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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Meine Jugend und die Religion

für die Blumen, indem ich die Öffnung im Boden mit einer Fingerspitze zuhielt.
Mein jüngrer Bruder und ein Vetter halfen mir manchmal Wasser tragen, und
eifrig wandelten wir Choephoren mit den Scherben zwischen dem entlegnen Brunnen
und dem Grabe hin und her. So wurde mir der Friedhof traulich, und das
Grab der Mutter war mein Grund und Boden, in dessen Pflege ich gesünder und
stärker wurde und der Natur wieder näher kam, der mich meine Krankheit und
meine Menschenscheu entfremdet hatten. '

Eine Traueresche breitete von einem alten Nachbargrabe freundlich ihre Zweige
über das Grab meiner Mutter. In den Zweigen dieses Baumes herrschte im
Winter buntes Leben. Hier sammelten sich meine Kostgänger, vom Zaunkönig bis
zum Raben alles, was im Bereiche meines kleinen so teuer erkauften Lehens
hungerte und fror. Ich wunderte mich, wie bunt unsre Vögel sind. Es hatte sich
allerdings die Zeit hindurch, als ich der Natur ganz entfremdet war, immer eine
Erinnerung an bunte Vögel, die ich irgend einmal in meiner Kindheit im Freien
gesehen hatte, in mir erhalten. Nun wurde diese Erinnerung bestätigt. Ich ge¬
wann Reichtümer wieder, die ich in meinen ersten Lebensjahren besessen und dann
verloren hatte. Wie bunt der Buchfink war, wie märchenhaft bunt die Blaumeise
und der Distelfink! Meine kleinen Gäste wurden vertraut mit mir. Sie fraßen
mir aus der Hand. Eine kleine Sumpfmeise war am kecksten, sie umkrallte fest
meinen Finger und biß andre weg, die durch sie ermutigt auch herankamen. Ein
Fink traute sich nur auf meine Fußspitze. Ich nannte die lieben Gäste, als ich sie
alle mit Hilfe einer kleinen Naturgeschichte bestimmt hatte, mit den indianischen
Namen, die ich aus Longfellows Sang von Hiawatha kannte: Kahgahgee, Owaissa,
Opechce. Denn Nordamerika und sein UrVolk hatten ihre Macht über mich noch
nicht verloren. ,

Von meinem kleinen, ernsten Garten ging ich dann an die Arbeit ums Brot.
Oft kam ich erst spät von der letzten Privatstunde heim, und in den letzten Gymnasial¬
jahren mußte ich fast täglich weit über Mitternacht hinaus arbeiten. Ich sah daher
nicht gerade jugendfrisch aus, obwohl ich mich frischer und glücklicher fühlte als seit
langer Zeit. Mein Aussehen erregte das Mißtrauen einzelner Lehrer, und ich
fühlte mich auch durch das Bewußtsein gedrückt, daß ich fast täglich die Polizei¬
stunde überschritt. Ich arbeitete daher mit verdoppeltem Eifer, damit ich mir
keine Blöße gab. , ^ : . "

Die Religionsstnnde gab mir noch weniger als früher, aber sie belud mich
auch nicht mehr. Eichendorff, Lenau, Scheffel und Schubert gaben mit Gebete.
Eichendorffs Verse

[Beginn Spaltensatz] Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land. ' . .[Spaltenumbruch] Das Herz mir im Leibe entbrennte.
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte '
In der prächtigen Sommernacht! ' - - -[Ende Spaltensatz]

und Lenens wehmütiges Lied von der Maiennacht machten mir das Herz weit, wenn
ich sie spät in der Nacht nach der Arbeit an meinem Feiermorgen mit brennenden
Augen las. Im Frieden des Gärtchens, das mir meine tote Mutter schenkte,
wachten, wenn kein Schritt mehr zwischen den Gräbern klang, Scheffels Verse in
Miriauf: -,., .>',".^ .^,"^ ^i^,. v,-,^,^'^ ^ .^

[Beginn Spaltensatz] Schweigsam treibt mein morscher Einbaum;
Klar und ruhig wogt der See;
Purpurwarme Abendschatten
Färben der Gebirge Schnee. [Spaltenumbruch] Eines Eilands Klosterhallen ,
Dämmern aus der Flut empor;
Münsterglocken hör' ich schallen
Und der Schwestern frommen Chor: '[Ende Spaltensatz]

