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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die Interessen Deutschlands in der Türkei

Frankreich zählt bei weitem mehr Kirchen, Schulen und Wohltätigkeits¬
anstalten, während England ungefähr ebensoviele wie Deutschland hat. Was die
Verbreitung der Sprachen der genannten drei Länder betrifft, so wird deutsch
und englisch in der Türkei verhältnismäßig wenig, französisch hingegen von
fast allen Gebildeten gesprochen. Die französische Sprache ist bei der Re¬
gierung nach der türkischen offiziell zugelassen und bei sämtlichen Finanz- und
Jndustrieanstalten und Gesellschaften als Dienstsprache üblich.

Bei Zusammenfassung des Vorhergehenden dürfen wir sagen, daß sich
Deutschland, wenn es auch spät in den Wettbewerb mit Frankreich und England
eingetreten ist, einen achtunggebietenden Platz in der Türkei errungen hat.
Das deutsche Volk und die deutsche Regierung haben in gleicher Weise diesen
Erfolg herbeigeführt. In Zukunft ist Deutschland durch die schnelle Volks¬
zunahme -- vor vierzig Jahren zählte es 40, heute über 60 Millionen, und
in der Mitte dieses Jahrhunderts wird es nach menschlicher Boraussicht schon
100 Millionen Menschen zählen -- zu immer ernsteren Wettbewerb mit den
andern Weltmächten gezwungen. Für die jährliche Zunahme von 800000
bis 900000 Deutschen muß es Brot verschaffen, das deutscher Boden ihnen
nicht mehr geben kann. Zu diesem Zweck muß Deutschland die wenigen günstigen
Absatzgebiete auf der Erde, zu denen die Türkei gehört, möglichst zu erhalten
und zu erweitern suchen. Mit der fortschreitenden Erschließung und mit dem
unter der neuen Ära zu erwartenden wirtschaftlichen Aufschwung des Osmcmen-
reichs eröffnet sich ihm dort ein immer größeres Feld der Beendigung. Die
bisherige" Städte und Orte der Türkei werden immer kaufkräftiger werden,
und neue Ansiedlungen werden sich in den fruchtbaren Gebieten Anatoliens
und Mesopotamiens bilden, die durch die große Bagdadbahn und die Kanäle
der "Zweiströme" neu belebt und zur einstigen Blüte wiedererweckt werden.
Die wichtigsten Bedürfnisse Deutschlands: neue Absatzgebiete und neue Roh¬
produktenquellen werden entstehen. Die Voraussetzung hierzu ist die friedliche
Entwicklung und die politische Erstarkung der Türkei. Infolgedessen hat
Deutschland seine politischen Kräfte nach dieser Richtung einzusetzen. Die
Türkei andrerseits bedarf bei ihrem Regenerationsprozeß der politischen Hilfe
des mächtigen Deutschen Reichs. Sie kann sie um so unbesorgter annehmen,
als die realen Interessen Deutschlands und der Türkei zusammengehn und bei
der geographischen Lage beider Staaten nicht zu befürchten ist, daß territoriale
Aspirationen die Freundschaft trüben könnten.




Die Interessen Deutschlands in der Türkei

Frankreich zählt bei weitem mehr Kirchen, Schulen und Wohltätigkeits¬
anstalten, während England ungefähr ebensoviele wie Deutschland hat. Was die
Verbreitung der Sprachen der genannten drei Länder betrifft, so wird deutsch
und englisch in der Türkei verhältnismäßig wenig, französisch hingegen von
fast allen Gebildeten gesprochen. Die französische Sprache ist bei der Re¬
gierung nach der türkischen offiziell zugelassen und bei sämtlichen Finanz- und
Jndustrieanstalten und Gesellschaften als Dienstsprache üblich.

