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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

des Altertums dem Kanon des bis dahin geltenden entgegensetzte und den
verknöcherten Scholaster wieder lehrte, ein voller Mensch zu sein. Auch
Realismus ist ein Gegensatz, insofern das Scholastentum häusig Neigung zeigt,
sich in idealistischen Spekulationen zu verlieren, und in der Kunst: der Natu¬
ralismus, der vom akademisch erstarrten Klassizismus zur selbständigen Er¬
fassung der Natur zurückkehrt.

Freilich können auch diese Gegensätze, wie wir sehen werden, wieder
scholastischen Charakter annehmen, indem sie selbst verknöchern, dadurch, daß
sie sich von neuer Erfahrung abchlieen.

Das scholastische ist, wie das Wort es sagt, immer das schulmäßig Über¬
lieferte. Ein Beispiel wird indessen die Sache deutlicher machen als gehäufte
Definitionen. In einer gewissen Periode des Mittelalters quälte man sichlange mit der Beantwortung der Frage, wie es komme, daß ein wohlgefülltes
Wasserbecken nicht überlaufe, wenn man noch einen Fisch in das Wasser werfe.
Ewige meinte", daß der Fisch Wasser in seine Schwimmblase aufnehme, andre,daß er Wasser zu kleinerm Volumen kondensiere. Abhandlungen über Ab¬
handlungen wurden geschrieben, und der Streit währte länger als ein Menschen¬
alter; aber niemand kam auf den Gedanken, die Sache nachzuprüfen, ob
sie sich wirklich so verhielte. Das würde pietätlos gegen die Schule ge¬
wesen sein, der man die wissenschaftliche Existenz verdankte. Und als man sie
endlich prüfte, ergab sie sich als falsch. In der Neuzeit aber gebraucht man.
um solche Fälle humoristisch zu erläutern, die Redensart: Die Sache erklärt
sich vielleicht daraus, daß sie nicht wahr ist.

Wie ist ein solcher Zustand möglich? wird man vielleicht fragen. Aper
er ist nicht bloß möglich, sondern er ist für ganze Kulturperioden der aus¬
schließlich herrschende', und deshalb ist es so wichtig, seinen Gründen nach¬
zugehen.

KNicht bloß die Wissenschaft unsers Mittelalters war durch und durcy
scholastisch und begnügte sich, die Weisheit des Aristoteles im Kopfe zu walzen,
von allen Seiten zu betrachten, aber die Augen zu schließen für alles neue,
was etwa dazu kommen konnte. Das ganze große Kulturvolk un Reiche ver
Mitte ist gegenwärtig im Scholastentum in einem Grade erstarrt, daß seine
Gelehrten mathematische Formeln zu astronomischen Berechnungen gebrauchen,
wozu der rationelle Schlüssel seit lauge abhanden gekommen ^se. und daß es
seine jungen Leute durch strenge Examina über die klassische Literatur am
besten vorzubereiten vermeint, auch für ganz abweichende Lebenszwecke, um
Zollbeamte oder Techniker aus ihnen zu machen.

^Auch in Britisch-Jndien ist unter den halb gebildeten E-ngebo nen dieser
Geist des Scholasteutums stark und äußert sich dort in ^em ^die Staatskrippe, in der alles ans hergebrachte Weise zuge t. Zu s^artig^Tätigkeit in Handel und Industrie. wo alles Wr^ ankommt us ign n
Augen zu sehen, sind seine Elemente gänzlich unbrauchbar, und sie sind darum


Scholastentum

des Altertums dem Kanon des bis dahin geltenden entgegensetzte und den
verknöcherten Scholaster wieder lehrte, ein voller Mensch zu sein. Auch
Realismus ist ein Gegensatz, insofern das Scholastentum häusig Neigung zeigt,
sich in idealistischen Spekulationen zu verlieren, und in der Kunst: der Natu¬
ralismus, der vom akademisch erstarrten Klassizismus zur selbständigen Er¬
fassung der Natur zurückkehrt.

Freilich können auch diese Gegensätze, wie wir sehen werden, wieder
scholastischen Charakter annehmen, indem sie selbst verknöchern, dadurch, daß
sie sich von neuer Erfahrung abchlieen.

Das scholastische ist, wie das Wort es sagt, immer das schulmäßig Über¬
lieferte. Ein Beispiel wird indessen die Sache deutlicher machen als gehäufte
Definitionen. In einer gewissen Periode des Mittelalters quälte man sichlange mit der Beantwortung der Frage, wie es komme, daß ein wohlgefülltes
Wasserbecken nicht überlaufe, wenn man noch einen Fisch in das Wasser werfe.
Ewige meinte», daß der Fisch Wasser in seine Schwimmblase aufnehme, andre,daß er Wasser zu kleinerm Volumen kondensiere. Abhandlungen über Ab¬
handlungen wurden geschrieben, und der Streit währte länger als ein Menschen¬
alter; aber niemand kam auf den Gedanken, die Sache nachzuprüfen, ob
sie sich wirklich so verhielte. Das würde pietätlos gegen die Schule ge¬
wesen sein, der man die wissenschaftliche Existenz verdankte. Und als man sie
endlich prüfte, ergab sie sich als falsch. In der Neuzeit aber gebraucht man.
um solche Fälle humoristisch zu erläutern, die Redensart: Die Sache erklärt
sich vielleicht daraus, daß sie nicht wahr ist.