Meine Jugend und die Religion

für die Blumen, indem ich die Öffnung im Boden mit einer Fingerspitze zuhielt.
Mein jüngrer Bruder und ein Vetter halfen mir manchmal Wasser tragen, und
eifrig wandelten wir Choephoren mit den Scherben zwischen dem entlegnen Brunnen
und dem Grabe hin und her. So wurde mir der Friedhof traulich, und das
Grab der Mutter war mein Grund und Boden, in dessen Pflege ich gesünder und
stärker wurde und der Natur wieder näher kam, der mich meine Krankheit und
meine Menschenscheu entfremdet hatten. '

Eine Traueresche breitete von einem alten Nachbargrabe freundlich ihre Zweige
über das Grab meiner Mutter. In den Zweigen dieses Baumes herrschte im
Winter buntes Leben. Hier sammelten sich meine Kostgänger, vom Zaunkönig bis
zum Raben alles, was im Bereiche meines kleinen so teuer erkauften Lehens
hungerte und fror. Ich wunderte mich, wie bunt unsre Vögel sind. Es hatte sich
allerdings die Zeit hindurch, als ich der Natur ganz entfremdet war, immer eine
Erinnerung an bunte Vögel, die ich irgend einmal in meiner Kindheit im Freien
gesehen hatte, in mir erhalten. Nun wurde diese Erinnerung bestätigt. Ich ge¬
wann Reichtümer wieder, die ich in meinen ersten Lebensjahren besessen und dann
verloren hatte. Wie bunt der Buchfink war, wie märchenhaft bunt die Blaumeise
und der Distelfink! Meine kleinen Gäste wurden vertraut mit mir. Sie fraßen
mir aus der Hand. Eine kleine Sumpfmeise war am kecksten, sie umkrallte fest
meinen Finger und biß andre weg, die durch sie ermutigt auch herankamen. Ein
Fink traute sich nur auf meine Fußspitze. Ich nannte die lieben Gäste, als ich sie
alle mit Hilfe einer kleinen Naturgeschichte bestimmt hatte, mit den indianischen
Namen, die ich aus Longfellows Sang von Hiawatha kannte: Kahgahgee, Owaissa,
Opechce. Denn Nordamerika und sein UrVolk hatten ihre Macht über mich noch
nicht verloren. ,

Von meinem kleinen, ernsten Garten ging ich dann an die Arbeit ums Brot.
Oft kam ich erst spät von der letzten Privatstunde heim, und in den letzten Gymnasial¬
jahren mußte ich fast täglich weit über Mitternacht hinaus arbeiten. Ich sah daher
nicht gerade jugendfrisch aus, obwohl ich mich frischer und glücklicher fühlte als seit
langer Zeit. Mein Aussehen erregte das Mißtrauen einzelner Lehrer, und ich
fühlte mich auch durch das Bewußtsein gedrückt, daß ich fast täglich die Polizei¬
stunde überschritt. Ich arbeitete daher mit verdoppeltem Eifer, damit ich mir
keine Blöße gab. , ^ : . „

Die Religionsstnnde gab mir noch weniger als früher, aber sie belud mich
auch nicht mehr. Eichendorff, Lenau, Scheffel und Schubert gaben mit Gebete.
Eichendorffs Verse

[Beginn Spaltensatz] Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land. ' . .[Spaltenumbruch] Das Herz mir im Leibe entbrennte.
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte '
In der prächtigen Sommernacht! ' - - -[Ende Spaltensatz]

und Lenens wehmütiges Lied von der Maiennacht machten mir das Herz weit, wenn
ich sie spät in der Nacht nach der Arbeit an meinem Feiermorgen mit brennenden
Augen las. Im Frieden des Gärtchens, das mir meine tote Mutter schenkte,
wachten, wenn kein Schritt mehr zwischen den Gräbern klang, Scheffels Verse in
Miriauf: -,., .>',„.^ .^,„^ ^i^,. v,-,^,^'^ ^ .^

[Beginn Spaltensatz] Schweigsam treibt mein morscher Einbaum;
Klar und ruhig wogt der See;
Purpurwarme Abendschatten
Färben der Gebirge Schnee. [Spaltenumbruch] Eines Eilands Klosterhallen ,
Dämmern aus der Flut empor;
Münsterglocken hör' ich schallen
Und der Schwestern frommen Chor: '[Ende Spaltensatz]

