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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Goethe und pestalozzi

zu wissen wünschte, schrieb dieser an den Rand: "Meine Beschäftigungen waren
diese Zeit von der Pädagogik so fern, daß ich in das Pestalozzische Wesen
noch nicht ernstlich habe eingehen können."

Als sich lebhafte Erörterungen für und wider Pestalozzi an die Spazierschcn
Rezensionen anknüpften, besprach dieser auch das Buch des bedeutendsten Schülers
Pestalozzis. Johann Friedrich Hcrbarts: "Pestalozzis Idee eines ABC der
Anschauung", der, nicht wie Pestalozzi das Quadrat, sondern das Dreieck zum
Ausgangspunkt der Anschauungsübungen machte. Der Streit, der sich hierbei
erhob, widerte Goethe an: "er, der seine ganze Seele der Fülle des Lebens,
dem unerschöpflichen Reichtum der Natur an lebendigen und lebensvollen Ge-
staltungen öffnete, bei dem jeder Nerv mitschwang in dem großen Einklang der
Natur, . . mußte in Pestalozzis wie auch in Herbarts formalistischen An¬
schauungsübungen lediglich die Ausgeburt einer dem Leben vollständig ent¬
fremdeten Schulmeisterpedantcrie erblicken."

Trotzdem sah Goethe dem Streite, an dem sich außer Spazier vor allem
Niederer als "Sprecher des Pestalozzischen Instituts" beteiligte, noch mehrere
Monate geduldig zu und erwog gewissenhaft das Pro und Kontra. Dann aber
gab er im November sein Urteil in der Form ab, daß er die Hauptstelle aus
einem an ihn gelangten Briefe Wilhelm v. Humboldts in dem zur Jenaischen
Literaturzeitung gehörigen Jntelligenzblatte (Ur. 134) abdrucken ließ. Diese
Erklärung, die auch für unsre Zeit noch wichtig genug ist. lautet: "Mit großem
Interesse habe ich die Anzeige der Pestalozzischen Methode gelesen. Nur finde
ich den Rezensenten zu nachsichtig. Sagen Sie mir einmal selbst, was aus
dem Menschengeschlecht würde, wenn alle Kinder nun dreißig Jahre hinter¬
einander nachbeteten: das Auge liegt unter der Stirn, zweimal zwei ist vier,
ein Quadrat hat vier gleiche Seiten und so fort. Ich fürchte sehr, indem
man besonders die Schulen der niedern Stunde verbessern will, räumt man
als Unrat gerade das mit weg. was allein Heil brachte. Auch der Bauer und
Bettler hat eine Phantasie und ein andres Gefühl, als das bloße seiner
Dürftigkeit und seines kärglichen Genusses, auch in ihm kann und muß etwas
Höheres geweckt werden, und bisher wurde es geweckt. Man las in allen
Schulen kapitelweise die Bibel. Da war Geschichte. Poesie, Roman, Religion.
Moral, alles durcheinander; der Zufall hatte es zusammengefügt, aber die Ab¬
sicht möchte Mühe haben, es gleich gut zu machen. Aus dieser Quelle schöpfte
bis jetzt der gemeine Mann alles, wodurch er mehr als bloßes Lasttier war.
und dafür werden ihm alle Systeme der Anschauung keinen Ersatz gewähren.
Es ist wirklich ein fürchterlicher Gedanke, dem Menschen die Anschauungen
seiner eignen Glieder zuzählen zu wollen, da man genug zu tun hat, Ordnung
in dem Chaos vou Anschauungen zu stiften, die sich von selbst aufdrängen.
Die mathematische Richtung zur Hauptrichtung machen ist gar entsetzlich.
Äußerst gefällig ist aber der Rezensent, daß er zugibt, daß eines der Pestalozzischen
Unterrichtsmittel die Sprache ist. Was hat die Sprache mit dem trocknen Be¬
nennen der Gegenstände gemein? Die Sprache würde oder könnte wenigstens


Goethe und pestalozzi

zu wissen wünschte, schrieb dieser an den Rand: „Meine Beschäftigungen waren
diese Zeit von der Pädagogik so fern, daß ich in das Pestalozzische Wesen
noch nicht ernstlich habe eingehen können."