Bei Zusammenfassung des Vorhergehenden dürfen wir sagen, daß sich
Deutschland, wenn es auch spät in den Wettbewerb mit Frankreich und England
eingetreten ist, einen achtunggebietenden Platz in der Türkei errungen hat.
Das deutsche Volk und die deutsche Regierung haben in gleicher Weise diesen
Erfolg herbeigeführt. In Zukunft ist Deutschland durch die schnelle Volks¬
zunahme — vor vierzig Jahren zählte es 40, heute über 60 Millionen, und
in der Mitte dieses Jahrhunderts wird es nach menschlicher Boraussicht schon
100 Millionen Menschen zählen — zu immer ernsteren Wettbewerb mit den
andern Weltmächten gezwungen. Für die jährliche Zunahme von 800000
bis 900000 Deutschen muß es Brot verschaffen, das deutscher Boden ihnen
nicht mehr geben kann. Zu diesem Zweck muß Deutschland die wenigen günstigen
Absatzgebiete auf der Erde, zu denen die Türkei gehört, möglichst zu erhalten
und zu erweitern suchen. Mit der fortschreitenden Erschließung und mit dem
unter der neuen Ära zu erwartenden wirtschaftlichen Aufschwung des Osmcmen-
reichs eröffnet sich ihm dort ein immer größeres Feld der Beendigung. Die
bisherige» Städte und Orte der Türkei werden immer kaufkräftiger werden,
und neue Ansiedlungen werden sich in den fruchtbaren Gebieten Anatoliens
und Mesopotamiens bilden, die durch die große Bagdadbahn und die Kanäle
der „Zweiströme" neu belebt und zur einstigen Blüte wiedererweckt werden.
Die wichtigsten Bedürfnisse Deutschlands: neue Absatzgebiete und neue Roh¬
produktenquellen werden entstehen. Die Voraussetzung hierzu ist die friedliche
Entwicklung und die politische Erstarkung der Türkei. Infolgedessen hat
Deutschland seine politischen Kräfte nach dieser Richtung einzusetzen. Die
Türkei andrerseits bedarf bei ihrem Regenerationsprozeß der politischen Hilfe
des mächtigen Deutschen Reichs. Sie kann sie um so unbesorgter annehmen,
als die realen Interessen Deutschlands und der Türkei zusammengehn und bei
der geographischen Lage beider Staaten nicht zu befürchten ist, daß territoriale
Aspirationen die Freundschaft trüben könnten.




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[0517] Die Interessen Deutschlands in der Türkei Frankreich zählt bei weitem mehr Kirchen, Schulen und Wohltätigkeits¬ anstalten, während England ungefähr ebensoviele wie Deutschland hat. Was die Verbreitung der Sprachen der genannten drei Länder betrifft, so wird deutsch und englisch in der Türkei verhältnismäßig wenig, französisch hingegen von fast allen Gebildeten gesprochen. Die französische Sprache ist bei der Re¬ gierung nach der türkischen offiziell zugelassen und bei sämtlichen Finanz- und Jndustrieanstalten und Gesellschaften als Dienstsprache üblich. Bei Zusammenfassung des Vorhergehenden dürfen wir sagen, daß sich Deutschland, wenn es auch spät in den Wettbewerb mit Frankreich und England eingetreten ist, einen achtunggebietenden Platz in der Türkei errungen hat. Das deutsche Volk und die deutsche Regierung haben in gleicher Weise diesen Erfolg herbeigeführt. In Zukunft ist Deutschland durch die schnelle Volks¬ zunahme — vor vierzig Jahren zählte es 40, heute über 60 Millionen, und in der Mitte dieses Jahrhunderts wird es nach menschlicher Boraussicht schon 100 Millionen Menschen zählen — zu immer ernsteren Wettbewerb mit den andern Weltmächten gezwungen. Für die jährliche Zunahme von 800000 bis 900000 Deutschen muß es Brot verschaffen, das deutscher Boden ihnen nicht mehr geben kann. Zu diesem Zweck muß Deutschland die wenigen günstigen Absatzgebiete auf der Erde, zu denen die Türkei gehört, möglichst zu erhalten und zu erweitern suchen. Mit der fortschreitenden Erschließung und mit dem unter der neuen Ära zu erwartenden wirtschaftlichen Aufschwung des Osmcmen- reichs eröffnet sich ihm dort ein immer größeres Feld der Beendigung. Die bisherige» Städte und Orte der Türkei werden immer kaufkräftiger werden, und neue Ansiedlungen werden sich in den fruchtbaren Gebieten Anatoliens und Mesopotamiens bilden, die durch die große Bagdadbahn und die Kanäle der „Zweiströme" neu belebt und zur einstigen Blüte wiedererweckt werden. Die wichtigsten Bedürfnisse Deutschlands: neue Absatzgebiete und neue Roh¬ produktenquellen werden entstehen. Die Voraussetzung hierzu ist die friedliche Entwicklung und die politische Erstarkung der Türkei. Infolgedessen hat Deutschland seine politischen Kräfte nach dieser Richtung einzusetzen. Die Türkei andrerseits bedarf bei ihrem Regenerationsprozeß der politischen Hilfe des mächtigen Deutschen Reichs. Sie kann sie um so unbesorgter annehmen, als die realen Interessen Deutschlands und der Türkei zusammengehn und bei der geographischen Lage beider Staaten nicht zu befürchten ist, daß territoriale Aspirationen die Freundschaft trüben könnten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/517>, abgerufen am 22.07.2024.