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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Goethe und Pestalozzi

sind nur die wenigern Eingeborne. Russen, Franzosen, Deutsche, Holländer,
Spanier sitzen am Tisch des Schweizers und lernen an seiner Seite."

Pestalozzi hat schon in das 1780 vollendete Volksbuch "Lienharo und
Gertrud" Goethes Lied:

verwoben. Die um dieselbe Zeit verfaßte "Abendstunde eines Einsiedlers"
apostrophiert schon Goethe als den reichsten der Fürsten im Gebiete des Geistes,
der leider von seiner Kraft noch nicht den rechten Gebrauch mache, und in einer
gleichzeitigen Briefstelle sagt er noch deutlicher: "Die Kraft seines dem Jahr¬
hundert zugeschnittnen Genies wirkt mit Fürsten- und Herrschergewalt wie
Voltaire in seiner Zeit. . . . Wäre Vatersinn, Vateropfer Geistes Richtung des
Mannes im Gebrauch seiner Kräfte, er wäre Prophet und Mann Gottes fürs
Volk, jetzt Irrlicht zwischen Engel und Satan und mir insoweit niederer Ver¬
führer der Unschuld." Wir wissen nicht, ob dem Dichter des "Werther" diese
Zeilen je vor das Auge kamen: jedenfalls taten sie dem Manne, dem die
Wildschaden der Bauern am Ettersberge und das Elend der Apoldner Strumpf¬
wirker große Sorge bereiteten, bitter Unrecht. Erst 1797, als ihm Goethes:

ein Hauptthema wird zu seinem Buche: "Nachforschungen über den Gang der
Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts", hat sich Pestalozzi innerlich
völlig mit Goethe ausgesöhnt. Seitdem versucht er bei verschiednen Anlässen,
den Weimarer Dichter für seine pädagogischen und literarischen Unternehmungen
zu interessieren. Er hätte sich dabei auf die persönliche Bekanntschaft mit
Goethe berufen können. Denn wenn auch der Besuch Pestalozzis, den er
Goethe im Jahre 1775 in Frankfurt abgestattet haben soll, ins Bereich der
Fabel gehört, ebenso wie die angebliche Reise Pestalozzis nach Sachsen im
Jahre 1786, so ist doch aus einer Äußerung Goethes zu Theodor Schacht
aus dem Jahre 1810 klar, daß er Pestalozzi persönlich gekannt hat; viel¬
leicht hatte ihn dieser 1792 in Weimar besucht. Trotzdem schreibt Pestalozzi
am 16. Februar 1803 aus Burgdorf an Goethe wie an einen Fremden:
"Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit." Es kaun also kein intimerer Verkehr
zwischen den beiden Männern stattgefunden haben. Es ist, als ob Goethe
schon aus der Ferne oder gleich bei der ersten persönlichen Berührung die starke
Wesensverschiedenheit empfunden hätte, die ihn von dem Schweizer trennte.
Deshalb fand auch Pestalozzis in dem oben angeführten Brief ausgesprochuc
Bitte, Goethe solle den Pränumerationsplan auf die Elementarmittel der neuen
Unterrichtsmethode begünstigen, nur ein schwaches Echo. Er ließ, anstatt selbst
genauer zu prüfen, den Schriftsteller Johann Gottlob Spazier um eine zu¬
sammenhängende Reihe von Besprechungen der Schriften Pestalozzis ersuchen,
die dann im Frühjahr in der Jenaischen Literaturzeitung abgedruckt wurde.
Als aber Eichstädt Goethes eignes Urteil über die Spazierschen Rezensionen


Goethe und Pestalozzi

sind nur die wenigern Eingeborne. Russen, Franzosen, Deutsche, Holländer,
Spanier sitzen am Tisch des Schweizers und lernen an seiner Seite."

Pestalozzi hat schon in das 1780 vollendete Volksbuch „Lienharo und
Gertrud" Goethes Lied:

verwoben. Die um dieselbe Zeit verfaßte „Abendstunde eines Einsiedlers"
apostrophiert schon Goethe als den reichsten der Fürsten im Gebiete des Geistes,
der leider von seiner Kraft noch nicht den rechten Gebrauch mache, und in einer
gleichzeitigen Briefstelle sagt er noch deutlicher: „Die Kraft seines dem Jahr¬
hundert zugeschnittnen Genies wirkt mit Fürsten- und Herrschergewalt wie
Voltaire in seiner Zeit. . . . Wäre Vatersinn, Vateropfer Geistes Richtung des
Mannes im Gebrauch seiner Kräfte, er wäre Prophet und Mann Gottes fürs
Volk, jetzt Irrlicht zwischen Engel und Satan und mir insoweit niederer Ver¬
führer der Unschuld." Wir wissen nicht, ob dem Dichter des „Werther" diese
Zeilen je vor das Auge kamen: jedenfalls taten sie dem Manne, dem die
Wildschaden der Bauern am Ettersberge und das Elend der Apoldner Strumpf¬
wirker große Sorge bereiteten, bitter Unrecht. Erst 1797, als ihm Goethes:

