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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der englische Staat von heute

die in die Versammlung kommen oder wegbleiben dürfen ganz nach Belieben,
die Gesetze machen, daß die größere Hälfte dieser Versammlung ihren Ver¬
trauensmännern die Hauptfnnktionen der Regierung überträgt, daß diese Ver¬
trauensmänner ihre Pflichten nicht ausüben können, ohne durch immerwährende
Angriffe des andern Teils belästigt zu werden; daß die Staatsverwaltung in
einer Weise geführt wird, mit der regelmäßig ein Drittel oder nahezu die Hälfte
der Wühler unzufrieden ist, und daß ihre Mitglieder belohnt oder bestraft
werden, nicht für ihre eignen Handlungen oder Unterlassungen, sondern für
die Handlungen oder Unterlassungen andrer; denn ein Minister mag sein Amt
noch so gut verwalten, fällt wegen eines andern Ministers die Mehrheit bei
den Wählern in Ungnade, so verliert auch er sein Amt. Die ganze Ein¬
richtung ist, wie gesagt, ein Werk von Zufällen, die Low folgendermaßen dar¬
stellt. Die ältere Zeit kennt kein zu Recht bestehendes Kabinett; der Name
war geradezu verhaßt. Denn es verband sich damit die Borstellung einer
Verschwörerbande, die im Geheimen Beratungen Pflege und, vom Geheimnis
gedeckt, Verderbliches plane und beschließe. Noch im Jahre 1851 wollte das
Unterhaus von der Existenz eines Kabinetts amtlich nichts wissen. Ein Kom¬
missionsantrag, worin von Kabinettsministern die Rede war, wurde verworfen,
weil die Verfassung solche Beamte nicht kenne. Erst im Jahre 1900 erscheint
der Ausdruck einmal in einer amtlichen Kundgebung. In die Adresse wurde
der Satz aufgenommen: "Wir drücken untertänigst unser Bedauern aus über
den Rat, der Euer Majestät von dem Premierminister jSalisburyZ erteilt worden
ist, indem er die Ernennung so vieler Mitglieder seiner eignen Familie zu
Ämtern im Kabinett empfahl." Das Kabinett hat sich aus dem Geheimrat ent¬
wickelt, und zwar gerade zu dem, was der Engländer an dem alten Kabinett
so verabscheute: zu einem Geheimrat oder Geheimkomitee. Die Mitglieder des
alten Geheimrath, zu denen die Minister gehören, müssen Geheimhaltung alles
dessen schwören, was in seinen Sitzungen vorgeht. Nun hat dieser Schwur für
die große Mehrzahl der etwa dreihundert Mitglieder gar keine Bedeutung, denn
sie werden nie zu einer Sitzung geladen und erfahren nichts. Es gehören
nämlich nominell zum Königlichen Rat alle, die mit dem Titel R,iANt Nonourablö
ausgezeichnet werden, und der wird zum Beispiel berühmten Gelehrten erteilt,
die für die Ritterwürde zu gut und für die Peerage noch nicht gut genug er¬
scheinen. Für die Minister aber ist der Schwur eine sehr ernste Sache. Von
den Staatsrechtslehrern wird das englische Kabinett gewöhnlich mit drei Zügen
charakterisiert: daß es dem Unterhause verantwortlich ist und mit dem Vertrauen
des Hauses zugleich seine Stellung verliert, daß die Minister solidarisch ver¬
antwortlich, und daß dem Premier die übrigen Minister, die er der Nation und
der Krone gegenüber vertritt, untergeordnet sind. Dagegen werden zwei andre
ganz wesentliche Eigenschaften gewöhnlich verschwiegen: daß es ein Parteikomitee
und ein Geheimkomitee ist. Die zuletzt genannte Eigenschaft ist so stark aus¬
geprägt, daß es nach Low in der ganzen Weltgeschichte nur ein einziges Seitenstück
dazu gibt: den Rat der Zehn in der ehemaligen Republik Venedig. Die


