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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

in demselben Atemzüge festgestellt und weiter gefordert werden, wo die stärkste
Parteiagitation unter dem Hinweis auf den ungeheuern Druck der neuen Steuern
entfaltet wird. Es liegt sogar der Plan vor, die Beiträge zur Parteikasse ganz
nach Art einer Einkommensteuer abzustufen. Wenn man sich davon eine Wirkung
verspricht -- und es muß doch wohl in der sozialdemokratischen Partei eine ganze
Anzahl von Leuten geben, die das tun --, so kann die Lage der deutschen Arbeiter¬
klasse auch durch die neuen Steuern nicht so beklagenswert geworden sein, wie das
von der äußersten Linken behauptet wird. Schon das Auftauchen dieses Vorschlags
zeigt in Verbindung mit manchen andern Erscheinungen, daß im Gegenteil auch die
sozialdemokratischen Parteieinrichtungen immer mehr kapitalistischen Charakter an¬
nehmen. Sie leben sich, wie es scheint, mit Behagen in diese kapitalistischen Formen
ein, und wenn sie auch dazwischen immer wieder versichern, sie täten das nur not¬
gedrungen, im Zukunftsstaate werde das alles ganz anders werden, so steht doch
die Leichtigkeit, mit der sich der Sozialismus in seiner praktischen Beleidigung der
verpöntem Formen bedient, in seltsamem Widerspruch zu dem fanatischen Haß, mit
dem die bestehende Gesellschaftsordnung um eben dieser Formen willen bekämpft
wird. Es kommt noch hinzu, daß in den Fällen, wo die Sozialdemokratie mit
ihren kapitalistischen Versuchen üble Erfahrungen gemacht hat, dies niemals auf den
Widerspruch zwischen sozialistischer Theorie und sozialistischer Praxis zurückzuführen
ist -- dieser Widerspruch geniert praktische Leute sehr wenig! --, sondern ans das
Vorhandensein räudiger Schäflein in der sozialdemokratischen Herde. Tatsächlich
haut also die Sozialdemokratie ihre Macht und ihre Erfolge mit den Mitteln der¬
selben Staatsordnung auf, die sie bekämpft. Es wäre gut, wenn auch die bürger¬
lichen Parteien daraus lernen wollten, daß Logik und Ehrlichkeit im Kampf um
die politischen Überzeugungen zwar gewiß wichtig und schätzenswert sind, daß aber
mehr als das rein verstandesmäßige Rechtsbewußtsein dnrch Idealismus und Disziplin
erreicht wird.

Aus den Ziffern des sozialdemokratischen Parteiberichts können wir also die
beruhigende Überzeugung gewinnen, daß die neuen Steuern unser Volk zunächst
nicht ruinieren werden. Damit ist auch für die bürgerlichen Parteien freilich die
Pflicht nicht aufgehoben, über die Wirkung dieser Steuern Erfahrungen zu sammeln,
ihre Mängel und ihre Vorzüge vorurteilsfrei abzuwägen und, wo es notwendig ist.
die Unterlagen für ihre zweckmäßigere Gestaltung vorzubereiten. Vorläufig erscheint
diese Prüfung noch durch die Erregung der letzten parlamentarischen Kämpfe be¬
einträchtigt. Sie sollte aber, unbeschadet dieser Auseinandersetzungen, wenigstens
nicht so weit unterlassen oder zurückgedrängt werden, daß über den parteipolitischer
Gesichtspunkten die sachlichen Momente in Vergessenheit geraten. Bei der Frage
der Abwälzung der neuen Verbrauchssteuern auf die Konsumenten sind alle Parteien
gleichmäßig interessiert, und es hat mit dem Parteistreit nichts zu tun und steht
mit der theoretischen Billigung oder Mißbilligung der nun Gesetz gewordnen
neuen Steuern in keinem Zusammenhange, wenn die Ansprüche der Produzenten
die Last dieser neuen Steuern über das notwendige Maß hinaus erhöhen. Hier
können die gegenseitigen Beschuldigungen der Parteien nur die Wirkung haben, die
Aufmerksamkeit der Konsumenten von dem gemeinsamen Interesse an der Abwehr
unnötiger Belastungen abzulenken, und das ist ihr eigner Schaden.