Als sich lebhafte Erörterungen für und wider Pestalozzi an die Spazierschcn
Rezensionen anknüpften, besprach dieser auch das Buch des bedeutendsten Schülers
Pestalozzis. Johann Friedrich Hcrbarts: „Pestalozzis Idee eines ABC der
Anschauung", der, nicht wie Pestalozzi das Quadrat, sondern das Dreieck zum
Ausgangspunkt der Anschauungsübungen machte. Der Streit, der sich hierbei
erhob, widerte Goethe an: „er, der seine ganze Seele der Fülle des Lebens,
dem unerschöpflichen Reichtum der Natur an lebendigen und lebensvollen Ge-
staltungen öffnete, bei dem jeder Nerv mitschwang in dem großen Einklang der
Natur, . . mußte in Pestalozzis wie auch in Herbarts formalistischen An¬
schauungsübungen lediglich die Ausgeburt einer dem Leben vollständig ent¬
fremdeten Schulmeisterpedantcrie erblicken."

Trotzdem sah Goethe dem Streite, an dem sich außer Spazier vor allem
Niederer als „Sprecher des Pestalozzischen Instituts" beteiligte, noch mehrere
Monate geduldig zu und erwog gewissenhaft das Pro und Kontra. Dann aber
gab er im November sein Urteil in der Form ab, daß er die Hauptstelle aus
einem an ihn gelangten Briefe Wilhelm v. Humboldts in dem zur Jenaischen
Literaturzeitung gehörigen Jntelligenzblatte (Ur. 134) abdrucken ließ. Diese
Erklärung, die auch für unsre Zeit noch wichtig genug ist. lautet: „Mit großem
Interesse habe ich die Anzeige der Pestalozzischen Methode gelesen. Nur finde
ich den Rezensenten zu nachsichtig. Sagen Sie mir einmal selbst, was aus
dem Menschengeschlecht würde, wenn alle Kinder nun dreißig Jahre hinter¬
einander nachbeteten: das Auge liegt unter der Stirn, zweimal zwei ist vier,
ein Quadrat hat vier gleiche Seiten und so fort. Ich fürchte sehr, indem
man besonders die Schulen der niedern Stunde verbessern will, räumt man
als Unrat gerade das mit weg. was allein Heil brachte. Auch der Bauer und
Bettler hat eine Phantasie und ein andres Gefühl, als das bloße seiner
Dürftigkeit und seines kärglichen Genusses, auch in ihm kann und muß etwas
Höheres geweckt werden, und bisher wurde es geweckt. Man las in allen
Schulen kapitelweise die Bibel. Da war Geschichte. Poesie, Roman, Religion.
Moral, alles durcheinander; der Zufall hatte es zusammengefügt, aber die Ab¬
sicht möchte Mühe haben, es gleich gut zu machen. Aus dieser Quelle schöpfte
bis jetzt der gemeine Mann alles, wodurch er mehr als bloßes Lasttier war.
und dafür werden ihm alle Systeme der Anschauung keinen Ersatz gewähren.
Es ist wirklich ein fürchterlicher Gedanke, dem Menschen die Anschauungen
seiner eignen Glieder zuzählen zu wollen, da man genug zu tun hat, Ordnung
in dem Chaos vou Anschauungen zu stiften, die sich von selbst aufdrängen.
Die mathematische Richtung zur Hauptrichtung machen ist gar entsetzlich.
Äußerst gefällig ist aber der Rezensent, daß er zugibt, daß eines der Pestalozzischen
Unterrichtsmittel die Sprache ist. Was hat die Sprache mit dem trocknen Be¬
nennen der Gegenstände gemein? Die Sprache würde oder könnte wenigstens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/571>, abgerufen am 23.07.2024.