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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Gene Rechtsphilosophie

Schuldige sei, wurde zuletzt dieser allein verantwortlich und haftbar gemacht.
Die Vorstellung von einer Schuld des Tieres verlor sich zuletzt ganz, da es
"eine Eigenart der Kulturwelt ist, zwischen Mensch und Tier einen dicken
Strich zu machen, was früher unerhört gewesen wäre, und was den untern
Schichten des Volkes auch jetzt noch nicht recht einleuchten will". Gewisse
obere Schichten aber, die Biologen und manche Psychologen, löschen den dicken
Strich wieder aus, und wenn sie sich mit den Radikalsten der neuen krimina¬
listischen Schule Verbunden, die als strenge Deterministen den Schuldbegrisf ver¬
nichten und den Verbrecher als Geisteskranken behandeln, außerdem auch noch
mit den Philozoen und Vegetariern buddhistischer und sonstiger Richtung, so
wird man dahin kommen, daß der stößige Ochs einem Ticrirrenhanse in Pflege
gegeben wird, statt zu Beefsteaks verarbeitet zu werden. Die Paragraphen
des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die von der Haftpflicht des Tierhalters handeln,
sind vor drei Jahren verbessert worden. Den Grenzboten gebührt das Ver¬
dienst, durch eine prächtige Schilderung der Unvernunft in der Rechtsprechung,
die sich aus der ursprünglichen Fassung ergab, zu dieser Verbesserung kräftig
mitgewirkt zu haben. In dem Abschnitt über das Erbrecht und das Testament
findet sich kein Gedanke, der besonders hervorgehoben zu werden verdiente.

Das "zweite Buch" des besondern Teils: "Gesamtheitsrecht" zerfällt in
ein langes und ein kurzes Kapitel. Dieses handelt vom Menschheits- oder
Völkerrecht, jenes, "Recht des Staates", wird in die Hauptstücke: "Vom Staat"
und "Wirksamkeit des Staates" gegliedert. Ich hebe aus diesem zweiten
Buche nur einige wenige Gedanken heraus. Der Verfasser läßt die Staaten¬
bildung mit der Einigung einer Anzahl von Gruppen durch die gemeinschaft¬
liche Verehrung eines Tiergotts (Totems) beginnen. Wir sind doch wohl
zu wenig über die Uranfänge der Kultur unterrichtet, um behaupten zu können,
daß der bei einigen heutigen Naturvölkern gefundne Totenkult ursprünglich
allgemein geherrscht habe. Dagegen darf man mit dem Verfasser als sicher
annehmen, daß der Staat ursprünglich Gcschlechterstaat, räumlich nicht begrenzt
gewesen und erst später Territorialstaat geworden ist. In dem Abschnitt über
die Staatstheoriker wird Aristoteles gelobt und kommt Plato sehr schlecht
weg. Das Anstößige und Wunderliche an dessen Utopie, der er ja das weit
nüchternere Buch von den Gesetzen hat folgen lassen, verschwindet, wenn man
bedenkt, daß, wie ich (Hellenentum und Christentum S. 106 und 114) hervor¬
gehoben habe, gar nicht die Lehre vom Staat, sondern das Wesen der Ge¬
rechtigkeit der eigentliche Gegenstand der Politie ist. Weil dieses Wesen,
sagt Plato, für die schwache Erkenntniskraft des Menschen so schwer erkennbar
sei wie kleine Buchstaben für ein schwaches Auge, müsse man das Bild der
Gerechtigkeit in vergrößertem Maßstabe, in den Einrichtungen des Staates
zeichnen, um daran zu erkennen, worin die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen
bestehe. Dabei komme nichts darauf an, ob ein vollkommen gerechter Staat
möglich sei oder nicht, nur das sei wichtig, daß sein Bild richtig gezeichnet


Gene Rechtsphilosophie

Schuldige sei, wurde zuletzt dieser allein verantwortlich und haftbar gemacht.
Die Vorstellung von einer Schuld des Tieres verlor sich zuletzt ganz, da es
„eine Eigenart der Kulturwelt ist, zwischen Mensch und Tier einen dicken
Strich zu machen, was früher unerhört gewesen wäre, und was den untern
Schichten des Volkes auch jetzt noch nicht recht einleuchten will". Gewisse
obere Schichten aber, die Biologen und manche Psychologen, löschen den dicken
Strich wieder aus, und wenn sie sich mit den Radikalsten der neuen krimina¬
listischen Schule Verbunden, die als strenge Deterministen den Schuldbegrisf ver¬
nichten und den Verbrecher als Geisteskranken behandeln, außerdem auch noch
mit den Philozoen und Vegetariern buddhistischer und sonstiger Richtung, so
wird man dahin kommen, daß der stößige Ochs einem Ticrirrenhanse in Pflege
gegeben wird, statt zu Beefsteaks verarbeitet zu werden. Die Paragraphen
des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die von der Haftpflicht des Tierhalters handeln,
sind vor drei Jahren verbessert worden. Den Grenzboten gebührt das Ver¬
dienst, durch eine prächtige Schilderung der Unvernunft in der Rechtsprechung,
die sich aus der ursprünglichen Fassung ergab, zu dieser Verbesserung kräftig
mitgewirkt zu haben. In dem Abschnitt über das Erbrecht und das Testament
findet sich kein Gedanke, der besonders hervorgehoben zu werden verdiente.

Das „zweite Buch" des besondern Teils: „Gesamtheitsrecht" zerfällt in
ein langes und ein kurzes Kapitel. Dieses handelt vom Menschheits- oder
Völkerrecht, jenes, „Recht des Staates", wird in die Hauptstücke: „Vom Staat"
und „Wirksamkeit des Staates" gegliedert. Ich hebe aus diesem zweiten
Buche nur einige wenige Gedanken heraus. Der Verfasser läßt die Staaten¬
bildung mit der Einigung einer Anzahl von Gruppen durch die gemeinschaft¬
liche Verehrung eines Tiergotts (Totems) beginnen. Wir sind doch wohl
zu wenig über die Uranfänge der Kultur unterrichtet, um behaupten zu können,
daß der bei einigen heutigen Naturvölkern gefundne Totenkult ursprünglich
allgemein geherrscht habe. Dagegen darf man mit dem Verfasser als sicher
annehmen, daß der Staat ursprünglich Gcschlechterstaat, räumlich nicht begrenzt
gewesen und erst später Territorialstaat geworden ist. In dem Abschnitt über
die Staatstheoriker wird Aristoteles gelobt und kommt Plato sehr schlecht
weg. Das Anstößige und Wunderliche an dessen Utopie, der er ja das weit
nüchternere Buch von den Gesetzen hat folgen lassen, verschwindet, wenn man
bedenkt, daß, wie ich (Hellenentum und Christentum S. 106 und 114) hervor¬
gehoben habe, gar nicht die Lehre vom Staat, sondern das Wesen der Ge¬
rechtigkeit der eigentliche Gegenstand der Politie ist. Weil dieses Wesen,
sagt Plato, für die schwache Erkenntniskraft des Menschen so schwer erkennbar
sei wie kleine Buchstaben für ein schwaches Auge, müsse man das Bild der
Gerechtigkeit in vergrößertem Maßstabe, in den Einrichtungen des Staates
zeichnen, um daran zu erkennen, worin die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen
bestehe. Dabei komme nichts darauf an, ob ein vollkommen gerechter Staat
möglich sei oder nicht, nur das sei wichtig, daß sein Bild richtig gezeichnet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/609>, abgerufen am 23.07.2024.