Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

vorgeht." Es gilt das besonders auch von den Finanzen. Der Theorie nach
liegt gerade in diesen die Stärke des Unterhauses, da es durch Ablehnung des
Etats das Ministerium zum Rücktritt zwingen kann. Abgesehen jedoch davon,
daß es der Mehrheit gar nicht einfällt, das Ministerium, ihr Ministerium,
stürzen zu wollen, ist die Budgetverweigernng nur "eine konstitutionelle Fiktion".
In Wirklichkeit wird das Budget niemals verweigert, ebensowenig wie das
Mutiny Act genannte Armeegesetz. (Bekanntlich hat England verfassungsmäßig
kein stehendes Heer; daß es tatsächlich eins unterhalten kann, wird durch die
alljährliche Bewilligung jenes Gesetzes ermöglicht, das die Regierung ermächtigt,
auch in Friedenszeiten wegen Gefahr eines Aufruhrs im Lande Truppen zu
unterhalten.) Was das Budget betrifft, so haben die Abgeordneten freilich das
Recht der Kritik, aber diese bleibt bei der Kürze der Beratungszeit und wegen
der technischen Einzelheiten, für die der Mehrzahl der Mitglieder das Verständnis
fehlt, ganz unwirksam. Die Erörterung wird einer Handvoll von Sachverständigen
überlassen, "die zu gering an Zahl und zu einflußlos sind, um ihre Ansichten
den Ministern aufzwingen zu können. Wem ist nicht die Farce einer Armee¬
oder Marinedebatte in der Kommission bekannt? Über Millionen wird abgestimmt,
Lebensfragen von nationaler Bedeutung werden diskutiert und erledigt in Gegen¬
wart von einem Minister und ein bis zwei Unterstaatssekretüren, einen, Ex-
premierminister, ein paar gedankenvollen Sozialpolitikern und etwa einem Dutzend
knurrender Obersten und brummender Hauptleute. Die Masse des Hauses -- be¬
schäftigt, ermüdet, gelangweilt und träge -- ist abwesend beim Mittagessen oder
auf der Terrasse oder im Rauchzimmer; die Mitglieder kommen zur Abstimmung,
wenn sie gerufen werden, wissen aber nicht mehr von dem Gegenstande der
Abstimmung als die Zeitungsleser, die am nächsten Morgen schläfrig einen Blick
auf die Reihe unverständlicher Ziffern und technischer Ausdrücke werfen. Auch
in dieser Sache funktioniert das Unterhaus nicht mehr. Andre Organe können
es ersetzen und ersetzen es jetzt schon. Der Brief einer Fachautorität an eine
Zeitung wird weit mehr beachtet und kann eine Wirkung erzielen." Mit der
"Kommission" ist im vorstehenden ohne Zweifel nicht das gemeint, was wir
eine Parlamentskommission nennen, sondern die sonderbare Einrichtung des
Loirimittss ok tus vnols Hause. Das Unterhaus konstituiert sich, wie den Lesern
aus dem Bericht über Redlichs Werk erinnerlich sein wird, mitunter als eine
Kommission, der dann statt des Speakers ein Chairmcm präsidiert, und zwar
geschieht das immer bei der zweiten, die Durchberatung der einzelnen Punkte
fordernden Lesung aller Gesetze, die sich auf Steuern und Finanzen beziehen.
Die wirklichen Kommissionen erwähnt Low nicht. Nach Redlich wird in diesen
viel mühsame und nützliche Arbeit geleistet. Wäre das nicht der Fall, so könnte
man es kaum verstehen, wie Low das Unterhaus, das er als einen ziemlich
überflüssigen Disputierklub schildert, noch für eine unentbehrliche Pflanzschule
und Siebungsmaschine für Staatsmänner halten kann, für die Anstalt, in der
sich die politischen Talente bilden, üben und hervortun, sodaß aus den durch
ihre parlamentarische Tätigkeit bekannt gewordnen die politischen Führer und die


vorgeht." Es gilt das besonders auch von den Finanzen. Der Theorie nach
liegt gerade in diesen die Stärke des Unterhauses, da es durch Ablehnung des
Etats das Ministerium zum Rücktritt zwingen kann. Abgesehen jedoch davon,
daß es der Mehrheit gar nicht einfällt, das Ministerium, ihr Ministerium,
stürzen zu wollen, ist die Budgetverweigernng nur „eine konstitutionelle Fiktion".
