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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

wichtige Ergebnis des Ganzen ist, daß die Streitfrage nun wieder ganz und gar auf
das Gebiet der diplomatischen Verhandlungen zurückgeführt worden ist, und daß es
zu einem Appell an das Schwert wohl kaum kommen wird. Als ein Symptom
dafür verdient auch bemerkt zu werden, daß der türkische Generalissimus, Mahmud
Schefket Pascha, die Einladung Kaiser Wilhelms zu den deutschen großen Herbst¬
manövern angenommen hat.

Wir sind auf die Lage im Orient näher eingegangen, weil diese Vorgänge
geeignet sind, auch auf die politische Gesamtlage ein Licht zu werfen. Offenbar
ungern haben sich die Schutzmächte entschlossen, die Konsequenzen ihres unter andern
Verhältnissen getroffnen Abkommens der Türkei gegenüber zu ziehen. Sie hätten
der Sache lieber die Form gegeben, die am Goldner Horn durch alte Gewohnheit
ihren Stachel verloren hatte, die Form eines Kollektivschritts der Großmächte, wobei
sich die Folgen für die Interessen und Bestrebungen der Einzelmttchte leichter ver¬
wischen lassen. Aber man überzeugte sich, daß Deutschland und Österreich-Ungarn
nicht anzugehn entschlossen waren, weil sie mit Recht ihre Orientinteresscn und
ihr Verhältnis zur neuen Türkei anders beurteilten und sich aus dem Streit um
Kreta rechtzeitig zurückgezogen hatten. So blieb den Schutzmächten nichts andres
übrig, als von ihren Rechten in der Kretafrage Gebrauch zu machen, wenn sie nicht
die wahrscheinlichen Folgen eines neuen Balkankriegs ans sich nehmen wollten, und
in diesen Folgen vermochten sie eben von ihrem Standpunkt aus keine Verbesserung
der Lage zu scheu.

Besonders scheint man in England den Wunsch gehabt zu haben, ans der
unbehaglichen Zuspitzung dieser Unberechenbarketten herauszukommen. Es stellt sich
eben heraus, daß die so viel gepriesene englische Politik, die ja auch einem Teil
unsrer eignen Presse immer als Muster galt, und von der wir, wie es eine Zeit
lang hieß, angeblich immer übertölpelt worden sein sollten, keineswegs überall glücklich
operiert hat. Jetzt ist die englische Diplomatie bemüht, den während der böhmischen
Krisis abgerissenen Draht mit Österreich-Ungarn wieder zusammenzuflicken. Die
Anwesenheit König Eduards in Marienbad und die daran geknüpfte Frage, ob er
auch diesmal wie früher den Kaiser Franz Joseph in Ischl aufsuchen werde, hat
zunächst zu einem freundlichen Telegrammaustausch der beiden Herrscher geführt
und weiter zu eiuer Aussprache der Regierungen. In der letzten Woche hat ein
hochoffiziöser Artikel des Wiener Fremdenblatts, wozu ein Artikel der Times den
Anknüpfungspunkt gegeben hatte, die Aufmerksamkeit der politischen Welt stark in
Anspruch genommen. Mit Befriedigung und unter herzlicher Anerkennung der
"energischen Aufklärungsarbeit des englischen Botschafters Cartwright" nehmen diese
Ausführungen davon Kenntnis, daß die Times nnn die irrigen Auffassungen, die
zur Zeit der Krisis die öffentliche Meinung in England beherrschten, zum großen
Teil offen zugibt, und daß jetzt die frühern herzlichen Beziehungen wiederhergestellt
werden sollen. Freilich wahrt das Wiener Blatt mit Entschiedenheit den österreichischen
Standpunkt und erspart der Times nicht manche bittre Pille, zum Beispiel, wenn
hinsichtlich der Anerkennung der Friedensliebe des Kaisers Franz Joseph bemerkt
wird, es könne das Bedauern nicht unterdrückt werden, "daß die Entdeckung einer
so zweifellos bekannten Tatsache nicht schon früher erfolgte, wo sie die ans Anlaß
der Annexionskrisis aufgetauchten Differenzen wesentlich hätte mildern können". Aber
nicht nur das, auch wegen verschiedner sachlicher Unrichtigkeiten rechnet das Fremden¬
blatt mit der Kollegin aus der Londoner City ab. Nicht das Projekt der San¬
dschakbahn, wie die Times behauptet, hat dem 8ta.w8 quo den ersten Todesstoß versetzt,
sondern die türkische Revolution, und diese hat ihren Anstoß erhalten dnrch die
Revaler Entrcvne. Das ist eine unangenehme Wahrheit für die englische Politik,
aber jetzt haben sich die Verhältnisse so weit geändert, daß sich Österreich-Ungarn,
wie das Fremdenblatt feststellt, in der Sympathie für die neue Türkei wieder auf
einer Linie mit Rußland und England befindet.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

wichtige Ergebnis des Ganzen ist, daß die Streitfrage nun wieder ganz und gar auf
das Gebiet der diplomatischen Verhandlungen zurückgeführt worden ist, und daß es
zu einem Appell an das Schwert wohl kaum kommen wird. Als ein Symptom
dafür verdient auch bemerkt zu werden, daß der türkische Generalissimus, Mahmud
Schefket Pascha, die Einladung Kaiser Wilhelms zu den deutschen großen Herbst¬
manövern angenommen hat.

