Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Eine Rechtsphilosophie kennen, bekunden auch auf den niedrigsten Kulturstufen sittliche und Rechts¬ Der Grundgedanke des Naturrechts geht nach Kohler auf Aristoteles Eine Rechtsphilosophie kennen, bekunden auch auf den niedrigsten Kulturstufen sittliche und Rechts¬ Der Grundgedanke des Naturrechts geht nach Kohler auf Aristoteles <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0560" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314263"/> <fw type="header" place="top"> Eine Rechtsphilosophie</fw><lb/> <p xml:id="ID_2892" prev="#ID_2891"> kennen, bekunden auch auf den niedrigsten Kulturstufen sittliche und Rechts¬<lb/> gefühle; diese dürfen wir demnach als unter allen Umständen vorhanden und<lb/> im Wesen unveränderlich, wenn auch unendlicher Modifizierung und Ver¬<lb/> feinerung fähig ansehen, und diese wird nun allerdings dnrch den Kultur¬<lb/> fortschritt bewirkt, aber nicht bloß im guten, sondern auch im schlimmen Sinne,<lb/> sodnß die vom Kulturfortschritt bewirkte Modifikation der sittlichen Anlage nicht<lb/> einfach Fortschritt, sondern Schwingen um einen normalen Gleichgewichtszustand<lb/> mit stetig wachsender Amplitude ist; was übrigens auch von der intellektuellen<lb/> Anlage gilt; denn der primitive Mensch vermag sich weder zu der Weisheit<lb/> und den technischen Leistungen noch zu den Verrücktheiten des modernen<lb/> Menschen emporzuschwingen. Dasselbe Schauspiel zeigt uns die fortschreitende<lb/> Differenzierung der Vermögen und der Glücksgefühle. Darin allerdings hat<lb/> die scholastische Philosophie gefehlt, daß sie die Bedeutung des Kulturfortschritts<lb/> nicht erkannt und noch weniger als etwas sehr Wichtiges hervorgehoben hat.<lb/> Indes dieser Fehler war verzeihlich. Wir Heutigen sehen den Kulturfortschritt,<lb/> weil der stürmische Fortschritt der Technik in unsrer Zeit das Äußere der Welt<lb/> vor unsern Augen, nicht bloß im Zeitraum eines Menschenalters, sondern in<lb/> Zeiträumen von zehn, von fünf Jahren verändert, sodaß der Denker geradezu<lb/> gezwungen wird, zu fragen, was diese gewaltigen Umwälzungen für das Wohl,<lb/> für das Seelenleben, für die Bestimmung des Menschen bedeuten. Bis zum<lb/> Jahre 1300 ungefähr, noch mehr vor der allgemeinen Anwendung des Buch¬<lb/> drucks und des Schießpulvers, bewegte sich die Kultur so langsam vorwärts,<lb/> daß die meisten Menschen eine auffällige Veränderung der Außenwelt und der<lb/> Lebensweise nicht bemerkten und den Kulturzustcind für etwas Beharrendes<lb/> hielten, das immer so gewesen sei und immer so bleiben werde. Sie richteten<lb/> darum ihr Augenmerk nur auf den Fortschritt, den auf ihrer gegenwärtigen,<lb/> für unveränderlich angesehenen Kulturstufe die einzelne Seele in der Erkenntnis<lb/> und Sittlichkeit zu machen befähigt und verpflichtet sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_2893" next="#ID_2894"> Der Grundgedanke des Naturrechts geht nach Kohler auf Aristoteles<lb/> zurück, der auf richtiger Fährte gewesen sei. „Er nahm an, daß, wenn das<lb/> Recht auch stündiger Änderung fähig sei, es doch ein einheitliches Machtbe¬<lb/> streben, eine innere Gewalt in sich trage, die uns zum Heile zu lenken sucht."<lb/> Da das Kohler „richtige Fährte" nennt, scheint er doch etwas Ursprüngliches<lb/> und Unveränderliches im sittlichen und Rechtsleben anzuerkennen und nur die<lb/> doktrinären Auswüchse des Naturrechts wie die rousseauischen zu verwerfen-<lb/> Daß alles positive Recht geworden und veränderlich ist, ja fortwährend ge¬<lb/> ändert werden muß, versteht sich vou selbst. Die scholastischen Schüler des<lb/> Aristoteles dann hätten nur teilweise richtige Lösungen finden können, weil<lb/> sie, an der unbedingten Geltung der Bibel und der Glaubenssätze haftend,<lb/> den Kulturfortschritt nicht unbefangen betrachten konnten. Sie konnten zum<lb/> Beispiel die verschiednen Religionen und Sittenlehren nicht als Produkte ver-<lb/> schiedner Kulturstufen (und Nassen), demnach als relativ berechtigte Äußerungen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0560]