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[0525] Meine Jugend und die Religion für die Blumen, indem ich die Öffnung im Boden mit einer Fingerspitze zuhielt. Mein jüngrer Bruder und ein Vetter halfen mir manchmal Wasser tragen, und eifrig wandelten wir Choephoren mit den Scherben zwischen dem entlegnen Brunnen und dem Grabe hin und her. So wurde mir der Friedhof traulich, und das Grab der Mutter war mein Grund und Boden, in dessen Pflege ich gesünder und stärker wurde und der Natur wieder näher kam, der mich meine Krankheit und meine Menschenscheu entfremdet hatten. ' Eine Traueresche breitete von einem alten Nachbargrabe freundlich ihre Zweige über das Grab meiner Mutter. In den Zweigen dieses Baumes herrschte im Winter buntes Leben. Hier sammelten sich meine Kostgänger, vom Zaunkönig bis zum Raben alles, was im Bereiche meines kleinen so teuer erkauften Lehens hungerte und fror. Ich wunderte mich, wie bunt unsre Vögel sind. Es hatte sich allerdings die Zeit hindurch, als ich der Natur ganz entfremdet war, immer eine Erinnerung an bunte Vögel, die ich irgend einmal in meiner Kindheit im Freien gesehen hatte, in mir erhalten. Nun wurde diese Erinnerung bestätigt. Ich ge¬ wann Reichtümer wieder, die ich in meinen ersten Lebensjahren besessen und dann verloren hatte. Wie bunt der Buchfink war, wie märchenhaft bunt die Blaumeise und der Distelfink! Meine kleinen Gäste wurden vertraut mit mir. Sie fraßen mir aus der Hand. Eine kleine Sumpfmeise war am kecksten, sie umkrallte fest meinen Finger und biß andre weg, die durch sie ermutigt auch herankamen. Ein Fink traute sich nur auf meine Fußspitze. Ich nannte die lieben Gäste, als ich sie alle mit Hilfe einer kleinen Naturgeschichte bestimmt hatte, mit den indianischen Namen, die ich aus Longfellows Sang von Hiawatha kannte: Kahgahgee, Owaissa, Opechce. Denn Nordamerika und sein UrVolk hatten ihre Macht über mich noch nicht verloren. , Von meinem kleinen, ernsten Garten ging ich dann an die Arbeit ums Brot. Oft kam ich erst spät von der letzten Privatstunde heim, und in den letzten Gymnasial¬ jahren mußte ich fast täglich weit über Mitternacht hinaus arbeiten. Ich sah daher nicht gerade jugendfrisch aus, obwohl ich mich frischer und glücklicher fühlte als seit langer Zeit. Mein Aussehen erregte das Mißtrauen einzelner Lehrer, und ich fühlte mich auch durch das Bewußtsein gedrückt, daß ich fast täglich die Polizei¬ stunde überschritt. Ich arbeitete daher mit verdoppeltem Eifer, damit ich mir keine Blöße gab. , ^ : . „ Die Religionsstnnde gab mir noch weniger als früher, aber sie belud mich auch nicht mehr. Eichendorff, Lenau, Scheffel und Schubert gaben mit Gebete. Eichendorffs Verse Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. ' . . Das Herz mir im Leibe entbrennte. Da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte ' In der prächtigen Sommernacht! ' - - - und Lenens wehmütiges Lied von der Maiennacht machten mir das Herz weit, wenn ich sie spät in der Nacht nach der Arbeit an meinem Feiermorgen mit brennenden Augen las. Im Frieden des Gärtchens, das mir meine tote Mutter schenkte, wachten, wenn kein Schritt mehr zwischen den Gräbern klang, Scheffels Verse in Miriauf: -,., .>',„.^ .^,„^ ^i^,. v,-,^,^'^ ^ .^ Schweigsam treibt mein morscher Einbaum; Klar und ruhig wogt der See; Purpurwarme Abendschatten Färben der Gebirge Schnee. Eines Eilands Klosterhallen , Dämmern aus der Flut empor; Münsterglocken hör' ich schallen Und der Schwestern frommen Chor: '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/525>, abgerufen am 22.12.2024.