Der englische Staat von heute

die in die Versammlung kommen oder wegbleiben dürfen ganz nach Belieben,
die Gesetze machen, daß die größere Hälfte dieser Versammlung ihren Ver¬
trauensmännern die Hauptfnnktionen der Regierung überträgt, daß diese Ver¬
trauensmänner ihre Pflichten nicht ausüben können, ohne durch immerwährende
Angriffe des andern Teils belästigt zu werden; daß die Staatsverwaltung in
einer Weise geführt wird, mit der regelmäßig ein Drittel oder nahezu die Hälfte
der Wühler unzufrieden ist, und daß ihre Mitglieder belohnt oder bestraft
werden, nicht für ihre eignen Handlungen oder Unterlassungen, sondern für
die Handlungen oder Unterlassungen andrer; denn ein Minister mag sein Amt
noch so gut verwalten, fällt wegen eines andern Ministers die Mehrheit bei
den Wählern in Ungnade, so verliert auch er sein Amt. Die ganze Ein¬
richtung ist, wie gesagt, ein Werk von Zufällen, die Low folgendermaßen dar¬
stellt. Die ältere Zeit kennt kein zu Recht bestehendes Kabinett; der Name
war geradezu verhaßt. Denn es verband sich damit die Borstellung einer
Verschwörerbande, die im Geheimen Beratungen Pflege und, vom Geheimnis
gedeckt, Verderbliches plane und beschließe. Noch im Jahre 1851 wollte das
Unterhaus von der Existenz eines Kabinetts amtlich nichts wissen. Ein Kom¬
missionsantrag, worin von Kabinettsministern die Rede war, wurde verworfen,
weil die Verfassung solche Beamte nicht kenne. Erst im Jahre 1900 erscheint
der Ausdruck einmal in einer amtlichen Kundgebung. In die Adresse wurde
der Satz aufgenommen: „Wir drücken untertänigst unser Bedauern aus über
den Rat, der Euer Majestät von dem Premierminister jSalisburyZ erteilt worden
ist, indem er die Ernennung so vieler Mitglieder seiner eignen Familie zu
Ämtern im Kabinett empfahl." Das Kabinett hat sich aus dem Geheimrat ent¬
wickelt, und zwar gerade zu dem, was der Engländer an dem alten Kabinett
so verabscheute: zu einem Geheimrat oder Geheimkomitee. Die Mitglieder des
alten Geheimrath, zu denen die Minister gehören, müssen Geheimhaltung alles
dessen schwören, was in seinen Sitzungen vorgeht. Nun hat dieser Schwur für
die große Mehrzahl der etwa dreihundert Mitglieder gar keine Bedeutung, denn
sie werden nie zu einer Sitzung geladen und erfahren nichts. Es gehören
nämlich nominell zum Königlichen Rat alle, die mit dem Titel R,iANt Nonourablö
ausgezeichnet werden, und der wird zum Beispiel berühmten Gelehrten erteilt,
die für die Ritterwürde zu gut und für die Peerage noch nicht gut genug er¬
scheinen. Für die Minister aber ist der Schwur eine sehr ernste Sache. Von
den Staatsrechtslehrern wird das englische Kabinett gewöhnlich mit drei Zügen
charakterisiert: daß es dem Unterhause verantwortlich ist und mit dem Vertrauen
des Hauses zugleich seine Stellung verliert, daß die Minister solidarisch ver¬
antwortlich, und daß dem Premier die übrigen Minister, die er der Nation und
der Krone gegenüber vertritt, untergeordnet sind. Dagegen werden zwei andre
ganz wesentliche Eigenschaften gewöhnlich verschwiegen: daß es ein Parteikomitee
und ein Geheimkomitee ist. Die zuletzt genannte Eigenschaft ist so stark aus¬
geprägt, daß es nach Low in der ganzen Weltgeschichte nur ein einziges Seitenstück
dazu gibt: den Rat der Zehn in der ehemaligen Republik Venedig. Die