Eine Rechtsphilosophie
kennen, bekunden auch auf den niedrigsten Kulturstufen sittliche und Rechts¬
gefühle; diese dürfen wir demnach als unter allen Umständen vorhanden und
im Wesen unveränderlich, wenn auch unendlicher Modifizierung und Ver¬
feinerung fähig ansehen, und diese wird nun allerdings dnrch den Kultur¬
fortschritt bewirkt, aber nicht bloß im guten, sondern auch im schlimmen Sinne,
sodnß die vom Kulturfortschritt bewirkte Modifikation der sittlichen Anlage nicht
einfach Fortschritt, sondern Schwingen um einen normalen Gleichgewichtszustand
mit stetig wachsender Amplitude ist; was übrigens auch von der intellektuellen
Anlage gilt; denn der primitive Mensch vermag sich weder zu der Weisheit
und den technischen Leistungen noch zu den Verrücktheiten des modernen
Menschen emporzuschwingen. Dasselbe Schauspiel zeigt uns die fortschreitende
Differenzierung der Vermögen und der Glücksgefühle. Darin allerdings hat
die scholastische Philosophie gefehlt, daß sie die Bedeutung des Kulturfortschritts
nicht erkannt und noch weniger als etwas sehr Wichtiges hervorgehoben hat.
Indes dieser Fehler war verzeihlich. Wir Heutigen sehen den Kulturfortschritt,
weil der stürmische Fortschritt der Technik in unsrer Zeit das Äußere der Welt
vor unsern Augen, nicht bloß im Zeitraum eines Menschenalters, sondern in
Zeiträumen von zehn, von fünf Jahren verändert, sodaß der Denker geradezu
gezwungen wird, zu fragen, was diese gewaltigen Umwälzungen für das Wohl,
für das Seelenleben, für die Bestimmung des Menschen bedeuten. Bis zum
Jahre 1300 ungefähr, noch mehr vor der allgemeinen Anwendung des Buch¬
drucks und des Schießpulvers, bewegte sich die Kultur so langsam vorwärts,
daß die meisten Menschen eine auffällige Veränderung der Außenwelt und der
Lebensweise nicht bemerkten und den Kulturzustcind für etwas Beharrendes
hielten, das immer so gewesen sei und immer so bleiben werde. Sie richteten
darum ihr Augenmerk nur auf den Fortschritt, den auf ihrer gegenwärtigen,
für unveränderlich angesehenen Kulturstufe die einzelne Seele in der Erkenntnis
und Sittlichkeit zu machen befähigt und verpflichtet sei.
Der Grundgedanke des Naturrechts geht nach Kohler auf Aristoteles
zurück, der auf richtiger Fährte gewesen sei. „Er nahm an, daß, wenn das
Recht auch stündiger Änderung fähig sei, es doch ein einheitliches Machtbe¬
streben, eine innere Gewalt in sich trage, die uns zum Heile zu lenken sucht."
Da das Kohler „richtige Fährte" nennt, scheint er doch etwas Ursprüngliches
und Unveränderliches im sittlichen und Rechtsleben anzuerkennen und nur die
doktrinären Auswüchse des Naturrechts wie die rousseauischen zu verwerfen-
Daß alles positive Recht geworden und veränderlich ist, ja fortwährend ge¬
ändert werden muß, versteht sich vou selbst. Die scholastischen Schüler des
Aristoteles dann hätten nur teilweise richtige Lösungen finden können, weil
sie, an der unbedingten Geltung der Bibel und der Glaubenssätze haftend,
den Kulturfortschritt nicht unbefangen betrachten konnten. Sie konnten zum
Beispiel die verschiednen Religionen und Sittenlehren nicht als Produkte ver-
schiedner Kulturstufen (und Nassen), demnach als relativ berechtigte Äußerungen
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