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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Theodor Wilhelm Lngelmann, ein deutscher Forscher

lebendigen Zelle sämtliche Funktionen vereinigt seien, wenn auch natürlich
nach dem Gesetz der Arbeitsteilung in der einen Zelle diese, in der andern
jene Elemente stärker ausgebildet sind. Er lehnte es also ab, die Muskel¬
zellen des Herzens, die den Blutumlauf beherrschen, nur gewissermaßen als
ein Stück bessern Kautschuks zu betrachten, der sich eben mechanisch zusammen¬
zieht, sondern er zeigte, wie sich der scheinbar so einfache Vorgang einer
Muskelkontraktion aus vier Grundfunktionen der Muskelsubstanz zusammen¬
setze, die er als automatische Reizerzeugung, Reizbarkeit, Reizleitung und Kou-
traktilität bezeichnete.

Diese Auflösung der Tätigkeit des Herzmuskels in vier verschiedne
Leistungen ist nicht bloß eine geistreiche Hypothese, sondern eine experimentell
erhärtete Tatsache. Aber sie greift über den Rahmen einer bloßen Tatsache
hinaus. Indem Engelmann die Einheit und Selbständigkeit der zelligen
Elementarorganismen festhielt und zeigte, daß einem jeden nicht bloß eine,
sondern viele Funktionen zukommen, eröffnete er der physiologischen Forschung
neue Bahnen und Ausblicke. Das alte Gesetz, daß neue Anschauungen zu¬
nächst nicht leicht aufgenommen werden, trifft freilich auch hier zu. Wir be¬
finden uns zurzeit sozusagen im Latenzstadium einer Idee: sie ist wohl von
einem genialen Sämann ausgesät, aber noch nicht für die Allgemeinheit auf¬
gegangen. Aber auch dieser Zeitpunkt wird kommen, und aufrichtige Be¬
wunderung wird dann die Menschen erfüllen für den Forscher, der ihre Gedanken
vorausgedacht und damit das Fundament für die neuen Anschauungsformen
gelegt hat.

Allein noch weiter werden sich seine Spuren erstrecken. Engelmann war
nicht die Persönlichkeit, deren großen Geist das Kaleidoskop der wechselnden
Bilder ausfüllte. Er wich der Frage nicht aus, was denn eigentlich der Ur¬
grund, der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht sei, und wenn auch für
Fernerstehende das exakte Forschen, das Ergründen gesetzmäßiger Zusammen¬
hänge in der sogenannten realen Welt der Physiologie den Inhalt seines
Lebens zu bilden schien, so lebte in seinem Innern ein philosophischer, religiöser
Zug als integrierender Bestandteil seines ganzen Wesens. "Ob das alles
-- so ungefähr äußerte er sich einmal zu mir im Hinblick auf seine Ex-
perimentaluntersuchungen -- ob das alles in Wirklichkeit sich so verhält, weiß
ich nicht gewiß; die Erscheinungen haben doch einen äußerst komplizierten
Weg zurückzulegen, ehe sie in mein Bewußtsein eintreten. Aber was ich
fühle, was ich als gut und schön empfinde, darüber gibt es keinen Zweifel,
das ist unmittelbar gewiß. Die von manchen so unterschätzten psychischen
Vorgänge sind eigentlich das einzig Sichere in der Physiologie." So dachte
der Beherrscher des weiten Gebiets der Physiologie, der Meister der exakten
Physiologischen Technik!

Dem Manne, der das Kommen und Gehen der Erscheinungen so genau
durchschaute, konnte der Wert des Psychischen natürlich nicht in seiner Identi¬
fizierung mit einer früher oder später wieder verschwindenden individuellen


Theodor Wilhelm Lngelmann, ein deutscher Forscher

lebendigen Zelle sämtliche Funktionen vereinigt seien, wenn auch natürlich
nach dem Gesetz der Arbeitsteilung in der einen Zelle diese, in der andern
jene Elemente stärker ausgebildet sind. Er lehnte es also ab, die Muskel¬
zellen des Herzens, die den Blutumlauf beherrschen, nur gewissermaßen als
ein Stück bessern Kautschuks zu betrachten, der sich eben mechanisch zusammen¬
zieht, sondern er zeigte, wie sich der scheinbar so einfache Vorgang einer
Muskelkontraktion aus vier Grundfunktionen der Muskelsubstanz zusammen¬
setze, die er als automatische Reizerzeugung, Reizbarkeit, Reizleitung und Kou-
traktilität bezeichnete.

Diese Auflösung der Tätigkeit des Herzmuskels in vier verschiedne
Leistungen ist nicht bloß eine geistreiche Hypothese, sondern eine experimentell
erhärtete Tatsache. Aber sie greift über den Rahmen einer bloßen Tatsache
hinaus. Indem Engelmann die Einheit und Selbständigkeit der zelligen
Elementarorganismen festhielt und zeigte, daß einem jeden nicht bloß eine,
sondern viele Funktionen zukommen, eröffnete er der physiologischen Forschung
neue Bahnen und Ausblicke. Das alte Gesetz, daß neue Anschauungen zu¬
nächst nicht leicht aufgenommen werden, trifft freilich auch hier zu. Wir be¬
finden uns zurzeit sozusagen im Latenzstadium einer Idee: sie ist wohl von
einem genialen Sämann ausgesät, aber noch nicht für die Allgemeinheit auf¬
gegangen. Aber auch dieser Zeitpunkt wird kommen, und aufrichtige Be¬
wunderung wird dann die Menschen erfüllen für den Forscher, der ihre Gedanken
vorausgedacht und damit das Fundament für die neuen Anschauungsformen
gelegt hat.

