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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

geradezu eine Gefahr für die Entwicklung des Landes.*) Es ist also dort
ähnlich wie in China. Ja für ganz Asien gilt mehr oder weniger dasselbe,
bis endlich in unsern Tagen das Jnselvolk der Japaner mit dem alten
System brach und seitdem zu ungeahnten Erfolgen eilt.

Auch der Islam ist typisch scholastisch und fußt auch für profane Zwecke
auf dem Studium seiner heiligen Bücher, und jener Kauf Omar, der die
alexandrinische Bibliothek den Flammen überlieferte**) mit der Argumentation,
entweder steht das, was diese Bücher verkünden, im Koran, und dann ist es
unnötig, oder es steht nicht darin, und dann ist dies Wissen des Teufels,
war ein typischer Repräsentant des Scholastentums.

Aber nicht bloß für unsre wissenschaftliche Kultur spielt diese Erstarrung
zeitlich eine große Rolle, auch nicht bloß örtlich, noch jetzt beherrscht sie den
Geisteszustand des größten Kontinents. Außer für die Wissenschaft ist das¬
selbe Prinzip auch für die Kunst, außer für das Geistesleben auch für das
praktische politische Leben, außer für den Intellekt auch für das Gemütsleben
deutlich nachzuweisen. Für die Kunst: denn es war im Mittelalter ebenso verpönt,
Gesichtsausdruck und Faltenwurf, vom Aktstudium nicht zu reden, am Modell
zu studieren, wie es verpönt war, menschliche Leichen zu sezieren. Der Falten¬
wurf wurde höchstens an Papiermustern studiert, wie man höchstens tote Affen
zerlegte. Vesal, der Leibarzt Karls des Fünften, büßte seine anatomischen
Bestrebungen durch eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, die ihn das Leben
kostete. Und wie lange galt in der Rechtspflege das öde und erzieherisch
unfruchtbare, aber durch die Überlieferung geheiligte Zahn um Zahn, Auge
um Auge, und mit welcher Mühe hat sich Abschreckungs- und Besserungs¬
theorie, die auf der Wahrnehmung beruhen, Bahn gebrochen! Von der Re¬
ligion brauchen wir gar nicht zu reden, weil hier in der Offenbarung das
scholastische Prinzip des Unantastbaren dogmatischen Bestandes geradezu Aus¬
gangspunkt ist, das vom Protestantismus uur von der Kirche auf das Gemüt
des einzelnen individualisiert, aber grundsätzlich nicht aufgegeben werden
konnte. ***)





*) Vgl. K, Stählin, Das äußere und innere Problem in Britisch-Indien. Heidel¬
berg, 1908.
^) Ich weiß wohl, daß auch diese Tat bereits durch eine Ehrenrettung aus dem Bestände
der Geschichte gestrichen ist, und daß die Bibliothek eigentlich vorher, und zwar durch Christen,
vernichtet wurde. Doch liegt die Sache im Geiste des Islam und mag daher als Beispiel
noch immer Dienst tun.
Scholastentum in der Religion, gegenüber dem Selbsterlebten. Th. Steinmann
(Religion und Geisteskultur, 1907, 2.) Hier finden sich die Sätze: "Als Musterbeispiele hierfür
wären etwa zu nennen der evolutionistische, der deterministische, der materialistische Dogmatismus!
oder aus einem andern Erkenntnisgebiet: der animistische Dogmatismus, der Dogmatismus
des Rassenprinzips. Hier überall wird eine wissenschaftlich fruchtbare Methode oder Theorie
in irgendeiner Richtung und Form verabsolutiert. Man sieht in ihr eine aller Verbesserung,
erst recht aller Berichtigung und Widerlegung entrückte Wahrheit und zugleich eine Erkenntnis,
Scholastentum

geradezu eine Gefahr für die Entwicklung des Landes.*) Es ist also dort
ähnlich wie in China. Ja für ganz Asien gilt mehr oder weniger dasselbe,
bis endlich in unsern Tagen das Jnselvolk der Japaner mit dem alten
System brach und seitdem zu ungeahnten Erfolgen eilt.

Auch der Islam ist typisch scholastisch und fußt auch für profane Zwecke
auf dem Studium seiner heiligen Bücher, und jener Kauf Omar, der die
alexandrinische Bibliothek den Flammen überlieferte**) mit der Argumentation,
entweder steht das, was diese Bücher verkünden, im Koran, und dann ist es
unnötig, oder es steht nicht darin, und dann ist dies Wissen des Teufels,
war ein typischer Repräsentant des Scholastentums.

Aber nicht bloß für unsre wissenschaftliche Kultur spielt diese Erstarrung
zeitlich eine große Rolle, auch nicht bloß örtlich, noch jetzt beherrscht sie den
Geisteszustand des größten Kontinents. Außer für die Wissenschaft ist das¬
selbe Prinzip auch für die Kunst, außer für das Geistesleben auch für das
praktische politische Leben, außer für den Intellekt auch für das Gemütsleben
deutlich nachzuweisen. Für die Kunst: denn es war im Mittelalter ebenso verpönt,
Gesichtsausdruck und Faltenwurf, vom Aktstudium nicht zu reden, am Modell
zu studieren, wie es verpönt war, menschliche Leichen zu sezieren. Der Falten¬
wurf wurde höchstens an Papiermustern studiert, wie man höchstens tote Affen
zerlegte. Vesal, der Leibarzt Karls des Fünften, büßte seine anatomischen
Bestrebungen durch eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, die ihn das Leben
kostete. Und wie lange galt in der Rechtspflege das öde und erzieherisch
unfruchtbare, aber durch die Überlieferung geheiligte Zahn um Zahn, Auge
um Auge, und mit welcher Mühe hat sich Abschreckungs- und Besserungs¬
theorie, die auf der Wahrnehmung beruhen, Bahn gebrochen! Von der Re¬
ligion brauchen wir gar nicht zu reden, weil hier in der Offenbarung das
scholastische Prinzip des Unantastbaren dogmatischen Bestandes geradezu Aus¬
gangspunkt ist, das vom Protestantismus uur von der Kirche auf das Gemüt
des einzelnen individualisiert, aber grundsätzlich nicht aufgegeben werden
konnte. ***)