ein Hauptthema wird zu seinem Buche: „Nachforschungen über den Gang der
Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts", hat sich Pestalozzi innerlich
völlig mit Goethe ausgesöhnt. Seitdem versucht er bei verschiednen Anlässen,
den Weimarer Dichter für seine pädagogischen und literarischen Unternehmungen
zu interessieren. Er hätte sich dabei auf die persönliche Bekanntschaft mit
Goethe berufen können. Denn wenn auch der Besuch Pestalozzis, den er
Goethe im Jahre 1775 in Frankfurt abgestattet haben soll, ins Bereich der
Fabel gehört, ebenso wie die angebliche Reise Pestalozzis nach Sachsen im
Jahre 1786, so ist doch aus einer Äußerung Goethes zu Theodor Schacht
aus dem Jahre 1810 klar, daß er Pestalozzi persönlich gekannt hat; viel¬
leicht hatte ihn dieser 1792 in Weimar besucht. Trotzdem schreibt Pestalozzi
am 16. Februar 1803 aus Burgdorf an Goethe wie an einen Fremden:
„Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit." Es kaun also kein intimerer Verkehr
zwischen den beiden Männern stattgefunden haben. Es ist, als ob Goethe
schon aus der Ferne oder gleich bei der ersten persönlichen Berührung die starke
Wesensverschiedenheit empfunden hätte, die ihn von dem Schweizer trennte.
Deshalb fand auch Pestalozzis in dem oben angeführten Brief ausgesprochuc
Bitte, Goethe solle den Pränumerationsplan auf die Elementarmittel der neuen
Unterrichtsmethode begünstigen, nur ein schwaches Echo. Er ließ, anstatt selbst
genauer zu prüfen, den Schriftsteller Johann Gottlob Spazier um eine zu¬
sammenhängende Reihe von Besprechungen der Schriften Pestalozzis ersuchen,
die dann im Frühjahr in der Jenaischen Literaturzeitung abgedruckt wurde.
Als aber Eichstädt Goethes eignes Urteil über die Spazierschen Rezensionen


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[0570] Goethe und Pestalozzi sind nur die wenigern Eingeborne. Russen, Franzosen, Deutsche, Holländer, Spanier sitzen am Tisch des Schweizers und lernen an seiner Seite." Pestalozzi hat schon in das 1780 vollendete Volksbuch „Lienharo und Gertrud" Goethes Lied: verwoben. Die um dieselbe Zeit verfaßte „Abendstunde eines Einsiedlers" apostrophiert schon Goethe als den reichsten der Fürsten im Gebiete des Geistes, der leider von seiner Kraft noch nicht den rechten Gebrauch mache, und in einer gleichzeitigen Briefstelle sagt er noch deutlicher: „Die Kraft seines dem Jahr¬ hundert zugeschnittnen Genies wirkt mit Fürsten- und Herrschergewalt wie Voltaire in seiner Zeit. . . . Wäre Vatersinn, Vateropfer Geistes Richtung des Mannes im Gebrauch seiner Kräfte, er wäre Prophet und Mann Gottes fürs Volk, jetzt Irrlicht zwischen Engel und Satan und mir insoweit niederer Ver¬ führer der Unschuld." Wir wissen nicht, ob dem Dichter des „Werther" diese Zeilen je vor das Auge kamen: jedenfalls taten sie dem Manne, dem die Wildschaden der Bauern am Ettersberge und das Elend der Apoldner Strumpf¬ wirker große Sorge bereiteten, bitter Unrecht. Erst 1797, als ihm Goethes: ein Hauptthema wird zu seinem Buche: „Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts", hat sich Pestalozzi innerlich völlig mit Goethe ausgesöhnt. Seitdem versucht er bei verschiednen Anlässen, den Weimarer Dichter für seine pädagogischen und literarischen Unternehmungen zu interessieren. Er hätte sich dabei auf die persönliche Bekanntschaft mit Goethe berufen können. Denn wenn auch der Besuch Pestalozzis, den er Goethe im Jahre 1775 in Frankfurt abgestattet haben soll, ins Bereich der Fabel gehört, ebenso wie die angebliche Reise Pestalozzis nach Sachsen im Jahre 1786, so ist doch aus einer Äußerung Goethes zu Theodor Schacht aus dem Jahre 1810 klar, daß er Pestalozzi persönlich gekannt hat; viel¬ leicht hatte ihn dieser 1792 in Weimar besucht. Trotzdem schreibt Pestalozzi am 16. Februar 1803 aus Burgdorf an Goethe wie an einen Fremden: „Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit." Es kaun also kein intimerer Verkehr zwischen den beiden Männern stattgefunden haben. Es ist, als ob Goethe schon aus der Ferne oder gleich bei der ersten persönlichen Berührung die starke Wesensverschiedenheit empfunden hätte, die ihn von dem Schweizer trennte. Deshalb fand auch Pestalozzis in dem oben angeführten Brief ausgesprochuc Bitte, Goethe solle den Pränumerationsplan auf die Elementarmittel der neuen Unterrichtsmethode begünstigen, nur ein schwaches Echo. Er ließ, anstatt selbst genauer zu prüfen, den Schriftsteller Johann Gottlob Spazier um eine zu¬ sammenhängende Reihe von Besprechungen der Schriften Pestalozzis ersuchen, die dann im Frühjahr in der Jenaischen Literaturzeitung abgedruckt wurde. Als aber Eichstädt Goethes eignes Urteil über die Spazierschen Rezensionen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/570>, abgerufen am 22.07.2024.