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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der englische Staat von heute

Daß bei der ungeheuern Menge, Mannigfaltigkeit und Verzweigung der
heutigen Staatsangelegenheiten die unmittelbare Beteiligung des einzelnen an der
Staatsverwaltung unmöglich ist, und daß sogar die im Parlament sitzende Elite
der Nation, wenn sie eine Elite ist, im Grunde genommen aus Unsachverständigen
besteht, gilt natürlich nicht bloß für England, sondern für jeden modernen Gro߬
staat. Darum wird jeder gebildete und fähige Mann, dem es wirklich um ge¬
meinnützige Tätigkeit und nicht um bloße Befriedigung des Ehrgeizes zu tun
ist, wenig Verlangen nach einem Abgeordnetenmandat tragen und die Kräfte,
die ihm sein Beruf übrig läßt, lieber einem Verein oder der Kommunalver¬
waltung widmen, einem Kreise, den er zu übersehen vermag. Nach Low ist in
England auch die Kommunalverwaltnng schon so unübersehbar geworden, daß
der durchschnittliche Bürger kein persönliches Verhältnis mehr zu ihr hat und
sie gern dem engen Kreise der Sachverständigen überläßt. Als sich die Ge¬
meindeangelegenheiten, schreibt er, noch auf die Instandhaltung des Dorfbrunnens
beschränkten, war jedermann sachverständig und zugleich persönlich interessiert,
und als noch der Gutsherr durch ein Verbot des Holzsnmmelns den Bürgern
ihr Winterholz entziehen konnte, wandten sich alle einmütig an den Staat um
Schutz ihrer Gemeinderechte. Den heutigen verwickelten Staats- und Gemeinde¬
angelegenheiten steht der gemeine Engländer verständnislos und darum ohne
alles Interesse gegenüber. "Die große Maschine wird für ihn getrieben teils
von bezahlten Beamten teils von kleinen Gruppen freiwilliger Arbeiter. Es
gibt Zehntausende intelligenter Londoner, die nicht die Namen der Mitglieder
ihres Stadtrats und ihres Armenrats kennen, die nicht die geringste Ahnung
von den Pflichten einer Schulverwaltungskommission haben, die, außer in Wahl¬
zeiten, kaum wissen, in welchem Wahlbezirk sie eine Stimme haben. Die Aus¬
übung des Wahlrechts ist die einzige Gelegenheit, bei der sich der gewöhnliche
Mann seiner Verbindung mit dem Staate bewußt wird. Die Ausübung dieses
Rechtes wird uns als eine ernste Pflicht dargestellt. Aber es gibt keine Pflicht,
die leichter zu tragen wäre als diese, die mit weniger Sorgfalt und Aufmerk¬
samkeit erfüllt wurde und die weniger Zeit, Mühe und Opfer kostete. Eine
Parlamentswahl verursacht dem Wähler nicht mehr Mühe als die Besorgung
eines Scheines, der ihm erlaubt, einen Hund zu halten." Die Folge von
alledem ist, daß die Staatsverwaltung in England immer mehr bureaukratisch
wird, und daß auch die Selbstverwaltung der großen Kommunen zu einem
immer größern Teile ans fachmännisch gebildete bezahlte Beamte übergeht. Auch
die Minister sind, wie Low hervorhebt, nur Dilettanten und müssen sich auf
die fachmännisch gebildeten mittlern und Unterbeamten verlassen, von denen
sie auch die Informationen für die zu entwerfenden Gesetze einholen. Übrigens
ist, wie noch zur Ergänzung des weiter oben gesagten nachgetragen werden
mag, der Parteimechanismus für die Gesetzgebung von Vorteil, da er "Dilet¬
tantismus und hastiges Experimentieren verhütet". Die Gesetzentwürfe müssen
im Kabinett unter Zuziehung sachverständiger Parteigenossen sehr sorgfältig
ausgearbeitet werden; denn dieselben Männer, die ein Gesetz machen, haben es