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[0071] Der englische Staat von heute die in die Versammlung kommen oder wegbleiben dürfen ganz nach Belieben, die Gesetze machen, daß die größere Hälfte dieser Versammlung ihren Ver¬ trauensmännern die Hauptfnnktionen der Regierung überträgt, daß diese Ver¬ trauensmänner ihre Pflichten nicht ausüben können, ohne durch immerwährende Angriffe des andern Teils belästigt zu werden; daß die Staatsverwaltung in einer Weise geführt wird, mit der regelmäßig ein Drittel oder nahezu die Hälfte der Wühler unzufrieden ist, und daß ihre Mitglieder belohnt oder bestraft werden, nicht für ihre eignen Handlungen oder Unterlassungen, sondern für die Handlungen oder Unterlassungen andrer; denn ein Minister mag sein Amt noch so gut verwalten, fällt wegen eines andern Ministers die Mehrheit bei den Wählern in Ungnade, so verliert auch er sein Amt. Die ganze Ein¬ richtung ist, wie gesagt, ein Werk von Zufällen, die Low folgendermaßen dar¬ stellt. Die ältere Zeit kennt kein zu Recht bestehendes Kabinett; der Name war geradezu verhaßt. Denn es verband sich damit die Borstellung einer Verschwörerbande, die im Geheimen Beratungen Pflege und, vom Geheimnis gedeckt, Verderbliches plane und beschließe. Noch im Jahre 1851 wollte das Unterhaus von der Existenz eines Kabinetts amtlich nichts wissen. Ein Kom¬ missionsantrag, worin von Kabinettsministern die Rede war, wurde verworfen, weil die Verfassung solche Beamte nicht kenne. Erst im Jahre 1900 erscheint der Ausdruck einmal in einer amtlichen Kundgebung. In die Adresse wurde der Satz aufgenommen: „Wir drücken untertänigst unser Bedauern aus über den Rat, der Euer Majestät von dem Premierminister jSalisburyZ erteilt worden ist, indem er die Ernennung so vieler Mitglieder seiner eignen Familie zu Ämtern im Kabinett empfahl." Das Kabinett hat sich aus dem Geheimrat ent¬ wickelt, und zwar gerade zu dem, was der Engländer an dem alten Kabinett so verabscheute: zu einem Geheimrat oder Geheimkomitee. Die Mitglieder des alten Geheimrath, zu denen die Minister gehören, müssen Geheimhaltung alles dessen schwören, was in seinen Sitzungen vorgeht. Nun hat dieser Schwur für die große Mehrzahl der etwa dreihundert Mitglieder gar keine Bedeutung, denn sie werden nie zu einer Sitzung geladen und erfahren nichts. Es gehören nämlich nominell zum Königlichen Rat alle, die mit dem Titel R,iANt Nonourablö ausgezeichnet werden, und der wird zum Beispiel berühmten Gelehrten erteilt, die für die Ritterwürde zu gut und für die Peerage noch nicht gut genug er¬ scheinen. Für die Minister aber ist der Schwur eine sehr ernste Sache. Von den Staatsrechtslehrern wird das englische Kabinett gewöhnlich mit drei Zügen charakterisiert: daß es dem Unterhause verantwortlich ist und mit dem Vertrauen des Hauses zugleich seine Stellung verliert, daß die Minister solidarisch ver¬ antwortlich, und daß dem Premier die übrigen Minister, die er der Nation und der Krone gegenüber vertritt, untergeordnet sind. Dagegen werden zwei andre ganz wesentliche Eigenschaften gewöhnlich verschwiegen: daß es ein Parteikomitee und ein Geheimkomitee ist. Die zuletzt genannte Eigenschaft ist so stark aus¬ geprägt, daß es nach Low in der ganzen Weltgeschichte nur ein einziges Seitenstück dazu gibt: den Rat der Zehn in der ehemaligen Republik Venedig. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/71>, abgerufen am 23.07.2024.