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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Fränkisch - schwäbische Greilzwanderungen

Erkertürmchen steht, daß sich vor ihm die Stadtmauer, die zerbröckelnde, in
einem Bogen senkt und hebt, der die breiten Fachwerkhäuser des Spitals recht
heraustreten läßt, daß grünes Laubwerk hinter der Mauer hervorquillt, daß
diese durch Türmchen unterbrochen wird! Die Absätze in der Mauerhöhe, das
Gewimmel der Giebeldächer, die gerade am Ende, das Bild wuchtiger machend,
lang und hoch sind, sich nach der Mitte hin zu einem kleinen Giebelvolk
kinderhaft Schäre", weiter links unmittelbar der Mauer aufgewachsen sind, das
tiefer stehende Kobolzellcr Tor, das die schräge Verbindung und dem Tale
herstellt, die hängenden Zweige der großen Bäume, die das Ganze einfassen:
wie schön ist das alles!

Je länger ich die Türme betrachte, desto mehr werden sie nur zu leben¬
digen Gesellen, verschieden wie die Menschen, die sie gebaut haben, nud doch
wie sie eines Geistes. Es liegt etwas prächtig Deutsches und zugleich ele¬
mentar Künstlerisches in dieser freien Individualität. Das empfand ich schon
in Nürnberg lebhaft und finde nnn hier das gleiche. Da sind schlanke und
dicke, runde und viereckige Türme, stumpf- und spitzdachige, gegliederte und
ungegliederte Türme mit Glockentürmchen, andre mit Erkerchen, wieder andre
ohne solchen Zierat. Es ist eine natürliche und unspiclerische Verschmelzung
des ernsten Zweckes mit der Schönheit.

Ich bin nicht der einzige, der hier mit seinen Sinnen genießt. Unter den
alten Linden spielt eine Musikkapelle. Sie lockt den Fremdenschwarm herbei,
den die Mauern in dieser Nacht umschlossen hatten. Früher pilgerten heun-
kehrende Romfahrer nach Rothenburg. heilige Reliquien zu verehren. Heute
machen im Sommer nord- und mitteldeutsche Alpcufcchrer auf der Heimreise
gern den kleinen Abstecher. Es ist auch ein Reliquienkultus, und kein schlechterer.
Auch Amerikaner und Engländer fehlen nicht. Das junge eingeborne Mädchenvolk
stellt sich ein. Es plaudert und lacht um mich herum, und die weißen Sommer¬
kleider verdecken mir, vorbcitünzelnd, alle Augenblicke bald dieses bald jenes
Mauerstück. Mir tut es wohl. Denn so holdgesinnt diese Stelle der Ein¬
samkeit ist, auch der Gegensatz von Ruhe und Leben, von Gegenwart und
Vergangenheit, von Alter und Jugend wirkt schön. Bald löst sich der
Gegensatz meinem Sinn auf. Ich sehe dasselbe Leben mit seiner Lust an
Form und Farbe, das auch jene Tore und Giebel gebildet hat, und es kommt, von
den Mnsikklüngen getragen, ein Hauch der Meistersingerstimmung über mich.

Auf der andern Seite des Vurggartcns sehe ich ins Tal nach Dettwang
hinunter, oben erblicke ich, am Rande einer Bucht sich lagernd, einen andern
Teil der Stadt, aus dem sich die beiden ungleichen, kurzen und durchbrochnen
Helme der Jakobskirche emporstrecken. Das sind gute rcichsstüdtische Wahr¬
zeichen. Stolz und fein künden sie von weitem schon Reichtum und Eigenart.
Meine Gedanken gehn zu der schönen Kirchengotik dieses schwäbisch-fränkischen
Grenzstreifens, die ich in den letzten Tagen sah. Ich empfinde, mich an Nörd-
lingen und Dinkelsbühl erinnernd, dankbar die schöne Steigerung meiner
Wandereindrücke. Die Gedanken gehn zu andern einstigen Reichsstädten und
Reichsstadtresten und ziehen Vergleiche. Nürnberg ist stolzer und viel kunst¬
reicher, aber nicht mehr einheitlich, Dinkelsbühl ist ländlicher, einfacher, Alt¬
frankfurt düsterer. ^ ^

Nothcnburgs Beziehungen zu Franken und Schwaben müssen einst, da die
Landschaft noch nicht abseits lag. lebhaft genug gewesen sein. Alte Straßen
führen auf der jenseitigen Hochfläche über die nahe Grenze ins Schwäbische,
andre ostwärts, sich vom Tal entfernend, tiefer nach Mittelfranken hinein.