Der englische Staat von heute

Daß bei der ungeheuern Menge, Mannigfaltigkeit und Verzweigung der
heutigen Staatsangelegenheiten die unmittelbare Beteiligung des einzelnen an der
Staatsverwaltung unmöglich ist, und daß sogar die im Parlament sitzende Elite
der Nation, wenn sie eine Elite ist, im Grunde genommen aus Unsachverständigen
besteht, gilt natürlich nicht bloß für England, sondern für jeden modernen Gro߬
staat. Darum wird jeder gebildete und fähige Mann, dem es wirklich um ge¬
meinnützige Tätigkeit und nicht um bloße Befriedigung des Ehrgeizes zu tun
ist, wenig Verlangen nach einem Abgeordnetenmandat tragen und die Kräfte,
die ihm sein Beruf übrig läßt, lieber einem Verein oder der Kommunalver¬
waltung widmen, einem Kreise, den er zu übersehen vermag. Nach Low ist in
England auch die Kommunalverwaltnng schon so unübersehbar geworden, daß
der durchschnittliche Bürger kein persönliches Verhältnis mehr zu ihr hat und
sie gern dem engen Kreise der Sachverständigen überläßt. Als sich die Ge¬
meindeangelegenheiten, schreibt er, noch auf die Instandhaltung des Dorfbrunnens
beschränkten, war jedermann sachverständig und zugleich persönlich interessiert,
und als noch der Gutsherr durch ein Verbot des Holzsnmmelns den Bürgern
ihr Winterholz entziehen konnte, wandten sich alle einmütig an den Staat um
Schutz ihrer Gemeinderechte. Den heutigen verwickelten Staats- und Gemeinde¬
angelegenheiten steht der gemeine Engländer verständnislos und darum ohne
alles Interesse gegenüber. „Die große Maschine wird für ihn getrieben teils
von bezahlten Beamten teils von kleinen Gruppen freiwilliger Arbeiter. Es
gibt Zehntausende intelligenter Londoner, die nicht die Namen der Mitglieder
ihres Stadtrats und ihres Armenrats kennen, die nicht die geringste Ahnung
von den Pflichten einer Schulverwaltungskommission haben, die, außer in Wahl¬
zeiten, kaum wissen, in welchem Wahlbezirk sie eine Stimme haben. Die Aus¬
übung des Wahlrechts ist die einzige Gelegenheit, bei der sich der gewöhnliche
Mann seiner Verbindung mit dem Staate bewußt wird. Die Ausübung dieses
Rechtes wird uns als eine ernste Pflicht dargestellt. Aber es gibt keine Pflicht,
die leichter zu tragen wäre als diese, die mit weniger Sorgfalt und Aufmerk¬
samkeit erfüllt wurde und die weniger Zeit, Mühe und Opfer kostete. Eine
Parlamentswahl verursacht dem Wähler nicht mehr Mühe als die Besorgung
eines Scheines, der ihm erlaubt, einen Hund zu halten." Die Folge von
alledem ist, daß die Staatsverwaltung in England immer mehr bureaukratisch
wird, und daß auch die Selbstverwaltung der großen Kommunen zu einem
immer größern Teile ans fachmännisch gebildete bezahlte Beamte übergeht. Auch
die Minister sind, wie Low hervorhebt, nur Dilettanten und müssen sich auf
die fachmännisch gebildeten mittlern und Unterbeamten verlassen, von denen
sie auch die Informationen für die zu entwerfenden Gesetze einholen. Übrigens
ist, wie noch zur Ergänzung des weiter oben gesagten nachgetragen werden
mag, der Parteimechanismus für die Gesetzgebung von Vorteil, da er „Dilet¬
tantismus und hastiges Experimentieren verhütet". Die Gesetzentwürfe müssen
im Kabinett unter Zuziehung sachverständiger Parteigenossen sehr sorgfältig
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/78>, abgerufen am 22.07.2024.