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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die Weltbewegung in England

Heer und Flotte in den besten Händen und zweifelt auch keinen Augenblick
daran, daß der Ruf des Kaisers zum Kampf, wenn es wirklich dazu kommen
müßte, nicht eine Sekunde zu früh oder zu spät ergehn würde. Dann mögen
sie nur kommen, denkt das gesamte Deutschland mit den Worten, die der
Kaiser vor einem Jahre in Döberitz gesagt haben sollte, und die, wenn er sie
wirklich gesprochen hätte, nichts andres als der vollkommne Ausdruck der
Empfindung gewesen wären, die in der Volksseele lebendig ist. Auch einen
Überfall nach Art der Japaner befürchtet im Deutschen Reich kein Mensch, und
im übrigen -- ja, da mögen sie nur kommen!

Aber die Engländer wollen gar nicht kommen, die ganze Flottenpanik in
ihrer Einleitung, Steigerung und allem Zubehör ist wirklich eine innere britische
Frage, deren Ziel auf fernere Zeiten gerichtet ist und mit der augenblicklichen
äußern Lage nicht im geringsten zusammenhängt. Es handelt sich um den
Versuch einer neuen Orientierung des englischen Volks über die Weltlage, der
von den politischen Führern mit weitsichtigen Scharfblick unter berechneter
Rücksichtnahme auf die Eigenart und selbst auf die Vorurteile der Bevölkerung
eingeleitet wurde und fortgesetzt wird, und für den alle ungefährlichen Mittel,
bis zur Suggestion, zur Anwendung kommen. Deutschland hat in den beiden
letzten Jahrzehnten eine Entwicklung ähnlicher Art hinter sich. Aus den Zeiten
Kaiser Wilhelms des Ersten und seines großen Kanzlers hatte sich die Über¬
lieferung eingebürgert, daß Deutschland das mächtigste Reich der Welt und
allen politischen Gefahren gewachsen sei. Das war auch ganz richtig, solange
es allein als Festlandsmacht in Betracht kam, wie es in jenen Zeiten der Fall
war. Die Voraussicht auf die Möglichkeit einer Weltmachtspolitik fehlte trotz
der zögernden Anfänge mit kolonialen Erwerbungen noch oben und unten, die
Flotte wurde nur zur Unterstützung der Landmacht als Küstenverteidigung
gedacht und in diesem Sinne gebaut. Was von deutschen Kriegsschiffen aus
jener Zeit übrig ist oder nach denselben Grundsätzen noch später gebaut
wurde, ist darum für die heutigen Zwecke und Ziele der Reichspolitik so gut
wie wertlos geworden. Denn inzwischen hat sich Deutschland aus sich selbst
heraus zu einer der ersten Handels- und Verkehrsmächte mit ansehnlichem
Kolonialbesitz herausgebildet. In der für den Schutz dieser neuen Interessen
notwendigen Machtentwicklung war es aber zurückgeblieben, und wenn wir auch
nach Bismarcks Ausspruch unsre Kolonien vor den Toren von Metz verteidigen
konnten, so war das nur richtig für den einzigen damals in Betracht kommenden
wirklichen Gegner, galt aber bald nicht mehr für unsern größer gewordnen
Kolonialbesitz und schon gar nicht mehr für unsre über Erwarten angewachsene
Handels- und Verkehrsentwicklung. Dazu war nicht bloß eine Küstenver¬
teidigungsflotte, sondern eine unsern Seeinteressen angemessene Hochseeflotte
nötig. Es braucht hier nicht wiederholt zu werden, daß es das persönliche
Verdienst Kaiser Wilhelms des Zweiten gewesen ist, hierüber Klarheit zu schaffen
und durch Einsetzung seiner Person das deutsche Volk dafür zu erziehen. Es


Die Weltbewegung in England

Heer und Flotte in den besten Händen und zweifelt auch keinen Augenblick
daran, daß der Ruf des Kaisers zum Kampf, wenn es wirklich dazu kommen
müßte, nicht eine Sekunde zu früh oder zu spät ergehn würde. Dann mögen
sie nur kommen, denkt das gesamte Deutschland mit den Worten, die der
Kaiser vor einem Jahre in Döberitz gesagt haben sollte, und die, wenn er sie
wirklich gesprochen hätte, nichts andres als der vollkommne Ausdruck der
Empfindung gewesen wären, die in der Volksseele lebendig ist. Auch einen
Überfall nach Art der Japaner befürchtet im Deutschen Reich kein Mensch, und
im übrigen — ja, da mögen sie nur kommen!