Wie ist ein solcher Zustand möglich? wird man vielleicht fragen. Aper
er ist nicht bloß möglich, sondern er ist für ganze Kulturperioden der aus¬
schließlich herrschende', und deshalb ist es so wichtig, seinen Gründen nach¬
zugehen.

KNicht bloß die Wissenschaft unsers Mittelalters war durch und durcy
scholastisch und begnügte sich, die Weisheit des Aristoteles im Kopfe zu walzen,
von allen Seiten zu betrachten, aber die Augen zu schließen für alles neue,
was etwa dazu kommen konnte. Das ganze große Kulturvolk un Reiche ver
Mitte ist gegenwärtig im Scholastentum in einem Grade erstarrt, daß seine
Gelehrten mathematische Formeln zu astronomischen Berechnungen gebrauchen,
wozu der rationelle Schlüssel seit lauge abhanden gekommen ^se. und daß es
seine jungen Leute durch strenge Examina über die klassische Literatur am
besten vorzubereiten vermeint, auch für ganz abweichende Lebenszwecke, um
Zollbeamte oder Techniker aus ihnen zu machen.

^Auch in Britisch-Jndien ist unter den halb gebildeten E-ngebo nen dieser
Geist des Scholasteutums stark und äußert sich dort in ^em ^die Staatskrippe, in der alles ans hergebrachte Weise zuge t. Zu s^artig^Tätigkeit in Handel und Industrie. wo alles Wr^ ankommt us ign n
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[0165] Scholastentum des Altertums dem Kanon des bis dahin geltenden entgegensetzte und den verknöcherten Scholaster wieder lehrte, ein voller Mensch zu sein. Auch Realismus ist ein Gegensatz, insofern das Scholastentum häusig Neigung zeigt, sich in idealistischen Spekulationen zu verlieren, und in der Kunst: der Natu¬ ralismus, der vom akademisch erstarrten Klassizismus zur selbständigen Er¬ fassung der Natur zurückkehrt. Freilich können auch diese Gegensätze, wie wir sehen werden, wieder scholastischen Charakter annehmen, indem sie selbst verknöchern, dadurch, daß sie sich von neuer Erfahrung abchlieen. Das scholastische ist, wie das Wort es sagt, immer das schulmäßig Über¬ lieferte. Ein Beispiel wird indessen die Sache deutlicher machen als gehäufte Definitionen. In einer gewissen Periode des Mittelalters quälte man sichlange mit der Beantwortung der Frage, wie es komme, daß ein wohlgefülltes Wasserbecken nicht überlaufe, wenn man noch einen Fisch in das Wasser werfe. Ewige meinte», daß der Fisch Wasser in seine Schwimmblase aufnehme, andre,daß er Wasser zu kleinerm Volumen kondensiere. Abhandlungen über Ab¬ handlungen wurden geschrieben, und der Streit währte länger als ein Menschen¬ alter; aber niemand kam auf den Gedanken, die Sache nachzuprüfen, ob sie sich wirklich so verhielte. Das würde pietätlos gegen die Schule ge¬ wesen sein, der man die wissenschaftliche Existenz verdankte. Und als man sie endlich prüfte, ergab sie sich als falsch. In der Neuzeit aber gebraucht man. um solche Fälle humoristisch zu erläutern, die Redensart: Die Sache erklärt sich vielleicht daraus, daß sie nicht wahr ist. Wie ist ein solcher Zustand möglich? wird man vielleicht fragen. Aper er ist nicht bloß möglich, sondern er ist für ganze Kulturperioden der aus¬ schließlich herrschende', und deshalb ist es so wichtig, seinen Gründen nach¬ zugehen. KNicht bloß die Wissenschaft unsers Mittelalters war durch und durcy scholastisch und begnügte sich, die Weisheit des Aristoteles im Kopfe zu walzen, von allen Seiten zu betrachten, aber die Augen zu schließen für alles neue, was etwa dazu kommen konnte. Das ganze große Kulturvolk un Reiche ver Mitte ist gegenwärtig im Scholastentum in einem Grade erstarrt, daß seine Gelehrten mathematische Formeln zu astronomischen Berechnungen gebrauchen, wozu der rationelle Schlüssel seit lauge abhanden gekommen ^se. und daß es seine jungen Leute durch strenge Examina über die klassische Literatur am besten vorzubereiten vermeint, auch für ganz abweichende Lebenszwecke, um Zollbeamte oder Techniker aus ihnen zu machen. ^Auch in Britisch-Jndien ist unter den halb gebildeten E-ngebo nen dieser Geist des Scholasteutums stark und äußert sich dort in ^em ^die Staatskrippe, in der alles ans hergebrachte Weise zuge t. Zu s^artig^Tätigkeit in Handel und Industrie. wo alles Wr^ ankommt us ign n Augen zu sehen, sind seine Elemente gänzlich unbrauchbar, und sie sind darum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/165>, abgerufen am 24.07.2024.