Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Lin philosophischer Roman Ein unscheinbares Vorkommnis lenkte unsers Helden Betrachtung auf eine Eine Phantasieschöpfung, aber keine willkürliche; nicht wenige edle Heiden Lin philosophischer Roman Ein unscheinbares Vorkommnis lenkte unsers Helden Betrachtung auf eine Eine Phantasieschöpfung, aber keine willkürliche; nicht wenige edle Heiden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0468" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314171"/> <fw type="header" place="top"> Lin philosophischer Roman</fw><lb/> <p xml:id="ID_2228"> Ein unscheinbares Vorkommnis lenkte unsers Helden Betrachtung auf eine<lb/> Seite des Daseins, aus der das Christentum vielleicht den größten Teil seiner<lb/> Kraft über die Gemüter schöpft. Er sah, wie ein edles Rennpferd, das eine<lb/> schwere Verletzung erlitten hatte, zum Schlachten geführt wurde. Das Roß<lb/> warf den Vorübergehenden „solche Blicke wahnsinnigen Flehens" zu, daß es<lb/> ihm als ein Symbol der leidenden Menschheit erschien, deren Jammerbilder<lb/> nun vor seinem geistigen Auge vorüberzogen. In solcher Stimmung mit Cornelius<lb/> reisend, wird er samt einer Anzahl von Christen der durch Pest und Erdbeben<lb/> aufgeregten abergläubischen Bevölkerung verdächtig. Sie werden verhaftet,<lb/> Marius aber besticht die Wächter; anstatt jedoch selbst zu fliehen, veranlaßt er<lb/> den Cornelius, die Gelegenheit zu benutzen, mit dem Vorgeben, der Freund<lb/> werde besser, als er es selbst könnte, seine Verteidigung vorbereiten; in Wirk¬<lb/> lichkeit wünscht er, daß Cornelius unbedingt gerettet und Cäcilias Gatte werde.<lb/> Dabei ist er keineswegs von Märtyrergesinnung erfüllt, sondern, wie er nach¬<lb/> träglich seine Lage überdenkt und was ihm möglicherweise bevorsteht, ganz<lb/> trostlos. Er wird mit den übrigen nach Rom transportiert, erkrankt unterwegs,<lb/> und die Soldaten lassen ihn in einem Bauernhause zurück, wo er nach längerm<lb/> Delirieren stirbt. Zuletzt noch einmal zum Bewußtsein erwacht, hört er die Leute,<lb/> die ihn gepflegt haben, beten: ^bi, ^ol! anlag. Ob.ristig.na, merkt, wie man<lb/> ihm das mystische Brot auf die Lippe legt und die Gliedmaßen salbt. Betend<lb/> haben dann dieselben Leute seinen Leichnam begraben, und zwar „mit Freuden,<lb/> denn sie hielten ja, nach ihrer großherzigen Ansicht in diesen Dingen, seinen<lb/> Tod für ein Martyrium, für eine Art Sakrament mit vollkommner Sünden¬<lb/> vergebung".</p><lb/> <p xml:id="ID_2229" next="#ID_2230"> Eine Phantasieschöpfung, aber keine willkürliche; nicht wenige edle Heiden<lb/> mögen auf ähnlichen Wegen wie dieser Marius in die Kirche gelangt sein; und<lb/> auch das wird sich öfter ereignet haben — die Märtyrerlegenden erzählen<lb/> dergleichen—, daß einer, sei es als Märtyrer, sei es eines natürlichen Todes<lb/> starb, bevor er das Ziel ganz erreicht hatte. Unsre Zeit wird oft mit der<lb/> römischen Kaiserzeit verglichen. In zwei Stücken ist sie ihr in der Tat ähnlich.<lb/> Einmal im Luxus. Dieser ist jedoch eine unvermeidliche Wirkung des Reich¬<lb/> tums, und die Völker müßten sich selbst zu ewiger Armut, das heißt zum<lb/> Verharren auf der untersten Kulturstufe verurteilen, wenn sie von ihm frei<lb/> bleiben sollten. Sodann in dem chaotischen Gewirr religiöser und philosophischer<lb/> Meinungen und dem heftigen Schwanken zwischen Atheismus und theosophischer<lb/> Schwärmerei. In der Hauptsache dagegen, in dem, was den Lebensnerv berührt,<lb/> ist unsre Zeit der untergehenden antiken Welt durchaus unähnlich: die heutige<lb/> Kulturmenschheit zeigt keine hippokratischen Züge in ihrem Antlitz; obwohl<lb/> beinahe achtzehnhundert Jahre älter als das Römervolk zur Zeit der Antonine,<lb/> fühlt sie sich jung. Jenes Volk oder vielmehr Völkergemisch des Römerreichs<lb/> war im biologischen Sinne des Wortes alt, weil in ihm keine Entwicklungs¬<lb/> kräfte mehr tätig waren. Es hatte nichts mehr zu tun, vermochte nichts weiter</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0468]