Aber die Engländer wollen gar nicht kommen, die ganze Flottenpanik in
ihrer Einleitung, Steigerung und allem Zubehör ist wirklich eine innere britische
Frage, deren Ziel auf fernere Zeiten gerichtet ist und mit der augenblicklichen
äußern Lage nicht im geringsten zusammenhängt. Es handelt sich um den
Versuch einer neuen Orientierung des englischen Volks über die Weltlage, der
von den politischen Führern mit weitsichtigen Scharfblick unter berechneter
Rücksichtnahme auf die Eigenart und selbst auf die Vorurteile der Bevölkerung
eingeleitet wurde und fortgesetzt wird, und für den alle ungefährlichen Mittel,
bis zur Suggestion, zur Anwendung kommen. Deutschland hat in den beiden
letzten Jahrzehnten eine Entwicklung ähnlicher Art hinter sich. Aus den Zeiten
Kaiser Wilhelms des Ersten und seines großen Kanzlers hatte sich die Über¬
lieferung eingebürgert, daß Deutschland das mächtigste Reich der Welt und
allen politischen Gefahren gewachsen sei. Das war auch ganz richtig, solange
es allein als Festlandsmacht in Betracht kam, wie es in jenen Zeiten der Fall
war. Die Voraussicht auf die Möglichkeit einer Weltmachtspolitik fehlte trotz
der zögernden Anfänge mit kolonialen Erwerbungen noch oben und unten, die
Flotte wurde nur zur Unterstützung der Landmacht als Küstenverteidigung
gedacht und in diesem Sinne gebaut. Was von deutschen Kriegsschiffen aus
jener Zeit übrig ist oder nach denselben Grundsätzen noch später gebaut
wurde, ist darum für die heutigen Zwecke und Ziele der Reichspolitik so gut
wie wertlos geworden. Denn inzwischen hat sich Deutschland aus sich selbst
heraus zu einer der ersten Handels- und Verkehrsmächte mit ansehnlichem
Kolonialbesitz herausgebildet. In der für den Schutz dieser neuen Interessen
notwendigen Machtentwicklung war es aber zurückgeblieben, und wenn wir auch
nach Bismarcks Ausspruch unsre Kolonien vor den Toren von Metz verteidigen
konnten, so war das nur richtig für den einzigen damals in Betracht kommenden
wirklichen Gegner, galt aber bald nicht mehr für unsern größer gewordnen
Kolonialbesitz und schon gar nicht mehr für unsre über Erwarten angewachsene
Handels- und Verkehrsentwicklung. Dazu war nicht bloß eine Küstenver¬
teidigungsflotte, sondern eine unsern Seeinteressen angemessene Hochseeflotte
nötig. Es braucht hier nicht wiederholt zu werden, daß es das persönliche
Verdienst Kaiser Wilhelms des Zweiten gewesen ist, hierüber Klarheit zu schaffen
und durch Einsetzung seiner Person das deutsche Volk dafür zu erziehen. Es


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[0496] Die Weltbewegung in England Heer und Flotte in den besten Händen und zweifelt auch keinen Augenblick daran, daß der Ruf des Kaisers zum Kampf, wenn es wirklich dazu kommen müßte, nicht eine Sekunde zu früh oder zu spät ergehn würde. Dann mögen sie nur kommen, denkt das gesamte Deutschland mit den Worten, die der Kaiser vor einem Jahre in Döberitz gesagt haben sollte, und die, wenn er sie wirklich gesprochen hätte, nichts andres als der vollkommne Ausdruck der Empfindung gewesen wären, die in der Volksseele lebendig ist. Auch einen Überfall nach Art der Japaner befürchtet im Deutschen Reich kein Mensch, und im übrigen — ja, da mögen sie nur kommen! Aber die Engländer wollen gar nicht kommen, die ganze Flottenpanik in ihrer Einleitung, Steigerung und allem Zubehör ist wirklich eine innere britische Frage, deren Ziel auf fernere Zeiten gerichtet ist und mit der augenblicklichen äußern Lage nicht im geringsten zusammenhängt. Es handelt sich um den Versuch einer neuen Orientierung des englischen Volks über die Weltlage, der von den politischen Führern mit weitsichtigen Scharfblick unter berechneter Rücksichtnahme auf die Eigenart und selbst auf die Vorurteile der Bevölkerung eingeleitet wurde und fortgesetzt wird, und für den alle ungefährlichen Mittel, bis zur Suggestion, zur Anwendung kommen. Deutschland hat in den beiden letzten Jahrzehnten eine Entwicklung ähnlicher Art hinter sich. Aus den Zeiten Kaiser Wilhelms des Ersten und seines großen Kanzlers hatte sich die Über¬ lieferung eingebürgert, daß Deutschland das mächtigste Reich der Welt und allen politischen Gefahren gewachsen sei. Das war auch ganz richtig, solange es allein als Festlandsmacht in Betracht kam, wie es in jenen Zeiten der Fall war. Die Voraussicht auf die Möglichkeit einer Weltmachtspolitik fehlte trotz der zögernden Anfänge mit kolonialen Erwerbungen noch oben und unten, die Flotte wurde nur zur Unterstützung der Landmacht als Küstenverteidigung gedacht und in diesem Sinne gebaut. Was von deutschen Kriegsschiffen aus jener Zeit übrig ist oder nach denselben Grundsätzen noch später gebaut wurde, ist darum für die heutigen Zwecke und Ziele der Reichspolitik so gut wie wertlos geworden. Denn inzwischen hat sich Deutschland aus sich selbst heraus zu einer der ersten Handels- und Verkehrsmächte mit ansehnlichem Kolonialbesitz herausgebildet. In der für den Schutz dieser neuen Interessen notwendigen Machtentwicklung war es aber zurückgeblieben, und wenn wir auch nach Bismarcks Ausspruch unsre Kolonien vor den Toren von Metz verteidigen konnten, so war das nur richtig für den einzigen damals in Betracht kommenden wirklichen Gegner, galt aber bald nicht mehr für unsern größer gewordnen Kolonialbesitz und schon gar nicht mehr für unsre über Erwarten angewachsene Handels- und Verkehrsentwicklung. Dazu war nicht bloß eine Küstenver¬ teidigungsflotte, sondern eine unsern Seeinteressen angemessene Hochseeflotte nötig. Es braucht hier nicht wiederholt zu werden, daß es das persönliche Verdienst Kaiser Wilhelms des Zweiten gewesen ist, hierüber Klarheit zu schaffen und durch Einsetzung seiner Person das deutsche Volk dafür zu erziehen. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/496>, abgerufen am 22.07.2024.