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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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des Menschengeistes verstehen. "Nur sofern die verschiednen Kulturen etwas
Gemeinschaftliches an sich tragen, werden gleichheitliche Sätze angemessen sein,
und wenn man sich einem Kulturideal zu nähern sucht, so kann man auch
bestimmte Sätze als die diesem Kulturideal entsprechenden Leitsätze aufstellen;
allein stets muß man bedacht sein I^so!), daß das Kulturideal immer nur relativ
ist und eine andre Kultur immer ein ganz andres Idealbild vorstellen wird.
Niemals könnte ein Recht im Banne der Jslamkultur dasselbe sein wie das
Recht der christlichen oder der buddhistischen Welt. Die Scholastiker waren
nun genötigt, gewisse Sätze der christlich-kanonischen Kultur als absolute Sätze
aufzustellen, und wenn sie über die Stränge schlugen, so hatten sie den Kirchen¬
bann zu gewärtigen." Die Verschiedenheit nicht bloß der Kulturideale, sondern
auch der sittlichen Ideale innerhalb eines und desselben, namentlich unsers
reichen europäischen Kulturkreises, betone ich selbst bei jeder Gelegenheit;
ebenso, daß bei weitem nicht alles, was die katholische oder irgendeine andre
Kirche als absolute Norm verkündigt, als solche anerkannt werden darf.
Dennoch hatten die Scholastiker nicht schon darin unrecht, daß sie überhaupt
absolute Normen anerkannten und das christliche Ideal für normativ hielten.
Das leuchtet besonders bei einem Blick auf den von Kohler erwähnten Islam
ein. Gerade dessen Ehegesetzgebung entspricht durchaus der Denkungs- und
Empfindungsweise der Volker, die ihn angenommen haben, und es steht fest,
daß, wie alle Kenner des Orients versichern, die Türken und Araber, die vom
Islam zur europäischen Zivilisation -- zum Christentum kann man nicht gut
sagen, richtiger wäre Parisertum -- abfallen, dadmch in keinem Stücke besser
werden, auch in ihrem Geschlechtsleben nicht, sondern vielmehr schlechter.
Trotzdem: wer von uns wird nicht das europäisch-christliche Eheleben höher
werten als das türkische? Daß gerade das mohammedanische Familienleben,
das die Frauen von der Geistesbildung, von der vollen geistigen Lebens¬
gemeinschaft mit dem Manne und vom öffentlichen Leben ausschließt, hierdurch
diesen Völkern den Aufstieg zur höchsten Kultur unmöglich macht, das wird
doch wohl allgemein anerkannt, und Kohler selbst sagt es an einer spätern
Stelle. Man erinnere sich nur daran, was die Frauen des sächsischen Kaiser¬
hauses für die Verbreitung der Bildung in Deutschland geleistet haben,
während manche von den Männern nicht einmal lesen und schreiben konnten;
so Otto der Große, der erst nach dem Tode seiner ersten Gemahlin lesen lernte.
Man wird also zwar die Verschiedenheit der Kultur- und Rechtsideale aner¬
kennen müssen, auch daß sich nicht jedes für alle eignet, aber man wird auf
die Wertung dieser Ideale nicht verzichten, sondern behaupten dürfen, daß das
christliche (nicht irgendein konfessionelles) das höchste ist. Man wird zugeben
müssen, daß viele Völker ihrer Natur nach außerstande sind, dieses Ideal
zu verwirklichen, und daß man besser daran tut, sie bei ihrer Volksreligion
zu lassen, statt sie zu einem Scheinchristentum zu bekehren, aber man wird
dessenungeachtet das christliche Ideal als normativ anerkennen und das Leben


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des Menschengeistes verstehen. „Nur sofern die verschiednen Kulturen etwas
Gemeinschaftliches an sich tragen, werden gleichheitliche Sätze angemessen sein,
und wenn man sich einem Kulturideal zu nähern sucht, so kann man auch
bestimmte Sätze als die diesem Kulturideal entsprechenden Leitsätze aufstellen;
allein stets muß man bedacht sein I^so!), daß das Kulturideal immer nur relativ
ist und eine andre Kultur immer ein ganz andres Idealbild vorstellen wird.
Niemals könnte ein Recht im Banne der Jslamkultur dasselbe sein wie das
Recht der christlichen oder der buddhistischen Welt. Die Scholastiker waren
nun genötigt, gewisse Sätze der christlich-kanonischen Kultur als absolute Sätze
aufzustellen, und wenn sie über die Stränge schlugen, so hatten sie den Kirchen¬
bann zu gewärtigen." Die Verschiedenheit nicht bloß der Kulturideale, sondern
auch der sittlichen Ideale innerhalb eines und desselben, namentlich unsers
reichen europäischen Kulturkreises, betone ich selbst bei jeder Gelegenheit;
ebenso, daß bei weitem nicht alles, was die katholische oder irgendeine andre
Kirche als absolute Norm verkündigt, als solche anerkannt werden darf.
Dennoch hatten die Scholastiker nicht schon darin unrecht, daß sie überhaupt
absolute Normen anerkannten und das christliche Ideal für normativ hielten.
Das leuchtet besonders bei einem Blick auf den von Kohler erwähnten Islam
ein. Gerade dessen Ehegesetzgebung entspricht durchaus der Denkungs- und
Empfindungsweise der Volker, die ihn angenommen haben, und es steht fest,
daß, wie alle Kenner des Orients versichern, die Türken und Araber, die vom
Islam zur europäischen Zivilisation — zum Christentum kann man nicht gut
sagen, richtiger wäre Parisertum — abfallen, dadmch in keinem Stücke besser
werden, auch in ihrem Geschlechtsleben nicht, sondern vielmehr schlechter.