Lin philosophischer Roman
Ein unscheinbares Vorkommnis lenkte unsers Helden Betrachtung auf eine
Seite des Daseins, aus der das Christentum vielleicht den größten Teil seiner
Kraft über die Gemüter schöpft. Er sah, wie ein edles Rennpferd, das eine
schwere Verletzung erlitten hatte, zum Schlachten geführt wurde. Das Roß
warf den Vorübergehenden „solche Blicke wahnsinnigen Flehens" zu, daß es
ihm als ein Symbol der leidenden Menschheit erschien, deren Jammerbilder
nun vor seinem geistigen Auge vorüberzogen. In solcher Stimmung mit Cornelius
reisend, wird er samt einer Anzahl von Christen der durch Pest und Erdbeben
aufgeregten abergläubischen Bevölkerung verdächtig. Sie werden verhaftet,
Marius aber besticht die Wächter; anstatt jedoch selbst zu fliehen, veranlaßt er
den Cornelius, die Gelegenheit zu benutzen, mit dem Vorgeben, der Freund
werde besser, als er es selbst könnte, seine Verteidigung vorbereiten; in Wirk¬
lichkeit wünscht er, daß Cornelius unbedingt gerettet und Cäcilias Gatte werde.
Dabei ist er keineswegs von Märtyrergesinnung erfüllt, sondern, wie er nach¬
träglich seine Lage überdenkt und was ihm möglicherweise bevorsteht, ganz
trostlos. Er wird mit den übrigen nach Rom transportiert, erkrankt unterwegs,
und die Soldaten lassen ihn in einem Bauernhause zurück, wo er nach längerm
Delirieren stirbt. Zuletzt noch einmal zum Bewußtsein erwacht, hört er die Leute,
die ihn gepflegt haben, beten: ^bi, ^ol! anlag. Ob.ristig.na, merkt, wie man
ihm das mystische Brot auf die Lippe legt und die Gliedmaßen salbt. Betend
haben dann dieselben Leute seinen Leichnam begraben, und zwar „mit Freuden,
denn sie hielten ja, nach ihrer großherzigen Ansicht in diesen Dingen, seinen
Tod für ein Martyrium, für eine Art Sakrament mit vollkommner Sünden¬
vergebung".
Eine Phantasieschöpfung, aber keine willkürliche; nicht wenige edle Heiden
mögen auf ähnlichen Wegen wie dieser Marius in die Kirche gelangt sein; und
auch das wird sich öfter ereignet haben — die Märtyrerlegenden erzählen
dergleichen—, daß einer, sei es als Märtyrer, sei es eines natürlichen Todes
starb, bevor er das Ziel ganz erreicht hatte. Unsre Zeit wird oft mit der
römischen Kaiserzeit verglichen. In zwei Stücken ist sie ihr in der Tat ähnlich.
Einmal im Luxus. Dieser ist jedoch eine unvermeidliche Wirkung des Reich¬
tums, und die Völker müßten sich selbst zu ewiger Armut, das heißt zum
Verharren auf der untersten Kulturstufe verurteilen, wenn sie von ihm frei
bleiben sollten. Sodann in dem chaotischen Gewirr religiöser und philosophischer
Meinungen und dem heftigen Schwanken zwischen Atheismus und theosophischer
Schwärmerei. In der Hauptsache dagegen, in dem, was den Lebensnerv berührt,
ist unsre Zeit der untergehenden antiken Welt durchaus unähnlich: die heutige
Kulturmenschheit zeigt keine hippokratischen Züge in ihrem Antlitz; obwohl
beinahe achtzehnhundert Jahre älter als das Römervolk zur Zeit der Antonine,
fühlt sie sich jung. Jenes Volk oder vielmehr Völkergemisch des Römerreichs
war im biologischen Sinne des Wortes alt, weil in ihm keine Entwicklungs¬
kräfte mehr tätig waren. Es hatte nichts mehr zu tun, vermochte nichts weiter
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