Wir sind auf die Lage im Orient näher eingegangen, weil diese Vorgänge
geeignet sind, auch auf die politische Gesamtlage ein Licht zu werfen. Offenbar
ungern haben sich die Schutzmächte entschlossen, die Konsequenzen ihres unter andern
Verhältnissen getroffnen Abkommens der Türkei gegenüber zu ziehen. Sie hätten
der Sache lieber die Form gegeben, die am Goldner Horn durch alte Gewohnheit
ihren Stachel verloren hatte, die Form eines Kollektivschritts der Großmächte, wobei
sich die Folgen für die Interessen und Bestrebungen der Einzelmttchte leichter ver¬
wischen lassen. Aber man überzeugte sich, daß Deutschland und Österreich-Ungarn
nicht anzugehn entschlossen waren, weil sie mit Recht ihre Orientinteresscn und
ihr Verhältnis zur neuen Türkei anders beurteilten und sich aus dem Streit um
Kreta rechtzeitig zurückgezogen hatten. So blieb den Schutzmächten nichts andres
übrig, als von ihren Rechten in der Kretafrage Gebrauch zu machen, wenn sie nicht
die wahrscheinlichen Folgen eines neuen Balkankriegs ans sich nehmen wollten, und
in diesen Folgen vermochten sie eben von ihrem Standpunkt aus keine Verbesserung
der Lage zu scheu.

Besonders scheint man in England den Wunsch gehabt zu haben, ans der
unbehaglichen Zuspitzung dieser Unberechenbarketten herauszukommen. Es stellt sich
eben heraus, daß die so viel gepriesene englische Politik, die ja auch einem Teil
unsrer eignen Presse immer als Muster galt, und von der wir, wie es eine Zeit
lang hieß, angeblich immer übertölpelt worden sein sollten, keineswegs überall glücklich
operiert hat. Jetzt ist die englische Diplomatie bemüht, den während der böhmischen
Krisis abgerissenen Draht mit Österreich-Ungarn wieder zusammenzuflicken. Die
Anwesenheit König Eduards in Marienbad und die daran geknüpfte Frage, ob er
auch diesmal wie früher den Kaiser Franz Joseph in Ischl aufsuchen werde, hat
zunächst zu einem freundlichen Telegrammaustausch der beiden Herrscher geführt
und weiter zu eiuer Aussprache der Regierungen. In der letzten Woche hat ein
hochoffiziöser Artikel des Wiener Fremdenblatts, wozu ein Artikel der Times den
Anknüpfungspunkt gegeben hatte, die Aufmerksamkeit der politischen Welt stark in
Anspruch genommen. Mit Befriedigung und unter herzlicher Anerkennung der
„energischen Aufklärungsarbeit des englischen Botschafters Cartwright" nehmen diese
Ausführungen davon Kenntnis, daß die Times nnn die irrigen Auffassungen, die
zur Zeit der Krisis die öffentliche Meinung in England beherrschten, zum großen
Teil offen zugibt, und daß jetzt die frühern herzlichen Beziehungen wiederhergestellt
werden sollen. Freilich wahrt das Wiener Blatt mit Entschiedenheit den österreichischen
Standpunkt und erspart der Times nicht manche bittre Pille, zum Beispiel, wenn
hinsichtlich der Anerkennung der Friedensliebe des Kaisers Franz Joseph bemerkt
wird, es könne das Bedauern nicht unterdrückt werden, „daß die Entdeckung einer
so zweifellos bekannten Tatsache nicht schon früher erfolgte, wo sie die ans Anlaß
der Annexionskrisis aufgetauchten Differenzen wesentlich hätte mildern können". Aber
nicht nur das, auch wegen verschiedner sachlicher Unrichtigkeiten rechnet das Fremden¬
blatt mit der Kollegin aus der Londoner City ab. Nicht das Projekt der San¬
dschakbahn, wie die Times behauptet, hat dem 8ta.w8 quo den ersten Todesstoß versetzt,
sondern die türkische Revolution, und diese hat ihren Anstoß erhalten dnrch die
Revaler Entrcvne. Das ist eine unangenehme Wahrheit für die englische Politik,
aber jetzt haben sich die Verhältnisse so weit geändert, daß sich Österreich-Ungarn,
wie das Fremdenblatt feststellt, in der Sympathie für die neue Türkei wieder auf
einer Linie mit Rußland und England befindet.