In Wirklichkeit wird das Budget niemals verweigert, ebensowenig wie das
Mutiny Act genannte Armeegesetz. (Bekanntlich hat England verfassungsmäßig
kein stehendes Heer; daß es tatsächlich eins unterhalten kann, wird durch die
alljährliche Bewilligung jenes Gesetzes ermöglicht, das die Regierung ermächtigt,
auch in Friedenszeiten wegen Gefahr eines Aufruhrs im Lande Truppen zu
unterhalten.) Was das Budget betrifft, so haben die Abgeordneten freilich das
Recht der Kritik, aber diese bleibt bei der Kürze der Beratungszeit und wegen
der technischen Einzelheiten, für die der Mehrzahl der Mitglieder das Verständnis
fehlt, ganz unwirksam. Die Erörterung wird einer Handvoll von Sachverständigen
überlassen, „die zu gering an Zahl und zu einflußlos sind, um ihre Ansichten
den Ministern aufzwingen zu können. Wem ist nicht die Farce einer Armee¬
oder Marinedebatte in der Kommission bekannt? Über Millionen wird abgestimmt,
Lebensfragen von nationaler Bedeutung werden diskutiert und erledigt in Gegen¬
wart von einem Minister und ein bis zwei Unterstaatssekretüren, einen, Ex-
premierminister, ein paar gedankenvollen Sozialpolitikern und etwa einem Dutzend
knurrender Obersten und brummender Hauptleute. Die Masse des Hauses — be¬
schäftigt, ermüdet, gelangweilt und träge — ist abwesend beim Mittagessen oder
auf der Terrasse oder im Rauchzimmer; die Mitglieder kommen zur Abstimmung,
wenn sie gerufen werden, wissen aber nicht mehr von dem Gegenstande der
Abstimmung als die Zeitungsleser, die am nächsten Morgen schläfrig einen Blick
auf die Reihe unverständlicher Ziffern und technischer Ausdrücke werfen. Auch
in dieser Sache funktioniert das Unterhaus nicht mehr. Andre Organe können
es ersetzen und ersetzen es jetzt schon. Der Brief einer Fachautorität an eine
Zeitung wird weit mehr beachtet und kann eine Wirkung erzielen." Mit der
„Kommission" ist im vorstehenden ohne Zweifel nicht das gemeint, was wir
eine Parlamentskommission nennen, sondern die sonderbare Einrichtung des
Loirimittss ok tus vnols Hause. Das Unterhaus konstituiert sich, wie den Lesern
aus dem Bericht über Redlichs Werk erinnerlich sein wird, mitunter als eine
Kommission, der dann statt des Speakers ein Chairmcm präsidiert, und zwar
geschieht das immer bei der zweiten, die Durchberatung der einzelnen Punkte
fordernden Lesung aller Gesetze, die sich auf Steuern und Finanzen beziehen.