Trotz allen Zeitungspolemiken herrscht auf dem Gebiete der innern Politik
noch vollständige Stille. Auch in der auswärtigen Politik hat die letzte Woche für
Deutschlands Stellung und Interessen nichts wesentlich Neues gebracht, obwohl sie
keineswegs arm an Ereignissen war. Im Orient ist es nach wie vor das Bestreben
der deutschen Politik, genau die Grenzen innezuhalten, die uns dnrch unsre eignen
Interessen gezogen sind. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit und ist doch in
der Praxis nicht immer so einfach durchzuführen, wie es auf den ersten Blick scheint,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

in demselben Atemzüge festgestellt und weiter gefordert werden, wo die stärkste
Parteiagitation unter dem Hinweis auf den ungeheuern Druck der neuen Steuern
entfaltet wird. Es liegt sogar der Plan vor, die Beiträge zur Parteikasse ganz
nach Art einer Einkommensteuer abzustufen. Wenn man sich davon eine Wirkung
verspricht — und es muß doch wohl in der sozialdemokratischen Partei eine ganze
Anzahl von Leuten geben, die das tun —, so kann die Lage der deutschen Arbeiter¬
klasse auch durch die neuen Steuern nicht so beklagenswert geworden sein, wie das
von der äußersten Linken behauptet wird. Schon das Auftauchen dieses Vorschlags
zeigt in Verbindung mit manchen andern Erscheinungen, daß im Gegenteil auch die
sozialdemokratischen Parteieinrichtungen immer mehr kapitalistischen Charakter an¬
nehmen. Sie leben sich, wie es scheint, mit Behagen in diese kapitalistischen Formen
ein, und wenn sie auch dazwischen immer wieder versichern, sie täten das nur not¬
gedrungen, im Zukunftsstaate werde das alles ganz anders werden, so steht doch
die Leichtigkeit, mit der sich der Sozialismus in seiner praktischen Beleidigung der
verpöntem Formen bedient, in seltsamem Widerspruch zu dem fanatischen Haß, mit
dem die bestehende Gesellschaftsordnung um eben dieser Formen willen bekämpft
wird. Es kommt noch hinzu, daß in den Fällen, wo die Sozialdemokratie mit
ihren kapitalistischen Versuchen üble Erfahrungen gemacht hat, dies niemals auf den
Widerspruch zwischen sozialistischer Theorie und sozialistischer Praxis zurückzuführen
ist — dieser Widerspruch geniert praktische Leute sehr wenig! —, sondern ans das
Vorhandensein räudiger Schäflein in der sozialdemokratischen Herde. Tatsächlich
haut also die Sozialdemokratie ihre Macht und ihre Erfolge mit den Mitteln der¬
selben Staatsordnung auf, die sie bekämpft. Es wäre gut, wenn auch die bürger¬
lichen Parteien daraus lernen wollten, daß Logik und Ehrlichkeit im Kampf um
die politischen Überzeugungen zwar gewiß wichtig und schätzenswert sind, daß aber
mehr als das rein verstandesmäßige Rechtsbewußtsein dnrch Idealismus und Disziplin
erreicht wird.

Aus den Ziffern des sozialdemokratischen Parteiberichts können wir also die
beruhigende Überzeugung gewinnen, daß die neuen Steuern unser Volk zunächst
nicht ruinieren werden. Damit ist auch für die bürgerlichen Parteien freilich die
Pflicht nicht aufgehoben, über die Wirkung dieser Steuern Erfahrungen zu sammeln,
ihre Mängel und ihre Vorzüge vorurteilsfrei abzuwägen und, wo es notwendig ist.
die Unterlagen für ihre zweckmäßigere Gestaltung vorzubereiten. Vorläufig erscheint
diese Prüfung noch durch die Erregung der letzten parlamentarischen Kämpfe be¬
einträchtigt. Sie sollte aber, unbeschadet dieser Auseinandersetzungen, wenigstens
nicht so weit unterlassen oder zurückgedrängt werden, daß über den parteipolitischer
Gesichtspunkten die sachlichen Momente in Vergessenheit geraten. Bei der Frage
der Abwälzung der neuen Verbrauchssteuern auf die Konsumenten sind alle Parteien
gleichmäßig interessiert, und es hat mit dem Parteistreit nichts zu tun und steht
mit der theoretischen Billigung oder Mißbilligung der nun Gesetz gewordnen
neuen Steuern in keinem Zusammenhange, wenn die Ansprüche der Produzenten
die Last dieser neuen Steuern über das notwendige Maß hinaus erhöhen. Hier
können die gegenseitigen Beschuldigungen der Parteien nur die Wirkung haben, die
Aufmerksamkeit der Konsumenten von dem gemeinsamen Interesse an der Abwehr
unnötiger Belastungen abzulenken, und das ist ihr eigner Schaden.

Trotz allen Zeitungspolemiken herrscht auf dem Gebiete der innern Politik
noch vollständige Stille. Auch in der auswärtigen Politik hat die letzte Woche für
Deutschlands Stellung und Interessen nichts wesentlich Neues gebracht, obwohl sie
keineswegs arm an Ereignissen war. Im Orient ist es nach wie vor das Bestreben
der deutschen Politik, genau die Grenzen innezuhalten, die uns dnrch unsre eignen
Interessen gezogen sind. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit und ist doch in
der Praxis nicht immer so einfach durchzuführen, wie es auf den ersten Blick scheint,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/492>, abgerufen am 22.12.2024.