*) Vgl. K, Stählin, Das äußere und innere Problem in Britisch-Indien. Heidel¬
berg, 1908.
^) Ich weiß wohl, daß auch diese Tat bereits durch eine Ehrenrettung aus dem Bestände
der Geschichte gestrichen ist, und daß die Bibliothek eigentlich vorher, und zwar durch Christen,
vernichtet wurde. Doch liegt die Sache im Geiste des Islam und mag daher als Beispiel
noch immer Dienst tun.
Scholastentum in der Religion, gegenüber dem Selbsterlebten. Th. Steinmann
(Religion und Geisteskultur, 1907, 2.) Hier finden sich die Sätze: „Als Musterbeispiele hierfür
wären etwa zu nennen der evolutionistische, der deterministische, der materialistische Dogmatismus!
oder aus einem andern Erkenntnisgebiet: der animistische Dogmatismus, der Dogmatismus
des Rassenprinzips. Hier überall wird eine wissenschaftlich fruchtbare Methode oder Theorie
in irgendeiner Richtung und Form verabsolutiert. Man sieht in ihr eine aller Verbesserung,
erst recht aller Berichtigung und Widerlegung entrückte Wahrheit und zugleich eine Erkenntnis,
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[0166] Scholastentum geradezu eine Gefahr für die Entwicklung des Landes.*) Es ist also dort ähnlich wie in China. Ja für ganz Asien gilt mehr oder weniger dasselbe, bis endlich in unsern Tagen das Jnselvolk der Japaner mit dem alten System brach und seitdem zu ungeahnten Erfolgen eilt. Auch der Islam ist typisch scholastisch und fußt auch für profane Zwecke auf dem Studium seiner heiligen Bücher, und jener Kauf Omar, der die alexandrinische Bibliothek den Flammen überlieferte**) mit der Argumentation, entweder steht das, was diese Bücher verkünden, im Koran, und dann ist es unnötig, oder es steht nicht darin, und dann ist dies Wissen des Teufels, war ein typischer Repräsentant des Scholastentums. Aber nicht bloß für unsre wissenschaftliche Kultur spielt diese Erstarrung zeitlich eine große Rolle, auch nicht bloß örtlich, noch jetzt beherrscht sie den Geisteszustand des größten Kontinents. Außer für die Wissenschaft ist das¬ selbe Prinzip auch für die Kunst, außer für das Geistesleben auch für das praktische politische Leben, außer für den Intellekt auch für das Gemütsleben deutlich nachzuweisen. Für die Kunst: denn es war im Mittelalter ebenso verpönt, Gesichtsausdruck und Faltenwurf, vom Aktstudium nicht zu reden, am Modell zu studieren, wie es verpönt war, menschliche Leichen zu sezieren. Der Falten¬ wurf wurde höchstens an Papiermustern studiert, wie man höchstens tote Affen zerlegte. Vesal, der Leibarzt Karls des Fünften, büßte seine anatomischen Bestrebungen durch eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, die ihn das Leben kostete. Und wie lange galt in der Rechtspflege das öde und erzieherisch unfruchtbare, aber durch die Überlieferung geheiligte Zahn um Zahn, Auge um Auge, und mit welcher Mühe hat sich Abschreckungs- und Besserungs¬ theorie, die auf der Wahrnehmung beruhen, Bahn gebrochen! Von der Re¬ ligion brauchen wir gar nicht zu reden, weil hier in der Offenbarung das scholastische Prinzip des Unantastbaren dogmatischen Bestandes geradezu Aus¬ gangspunkt ist, das vom Protestantismus uur von der Kirche auf das Gemüt des einzelnen individualisiert, aber grundsätzlich nicht aufgegeben werden konnte. ***) *) Vgl. K, Stählin, Das äußere und innere Problem in Britisch-Indien. Heidel¬ berg, 1908. ^) Ich weiß wohl, daß auch diese Tat bereits durch eine Ehrenrettung aus dem Bestände der Geschichte gestrichen ist, und daß die Bibliothek eigentlich vorher, und zwar durch Christen, vernichtet wurde. Doch liegt die Sache im Geiste des Islam und mag daher als Beispiel noch immer Dienst tun. Scholastentum in der Religion, gegenüber dem Selbsterlebten. Th. Steinmann (Religion und Geisteskultur, 1907, 2.) Hier finden sich die Sätze: „Als Musterbeispiele hierfür wären etwa zu nennen der evolutionistische, der deterministische, der materialistische Dogmatismus! oder aus einem andern Erkenntnisgebiet: der animistische Dogmatismus, der Dogmatismus des Rassenprinzips. Hier überall wird eine wissenschaftlich fruchtbare Methode oder Theorie in irgendeiner Richtung und Form verabsolutiert. Man sieht in ihr eine aller Verbesserung, erst recht aller Berichtigung und Widerlegung entrückte Wahrheit und zugleich eine Erkenntnis,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/166>, abgerufen am 24.07.2024.