Trotzdem: wer von uns wird nicht das europäisch-christliche Eheleben höher
werten als das türkische? Daß gerade das mohammedanische Familienleben,
das die Frauen von der Geistesbildung, von der vollen geistigen Lebens¬
gemeinschaft mit dem Manne und vom öffentlichen Leben ausschließt, hierdurch
diesen Völkern den Aufstieg zur höchsten Kultur unmöglich macht, das wird
doch wohl allgemein anerkannt, und Kohler selbst sagt es an einer spätern
Stelle. Man erinnere sich nur daran, was die Frauen des sächsischen Kaiser¬
hauses für die Verbreitung der Bildung in Deutschland geleistet haben,
während manche von den Männern nicht einmal lesen und schreiben konnten;
so Otto der Große, der erst nach dem Tode seiner ersten Gemahlin lesen lernte.
Man wird also zwar die Verschiedenheit der Kultur- und Rechtsideale aner¬
kennen müssen, auch daß sich nicht jedes für alle eignet, aber man wird auf
die Wertung dieser Ideale nicht verzichten, sondern behaupten dürfen, daß das
christliche (nicht irgendein konfessionelles) das höchste ist. Man wird zugeben
müssen, daß viele Völker ihrer Natur nach außerstande sind, dieses Ideal
zu verwirklichen, und daß man besser daran tut, sie bei ihrer Volksreligion
zu lassen, statt sie zu einem Scheinchristentum zu bekehren, aber man wird
dessenungeachtet das christliche Ideal als normativ anerkennen und das Leben


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[0561] Line Rechtsphilosophie des Menschengeistes verstehen. „Nur sofern die verschiednen Kulturen etwas Gemeinschaftliches an sich tragen, werden gleichheitliche Sätze angemessen sein, und wenn man sich einem Kulturideal zu nähern sucht, so kann man auch bestimmte Sätze als die diesem Kulturideal entsprechenden Leitsätze aufstellen; allein stets muß man bedacht sein I^so!), daß das Kulturideal immer nur relativ ist und eine andre Kultur immer ein ganz andres Idealbild vorstellen wird. Niemals könnte ein Recht im Banne der Jslamkultur dasselbe sein wie das Recht der christlichen oder der buddhistischen Welt. Die Scholastiker waren nun genötigt, gewisse Sätze der christlich-kanonischen Kultur als absolute Sätze aufzustellen, und wenn sie über die Stränge schlugen, so hatten sie den Kirchen¬ bann zu gewärtigen." Die Verschiedenheit nicht bloß der Kulturideale, sondern auch der sittlichen Ideale innerhalb eines und desselben, namentlich unsers reichen europäischen Kulturkreises, betone ich selbst bei jeder Gelegenheit; ebenso, daß bei weitem nicht alles, was die katholische oder irgendeine andre Kirche als absolute Norm verkündigt, als solche anerkannt werden darf. Dennoch hatten die Scholastiker nicht schon darin unrecht, daß sie überhaupt absolute Normen anerkannten und das christliche Ideal für normativ hielten. Das leuchtet besonders bei einem Blick auf den von Kohler erwähnten Islam ein. Gerade dessen Ehegesetzgebung entspricht durchaus der Denkungs- und Empfindungsweise der Volker, die ihn angenommen haben, und es steht fest, daß, wie alle Kenner des Orients versichern, die Türken und Araber, die vom Islam zur europäischen Zivilisation — zum Christentum kann man nicht gut sagen, richtiger wäre Parisertum — abfallen, dadmch in keinem Stücke besser werden, auch in ihrem Geschlechtsleben nicht, sondern vielmehr schlechter. Trotzdem: wer von uns wird nicht das europäisch-christliche Eheleben höher werten als das türkische? Daß gerade das mohammedanische Familienleben, das die Frauen von der Geistesbildung, von der vollen geistigen Lebens¬ gemeinschaft mit dem Manne und vom öffentlichen Leben ausschließt, hierdurch diesen Völkern den Aufstieg zur höchsten Kultur unmöglich macht, das wird doch wohl allgemein anerkannt, und Kohler selbst sagt es an einer spätern Stelle. Man erinnere sich nur daran, was die Frauen des sächsischen Kaiser¬ hauses für die Verbreitung der Bildung in Deutschland geleistet haben, während manche von den Männern nicht einmal lesen und schreiben konnten; so Otto der Große, der erst nach dem Tode seiner ersten Gemahlin lesen lernte. Man wird also zwar die Verschiedenheit der Kultur- und Rechtsideale aner¬ kennen müssen, auch daß sich nicht jedes für alle eignet, aber man wird auf die Wertung dieser Ideale nicht verzichten, sondern behaupten dürfen, daß das christliche (nicht irgendein konfessionelles) das höchste ist. Man wird zugeben müssen, daß viele Völker ihrer Natur nach außerstande sind, dieses Ideal zu verwirklichen, und daß man besser daran tut, sie bei ihrer Volksreligion zu lassen, statt sie zu einem Scheinchristentum zu bekehren, aber man wird dessenungeachtet das christliche Ideal als normativ anerkennen und das Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/561>, abgerufen am 25.08.2024.