleiben nach wie vor ein politisch wenig befähigtes Volk. Wir bilden uns
nicht wenig auf unsre Schulbildung ein, die uns ja auf vielen Gebieten sehr
zustatten kommt, aber es wird meist übersehen, daß wir in her Regel auf dem
schulmäßigen Standpunkt verbleiben, die darauf fußende Weiterbildung unter¬
lassen und darum nur zu oft in Nachteil geraten gegenüber andern Völkern,
die bei vielleicht geringerer Schulbildung wenigstens niemals den praktischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/210>, abgerufen am 04.07.2024.