Allein noch weiter werden sich seine Spuren erstrecken. Engelmann war
nicht die Persönlichkeit, deren großen Geist das Kaleidoskop der wechselnden
Bilder ausfüllte. Er wich der Frage nicht aus, was denn eigentlich der Ur¬
grund, der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht sei, und wenn auch für
Fernerstehende das exakte Forschen, das Ergründen gesetzmäßiger Zusammen¬
hänge in der sogenannten realen Welt der Physiologie den Inhalt seines
Lebens zu bilden schien, so lebte in seinem Innern ein philosophischer, religiöser
Zug als integrierender Bestandteil seines ganzen Wesens. „Ob das alles
— so ungefähr äußerte er sich einmal zu mir im Hinblick auf seine Ex-
perimentaluntersuchungen — ob das alles in Wirklichkeit sich so verhält, weiß
ich nicht gewiß; die Erscheinungen haben doch einen äußerst komplizierten
Weg zurückzulegen, ehe sie in mein Bewußtsein eintreten. Aber was ich
fühle, was ich als gut und schön empfinde, darüber gibt es keinen Zweifel,
das ist unmittelbar gewiß. Die von manchen so unterschätzten psychischen
Vorgänge sind eigentlich das einzig Sichere in der Physiologie." So dachte
der Beherrscher des weiten Gebiets der Physiologie, der Meister der exakten
Physiologischen Technik!

Dem Manne, der das Kommen und Gehen der Erscheinungen so genau
durchschaute, konnte der Wert des Psychischen natürlich nicht in seiner Identi¬
fizierung mit einer früher oder später wieder verschwindenden individuellen


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[0089] Theodor Wilhelm Lngelmann, ein deutscher Forscher lebendigen Zelle sämtliche Funktionen vereinigt seien, wenn auch natürlich nach dem Gesetz der Arbeitsteilung in der einen Zelle diese, in der andern jene Elemente stärker ausgebildet sind. Er lehnte es also ab, die Muskel¬ zellen des Herzens, die den Blutumlauf beherrschen, nur gewissermaßen als ein Stück bessern Kautschuks zu betrachten, der sich eben mechanisch zusammen¬ zieht, sondern er zeigte, wie sich der scheinbar so einfache Vorgang einer Muskelkontraktion aus vier Grundfunktionen der Muskelsubstanz zusammen¬ setze, die er als automatische Reizerzeugung, Reizbarkeit, Reizleitung und Kou- traktilität bezeichnete. Diese Auflösung der Tätigkeit des Herzmuskels in vier verschiedne Leistungen ist nicht bloß eine geistreiche Hypothese, sondern eine experimentell erhärtete Tatsache. Aber sie greift über den Rahmen einer bloßen Tatsache hinaus. Indem Engelmann die Einheit und Selbständigkeit der zelligen Elementarorganismen festhielt und zeigte, daß einem jeden nicht bloß eine, sondern viele Funktionen zukommen, eröffnete er der physiologischen Forschung neue Bahnen und Ausblicke. Das alte Gesetz, daß neue Anschauungen zu¬ nächst nicht leicht aufgenommen werden, trifft freilich auch hier zu. Wir be¬ finden uns zurzeit sozusagen im Latenzstadium einer Idee: sie ist wohl von einem genialen Sämann ausgesät, aber noch nicht für die Allgemeinheit auf¬ gegangen. Aber auch dieser Zeitpunkt wird kommen, und aufrichtige Be¬ wunderung wird dann die Menschen erfüllen für den Forscher, der ihre Gedanken vorausgedacht und damit das Fundament für die neuen Anschauungsformen gelegt hat. Allein noch weiter werden sich seine Spuren erstrecken. Engelmann war nicht die Persönlichkeit, deren großen Geist das Kaleidoskop der wechselnden Bilder ausfüllte. Er wich der Frage nicht aus, was denn eigentlich der Ur¬ grund, der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht sei, und wenn auch für Fernerstehende das exakte Forschen, das Ergründen gesetzmäßiger Zusammen¬ hänge in der sogenannten realen Welt der Physiologie den Inhalt seines Lebens zu bilden schien, so lebte in seinem Innern ein philosophischer, religiöser Zug als integrierender Bestandteil seines ganzen Wesens. „Ob das alles — so ungefähr äußerte er sich einmal zu mir im Hinblick auf seine Ex- perimentaluntersuchungen — ob das alles in Wirklichkeit sich so verhält, weiß ich nicht gewiß; die Erscheinungen haben doch einen äußerst komplizierten Weg zurückzulegen, ehe sie in mein Bewußtsein eintreten. Aber was ich fühle, was ich als gut und schön empfinde, darüber gibt es keinen Zweifel, das ist unmittelbar gewiß. Die von manchen so unterschätzten psychischen Vorgänge sind eigentlich das einzig Sichere in der Physiologie." So dachte der Beherrscher des weiten Gebiets der Physiologie, der Meister der exakten Physiologischen Technik! Dem Manne, der das Kommen und Gehen der Erscheinungen so genau durchschaute, konnte der Wert des Psychischen natürlich nicht in seiner Identi¬ fizierung mit einer früher oder später wieder verschwindenden individuellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/89>, abgerufen am 24.12.2024.