Grenzboten IIl 1909 Ki
Fränkisch - schwäbische Greilzwanderungen

Erkertürmchen steht, daß sich vor ihm die Stadtmauer, die zerbröckelnde, in
einem Bogen senkt und hebt, der die breiten Fachwerkhäuser des Spitals recht
heraustreten läßt, daß grünes Laubwerk hinter der Mauer hervorquillt, daß
diese durch Türmchen unterbrochen wird! Die Absätze in der Mauerhöhe, das
Gewimmel der Giebeldächer, die gerade am Ende, das Bild wuchtiger machend,
lang und hoch sind, sich nach der Mitte hin zu einem kleinen Giebelvolk
kinderhaft Schäre», weiter links unmittelbar der Mauer aufgewachsen sind, das
tiefer stehende Kobolzellcr Tor, das die schräge Verbindung und dem Tale
herstellt, die hängenden Zweige der großen Bäume, die das Ganze einfassen:
wie schön ist das alles!

Je länger ich die Türme betrachte, desto mehr werden sie nur zu leben¬
digen Gesellen, verschieden wie die Menschen, die sie gebaut haben, nud doch
wie sie eines Geistes. Es liegt etwas prächtig Deutsches und zugleich ele¬
mentar Künstlerisches in dieser freien Individualität. Das empfand ich schon
in Nürnberg lebhaft und finde nnn hier das gleiche. Da sind schlanke und
dicke, runde und viereckige Türme, stumpf- und spitzdachige, gegliederte und
ungegliederte Türme mit Glockentürmchen, andre mit Erkerchen, wieder andre
ohne solchen Zierat. Es ist eine natürliche und unspiclerische Verschmelzung
des ernsten Zweckes mit der Schönheit.

Ich bin nicht der einzige, der hier mit seinen Sinnen genießt. Unter den
alten Linden spielt eine Musikkapelle. Sie lockt den Fremdenschwarm herbei,
den die Mauern in dieser Nacht umschlossen hatten. Früher pilgerten heun-
kehrende Romfahrer nach Rothenburg. heilige Reliquien zu verehren. Heute
machen im Sommer nord- und mitteldeutsche Alpcufcchrer auf der Heimreise
gern den kleinen Abstecher. Es ist auch ein Reliquienkultus, und kein schlechterer.
Auch Amerikaner und Engländer fehlen nicht. Das junge eingeborne Mädchenvolk
stellt sich ein. Es plaudert und lacht um mich herum, und die weißen Sommer¬
kleider verdecken mir, vorbcitünzelnd, alle Augenblicke bald dieses bald jenes
Mauerstück. Mir tut es wohl. Denn so holdgesinnt diese Stelle der Ein¬
samkeit ist, auch der Gegensatz von Ruhe und Leben, von Gegenwart und
Vergangenheit, von Alter und Jugend wirkt schön. Bald löst sich der
Gegensatz meinem Sinn auf. Ich sehe dasselbe Leben mit seiner Lust an
Form und Farbe, das auch jene Tore und Giebel gebildet hat, und es kommt, von
den Mnsikklüngen getragen, ein Hauch der Meistersingerstimmung über mich.

Auf der andern Seite des Vurggartcns sehe ich ins Tal nach Dettwang
hinunter, oben erblicke ich, am Rande einer Bucht sich lagernd, einen andern
Teil der Stadt, aus dem sich die beiden ungleichen, kurzen und durchbrochnen
Helme der Jakobskirche emporstrecken. Das sind gute rcichsstüdtische Wahr¬
zeichen. Stolz und fein künden sie von weitem schon Reichtum und Eigenart.
Meine Gedanken gehn zu der schönen Kirchengotik dieses schwäbisch-fränkischen
Grenzstreifens, die ich in den letzten Tagen sah. Ich empfinde, mich an Nörd-
lingen und Dinkelsbühl erinnernd, dankbar die schöne Steigerung meiner
Wandereindrücke. Die Gedanken gehn zu andern einstigen Reichsstädten und
Reichsstadtresten und ziehen Vergleiche. Nürnberg ist stolzer und viel kunst¬
reicher, aber nicht mehr einheitlich, Dinkelsbühl ist ländlicher, einfacher, Alt¬
frankfurt düsterer. ^ ^

Nothcnburgs Beziehungen zu Franken und Schwaben müssen einst, da die
Landschaft noch nicht abseits lag. lebhaft genug gewesen sein. Alte Straßen
führen auf der jenseitigen Hochfläche über die nahe Grenze ins Schwäbische,
andre ostwärts, sich vom Tal entfernend, tiefer nach Mittelfranken hinein.