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[0440] Maßgebliches und Unmaßgebliches wichtige Ergebnis des Ganzen ist, daß die Streitfrage nun wieder ganz und gar auf das Gebiet der diplomatischen Verhandlungen zurückgeführt worden ist, und daß es zu einem Appell an das Schwert wohl kaum kommen wird. Als ein Symptom dafür verdient auch bemerkt zu werden, daß der türkische Generalissimus, Mahmud Schefket Pascha, die Einladung Kaiser Wilhelms zu den deutschen großen Herbst¬ manövern angenommen hat. Wir sind auf die Lage im Orient näher eingegangen, weil diese Vorgänge geeignet sind, auch auf die politische Gesamtlage ein Licht zu werfen. Offenbar ungern haben sich die Schutzmächte entschlossen, die Konsequenzen ihres unter andern Verhältnissen getroffnen Abkommens der Türkei gegenüber zu ziehen. Sie hätten der Sache lieber die Form gegeben, die am Goldner Horn durch alte Gewohnheit ihren Stachel verloren hatte, die Form eines Kollektivschritts der Großmächte, wobei sich die Folgen für die Interessen und Bestrebungen der Einzelmttchte leichter ver¬ wischen lassen. Aber man überzeugte sich, daß Deutschland und Österreich-Ungarn nicht anzugehn entschlossen waren, weil sie mit Recht ihre Orientinteresscn und ihr Verhältnis zur neuen Türkei anders beurteilten und sich aus dem Streit um Kreta rechtzeitig zurückgezogen hatten. So blieb den Schutzmächten nichts andres übrig, als von ihren Rechten in der Kretafrage Gebrauch zu machen, wenn sie nicht die wahrscheinlichen Folgen eines neuen Balkankriegs ans sich nehmen wollten, und in diesen Folgen vermochten sie eben von ihrem Standpunkt aus keine Verbesserung der Lage zu scheu. Besonders scheint man in England den Wunsch gehabt zu haben, ans der unbehaglichen Zuspitzung dieser Unberechenbarketten herauszukommen. Es stellt sich eben heraus, daß die so viel gepriesene englische Politik, die ja auch einem Teil unsrer eignen Presse immer als Muster galt, und von der wir, wie es eine Zeit lang hieß, angeblich immer übertölpelt worden sein sollten, keineswegs überall glücklich operiert hat. Jetzt ist die englische Diplomatie bemüht, den während der böhmischen Krisis abgerissenen Draht mit Österreich-Ungarn wieder zusammenzuflicken. Die Anwesenheit König Eduards in Marienbad und die daran geknüpfte Frage, ob er auch diesmal wie früher den Kaiser Franz Joseph in Ischl aufsuchen werde, hat zunächst zu einem freundlichen Telegrammaustausch der beiden Herrscher geführt und weiter zu eiuer Aussprache der Regierungen. In der letzten Woche hat ein hochoffiziöser Artikel des Wiener Fremdenblatts, wozu ein Artikel der Times den Anknüpfungspunkt gegeben hatte, die Aufmerksamkeit der politischen Welt stark in Anspruch genommen. Mit Befriedigung und unter herzlicher Anerkennung der „energischen Aufklärungsarbeit des englischen Botschafters Cartwright" nehmen diese Ausführungen davon Kenntnis, daß die Times nnn die irrigen Auffassungen, die zur Zeit der Krisis die öffentliche Meinung in England beherrschten, zum großen Teil offen zugibt, und daß jetzt die frühern herzlichen Beziehungen wiederhergestellt werden sollen. Freilich wahrt das Wiener Blatt mit Entschiedenheit den österreichischen Standpunkt und erspart der Times nicht manche bittre Pille, zum Beispiel, wenn hinsichtlich der Anerkennung der Friedensliebe des Kaisers Franz Joseph bemerkt wird, es könne das Bedauern nicht unterdrückt werden, „daß die Entdeckung einer so zweifellos bekannten Tatsache nicht schon früher erfolgte, wo sie die ans Anlaß der Annexionskrisis aufgetauchten Differenzen wesentlich hätte mildern können". Aber nicht nur das, auch wegen verschiedner sachlicher Unrichtigkeiten rechnet das Fremden¬ blatt mit der Kollegin aus der Londoner City ab. Nicht das Projekt der San¬ dschakbahn, wie die Times behauptet, hat dem 8ta.w8 quo den ersten Todesstoß versetzt, sondern die türkische Revolution, und diese hat ihren Anstoß erhalten dnrch die Revaler Entrcvne. Das ist eine unangenehme Wahrheit für die englische Politik, aber jetzt haben sich die Verhältnisse so weit geändert, daß sich Österreich-Ungarn, wie das Fremdenblatt feststellt, in der Sympathie für die neue Türkei wieder auf einer Linie mit Rußland und England befindet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/440>, abgerufen am 22.12.2024.