Die wirklichen Kommissionen erwähnt Low nicht. Nach Redlich wird in diesen
viel mühsame und nützliche Arbeit geleistet. Wäre das nicht der Fall, so könnte
man es kaum verstehen, wie Low das Unterhaus, das er als einen ziemlich
überflüssigen Disputierklub schildert, noch für eine unentbehrliche Pflanzschule
und Siebungsmaschine für Staatsmänner halten kann, für die Anstalt, in der
sich die politischen Talente bilden, üben und hervortun, sodaß aus den durch
ihre parlamentarische Tätigkeit bekannt gewordnen die politischen Führer und die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0076" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313779"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_255" prev="#ID_254" next="#ID_256"> vorgeht." Es gilt das besonders auch von den Finanzen.  Der Theorie nach<lb/>
liegt gerade in diesen die Stärke des Unterhauses, da es durch Ablehnung des<lb/>
Etats das Ministerium zum Rücktritt zwingen kann. Abgesehen jedoch davon,<lb/>
daß es der Mehrheit gar nicht einfällt, das Ministerium, ihr Ministerium,<lb/>
stürzen zu wollen, ist die Budgetverweigernng nur &#x201E;eine konstitutionelle Fiktion".<lb/>
In Wirklichkeit wird das Budget niemals verweigert, ebensowenig wie das<lb/>
Mutiny Act genannte Armeegesetz. (Bekanntlich hat England verfassungsmäßig<lb/>
kein stehendes Heer; daß es tatsächlich eins unterhalten kann, wird durch die<lb/>
alljährliche Bewilligung jenes Gesetzes ermöglicht, das die Regierung ermächtigt,<lb/>
auch in Friedenszeiten wegen Gefahr eines Aufruhrs im Lande Truppen zu<lb/>
unterhalten.) Was das Budget betrifft, so haben die Abgeordneten freilich das<lb/>
Recht der Kritik, aber diese bleibt bei der Kürze der Beratungszeit und wegen<lb/>
der technischen Einzelheiten, für die der Mehrzahl der Mitglieder das Verständnis<lb/>
fehlt, ganz unwirksam. Die Erörterung wird einer Handvoll von Sachverständigen<lb/>
überlassen, &#x201E;die zu gering an Zahl und zu einflußlos sind, um ihre Ansichten<lb/>
den Ministern aufzwingen zu können.  Wem ist nicht die Farce einer Armee¬<lb/>
oder Marinedebatte in der Kommission bekannt? Über Millionen wird abgestimmt,<lb/>
Lebensfragen von nationaler Bedeutung werden diskutiert und erledigt in Gegen¬<lb/>
wart von einem Minister und ein bis zwei Unterstaatssekretüren, einen, Ex-<lb/>
premierminister, ein paar gedankenvollen Sozialpolitikern und etwa einem Dutzend<lb/>
knurrender Obersten und brummender Hauptleute. Die Masse des Hauses &#x2014; be¬<lb/>
schäftigt, ermüdet, gelangweilt und träge &#x2014; ist abwesend beim Mittagessen oder<lb/>
auf der Terrasse oder im Rauchzimmer; die Mitglieder kommen zur Abstimmung,<lb/>
wenn sie gerufen werden, wissen aber nicht mehr von dem Gegenstande der<lb/>
Abstimmung als die Zeitungsleser, die am nächsten Morgen schläfrig einen Blick<lb/>
auf die Reihe unverständlicher Ziffern und technischer Ausdrücke werfen. Auch<lb/>
in dieser Sache funktioniert das Unterhaus nicht mehr. Andre Organe können<lb/>
es ersetzen und ersetzen es jetzt schon.  Der Brief einer Fachautorität an eine<lb/>
Zeitung wird weit mehr beachtet und kann eine Wirkung erzielen."  Mit der<lb/>
&#x201E;Kommission" ist im vorstehenden ohne Zweifel nicht das gemeint, was wir<lb/>
eine Parlamentskommission nennen, sondern die sonderbare Einrichtung des<lb/>
Loirimittss ok tus vnols Hause. Das Unterhaus konstituiert sich, wie den Lesern<lb/>
aus dem Bericht über Redlichs Werk erinnerlich sein wird, mitunter als eine<lb/>
Kommission, der dann statt des Speakers ein Chairmcm präsidiert, und zwar<lb/>
geschieht das immer bei der zweiten, die Durchberatung der einzelnen Punkte<lb/>
fordernden Lesung aller Gesetze, die sich auf Steuern und Finanzen beziehen.<lb/>
Die wirklichen Kommissionen erwähnt Low nicht. Nach Redlich wird in diesen<lb/>
viel mühsame und nützliche Arbeit geleistet. Wäre das nicht der Fall, so könnte<lb/>