Grenzboten IIl 1909 Ki
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[0479] Fränkisch - schwäbische Greilzwanderungen Erkertürmchen steht, daß sich vor ihm die Stadtmauer, die zerbröckelnde, in einem Bogen senkt und hebt, der die breiten Fachwerkhäuser des Spitals recht heraustreten läßt, daß grünes Laubwerk hinter der Mauer hervorquillt, daß diese durch Türmchen unterbrochen wird! Die Absätze in der Mauerhöhe, das Gewimmel der Giebeldächer, die gerade am Ende, das Bild wuchtiger machend, lang und hoch sind, sich nach der Mitte hin zu einem kleinen Giebelvolk kinderhaft Schäre», weiter links unmittelbar der Mauer aufgewachsen sind, das tiefer stehende Kobolzellcr Tor, das die schräge Verbindung und dem Tale herstellt, die hängenden Zweige der großen Bäume, die das Ganze einfassen: wie schön ist das alles! Je länger ich die Türme betrachte, desto mehr werden sie nur zu leben¬ digen Gesellen, verschieden wie die Menschen, die sie gebaut haben, nud doch wie sie eines Geistes. Es liegt etwas prächtig Deutsches und zugleich ele¬ mentar Künstlerisches in dieser freien Individualität. Das empfand ich schon in Nürnberg lebhaft und finde nnn hier das gleiche. Da sind schlanke und dicke, runde und viereckige Türme, stumpf- und spitzdachige, gegliederte und ungegliederte Türme mit Glockentürmchen, andre mit Erkerchen, wieder andre ohne solchen Zierat. Es ist eine natürliche und unspiclerische Verschmelzung des ernsten Zweckes mit der Schönheit. Ich bin nicht der einzige, der hier mit seinen Sinnen genießt. Unter den alten Linden spielt eine Musikkapelle. Sie lockt den Fremdenschwarm herbei, den die Mauern in dieser Nacht umschlossen hatten. Früher pilgerten heun- kehrende Romfahrer nach Rothenburg. heilige Reliquien zu verehren. Heute machen im Sommer nord- und mitteldeutsche Alpcufcchrer auf der Heimreise gern den kleinen Abstecher. Es ist auch ein Reliquienkultus, und kein schlechterer. Auch Amerikaner und Engländer fehlen nicht. Das junge eingeborne Mädchenvolk stellt sich ein. Es plaudert und lacht um mich herum, und die weißen Sommer¬ kleider verdecken mir, vorbcitünzelnd, alle Augenblicke bald dieses bald jenes Mauerstück. Mir tut es wohl. Denn so holdgesinnt diese Stelle der Ein¬ samkeit ist, auch der Gegensatz von Ruhe und Leben, von Gegenwart und Vergangenheit, von Alter und Jugend wirkt schön. Bald löst sich der Gegensatz meinem Sinn auf. Ich sehe dasselbe Leben mit seiner Lust an Form und Farbe, das auch jene Tore und Giebel gebildet hat, und es kommt, von den Mnsikklüngen getragen, ein Hauch der Meistersingerstimmung über mich. Auf der andern Seite des Vurggartcns sehe ich ins Tal nach Dettwang hinunter, oben erblicke ich, am Rande einer Bucht sich lagernd, einen andern Teil der Stadt, aus dem sich die beiden ungleichen, kurzen und durchbrochnen Helme der Jakobskirche emporstrecken. Das sind gute rcichsstüdtische Wahr¬ zeichen. Stolz und fein künden sie von weitem schon Reichtum und Eigenart. Meine Gedanken gehn zu der schönen Kirchengotik dieses schwäbisch-fränkischen Grenzstreifens, die ich in den letzten Tagen sah. Ich empfinde, mich an Nörd- lingen und Dinkelsbühl erinnernd, dankbar die schöne Steigerung meiner Wandereindrücke. Die Gedanken gehn zu andern einstigen Reichsstädten und Reichsstadtresten und ziehen Vergleiche. Nürnberg ist stolzer und viel kunst¬ reicher, aber nicht mehr einheitlich, Dinkelsbühl ist ländlicher, einfacher, Alt¬ frankfurt düsterer. ^ ^ Nothcnburgs Beziehungen zu Franken und Schwaben müssen einst, da die Landschaft noch nicht abseits lag. lebhaft genug gewesen sein. Alte Straßen führen auf der jenseitigen Hochfläche über die nahe Grenze ins Schwäbische, andre ostwärts, sich vom Tal entfernend, tiefer nach Mittelfranken hinein. Grenzboten IIl 1909 Ki

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/479>, abgerufen am 22.12.2024.