man es kaum verstehen, wie Low das Unterhaus, das er als einen ziemlich<lb/>
überflüssigen Disputierklub schildert, noch für eine unentbehrliche Pflanzschule<lb/>
und Siebungsmaschine für Staatsmänner halten kann, für die Anstalt, in der<lb/>
sich die politischen Talente bilden, üben und hervortun, sodaß aus den durch<lb/>
ihre parlamentarische Tätigkeit bekannt gewordnen die politischen Führer und die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0076] vorgeht." Es gilt das besonders auch von den Finanzen. Der Theorie nach liegt gerade in diesen die Stärke des Unterhauses, da es durch Ablehnung des Etats das Ministerium zum Rücktritt zwingen kann. Abgesehen jedoch davon, daß es der Mehrheit gar nicht einfällt, das Ministerium, ihr Ministerium, stürzen zu wollen, ist die Budgetverweigernng nur „eine konstitutionelle Fiktion". In Wirklichkeit wird das Budget niemals verweigert, ebensowenig wie das Mutiny Act genannte Armeegesetz. (Bekanntlich hat England verfassungsmäßig kein stehendes Heer; daß es tatsächlich eins unterhalten kann, wird durch die alljährliche Bewilligung jenes Gesetzes ermöglicht, das die Regierung ermächtigt, auch in Friedenszeiten wegen Gefahr eines Aufruhrs im Lande Truppen zu unterhalten.) Was das Budget betrifft, so haben die Abgeordneten freilich das Recht der Kritik, aber diese bleibt bei der Kürze der Beratungszeit und wegen der technischen Einzelheiten, für die der Mehrzahl der Mitglieder das Verständnis fehlt, ganz unwirksam. Die Erörterung wird einer Handvoll von Sachverständigen überlassen, „die zu gering an Zahl und zu einflußlos sind, um ihre Ansichten den Ministern aufzwingen zu können. Wem ist nicht die Farce einer Armee¬ oder Marinedebatte in der Kommission bekannt? Über Millionen wird abgestimmt, Lebensfragen von nationaler Bedeutung werden diskutiert und erledigt in Gegen¬ wart von einem Minister und ein bis zwei Unterstaatssekretüren, einen, Ex- premierminister, ein paar gedankenvollen Sozialpolitikern und etwa einem Dutzend knurrender Obersten und brummender Hauptleute. Die Masse des Hauses — be¬ schäftigt, ermüdet, gelangweilt und träge — ist abwesend beim Mittagessen oder auf der Terrasse oder im Rauchzimmer; die Mitglieder kommen zur Abstimmung, wenn sie gerufen werden, wissen aber nicht mehr von dem Gegenstande der Abstimmung als die Zeitungsleser, die am nächsten Morgen schläfrig einen Blick auf die Reihe unverständlicher Ziffern und technischer Ausdrücke werfen. Auch in dieser Sache funktioniert das Unterhaus nicht mehr. Andre Organe können es ersetzen und ersetzen es jetzt schon. Der Brief einer Fachautorität an eine Zeitung wird weit mehr beachtet und kann eine Wirkung erzielen." Mit der „Kommission" ist im vorstehenden ohne Zweifel nicht das gemeint, was wir eine Parlamentskommission nennen, sondern die sonderbare Einrichtung des Loirimittss ok tus vnols Hause. Das Unterhaus konstituiert sich, wie den Lesern aus dem Bericht über Redlichs Werk erinnerlich sein wird, mitunter als eine Kommission, der dann statt des Speakers ein Chairmcm präsidiert, und zwar geschieht das immer bei der zweiten, die Durchberatung der einzelnen Punkte fordernden Lesung aller Gesetze, die sich auf Steuern und Finanzen beziehen. Die wirklichen Kommissionen erwähnt Low nicht. Nach Redlich wird in diesen viel mühsame und nützliche Arbeit geleistet. Wäre das nicht der Fall, so könnte man es kaum verstehen, wie Low das Unterhaus, das er als einen ziemlich überflüssigen Disputierklub schildert, noch für eine unentbehrliche Pflanzschule und Siebungsmaschine für Staatsmänner halten kann, für die Anstalt, in der sich die politischen Talente bilden, üben und hervortun, sodaß aus den durch ihre parlamentarische Tätigkeit bekannt gewordnen die politischen Führer und die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/76
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/76>, abgerufen am 23.12.2024.