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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Umnaßgebliches

gehißt War, und hieb den Flaggenmast um. So war die griechische Flagge be¬
seitigt, ohne daß man diese selbst verletzt oder einer mißachtenden Behandlung aus¬
gesetzt hatte. Nach dieser Maßregel von wahrhaft salomonischen Gepräge konnten
kleine Widerstände im Innern der Insel kaum noch ins Gewicht fallen; es fanden
sich angesehene und besonnene Männer, die vermittelten und die Leidenschaften be--
ruhigem. Denn die Schutzmächte mußten nun auch dem andern Teil ihrer Ver¬
pflichtungen gerecht werden und die Türkei verhindern, selbst in Kreta mit Gewalt¬
maßregeln einzuschreiten oder, statt mit den Schutzmächten, sich mit Griechenland
über Kreta auseinanderzusetzen. Diesem Zweck diente die gemeinsame Note, die in
der vergangnen Woche von den Schntzmächten an die Pforte gerichtet wurde. Der
Wortlaut ist nicht offiziell bekannt gegeben worden; daß die Note wirklich so schroff
gelautet haben sollte, wie von einer ausländischen Stelle aus behauptet wurde, ist
kaum anzunehmen. Richtig aber scheint Wohl zu sein, daß in der Note in sehr
entschiedner Form zum Ausdruck gebracht wurde, in der Frage der kretischen
Autonomie und bei der Abmessung der Rechte der kretischen Bevölkerung, die unter
türkischer Oberhoheit verbleiben müsse, komme Griechenland überhaupt nicht in Be¬
tracht, vielmehr seien die Schutzmächte die Instanz, mit der die Türkei allein zu
verhandeln habe. Einer solchen Stellungnahme der Mächte gegenüber hätte das
Bestreben, die endgiltige Erledigung der kretischen Frage auf dem Wege eines
energisch bis zur letzten Konsequenz durchgeführten Streits mit Griechenland zu
erreichen, für die türkische Politik kaum noch eiuen Sinn, geschweige denn Aussicht
auf den eigentlich gewünschten Erfolg gehabt. Außerdem lag doch die Sache so,
daß sich zwar die vier Mächte scheinbar schützend vor Griechenland stellten, aber
doch nur unter Annahme einer Voraussetzung, die den wesentlichen Forderungen
der Türkei Recht gab. Die Zugehörigkeit Kretas zur Türkei wurde als Grund¬
lage der Verhandlungen anerkannt, Griechenland tatsächlich beiseitegcschobeu. Das
mag für den hellenischen Nationalstolz augenblicklich recht schmerzlich sein, aber man
wird im Lande trotzdem aufatmen. Die bei allen Rodomontaden und bei allem
gelegentlichen leidenschaftlichen Aufbegehren im Grunde friedliche Stimmung des
griechischen Volks entspringt übrigens nicht nur dem unbehaglichen Gefühl, der
Türkei doch wohl militärisch nicht recht gewachsen und auf einen Krieg nicht vor¬
bereitet zu sein, sondern es ist auch wohl uoch eine rubra Erwägung im Spiel.
Wer die Verbreitung und die Bedeutung des Griechentums im Orient kennt, wird
sich leicht überzeugen, daß, ebenso wie einst zwischen diesem Griechentum und
dem alten Sultansstaat natürliche Feindschaft gesetzt war, zwischen diesem selben
Griechentum und einem konstitutionell nach moderne" Grundsätzen regierten Osmnneu-
reich jetzt eine natürliche Interessengemeinschaft besteht. Es ist undenkbar, daß diese
leicht erkennbare Wahrheit einem so intelligenten und bei aller Leidenschaftlichkeit
scharf und genau rechnenden Volke, wie den Griechen entgehn könnte. Tatsächlich
hat Griechland vor dem Akutwerden des Kretnstreits eine Annäherung an die
Türkei gesucht und ist nur durch diesen Streit, an dem sich früher unter ganz
andern Verhältnissen die nationale Leidenschaft zu entzünden Pflegte, und dem darum
immer noch eine gewisse traditionelle Wirkung und Bedeutung eigen ist, in eine
andre Bahn gedrängt worden -- also eigentlich gegen seinen Willen und gegen
seine bessere Einsicht. Um so mehr konnte die türkische Regierung, die doch diese
Lage der Dinge kannte, das Recht und die Logik für sich in Anspruch nehmen,
wenn sie in der kretischen Frage möglichst entschieden auftrat.

Jetzt ist um für die türkische Regierung der Grund weggefallen, die Frage
auch weiter noch schroff zu behandeln. Sie kann sich bei der gegenwärtigen Lage
auch damit zufrieden geben, daß die griechische Regierung die letzte türkische Note
wiederum nicht so präzise beantwortet hat, wie es eigentlich gefordert worden war.
Durch den Schritt der Mächte ist das eben ziemlich bedeutungslos geworden. Das


Maßgebliches und Umnaßgebliches

gehißt War, und hieb den Flaggenmast um. So war die griechische Flagge be¬
seitigt, ohne daß man diese selbst verletzt oder einer mißachtenden Behandlung aus¬
gesetzt hatte. Nach dieser Maßregel von wahrhaft salomonischen Gepräge konnten
kleine Widerstände im Innern der Insel kaum noch ins Gewicht fallen; es fanden
sich angesehene und besonnene Männer, die vermittelten und die Leidenschaften be--
ruhigem. Denn die Schutzmächte mußten nun auch dem andern Teil ihrer Ver¬
pflichtungen gerecht werden und die Türkei verhindern, selbst in Kreta mit Gewalt¬
maßregeln einzuschreiten oder, statt mit den Schutzmächten, sich mit Griechenland
über Kreta auseinanderzusetzen. Diesem Zweck diente die gemeinsame Note, die in
der vergangnen Woche von den Schntzmächten an die Pforte gerichtet wurde. Der
Wortlaut ist nicht offiziell bekannt gegeben worden; daß die Note wirklich so schroff
gelautet haben sollte, wie von einer ausländischen Stelle aus behauptet wurde, ist
kaum anzunehmen. Richtig aber scheint Wohl zu sein, daß in der Note in sehr
entschiedner Form zum Ausdruck gebracht wurde, in der Frage der kretischen
Autonomie und bei der Abmessung der Rechte der kretischen Bevölkerung, die unter
türkischer Oberhoheit verbleiben müsse, komme Griechenland überhaupt nicht in Be¬
tracht, vielmehr seien die Schutzmächte die Instanz, mit der die Türkei allein zu
verhandeln habe. Einer solchen Stellungnahme der Mächte gegenüber hätte das
Bestreben, die endgiltige Erledigung der kretischen Frage auf dem Wege eines
energisch bis zur letzten Konsequenz durchgeführten Streits mit Griechenland zu
erreichen, für die türkische Politik kaum noch eiuen Sinn, geschweige denn Aussicht
auf den eigentlich gewünschten Erfolg gehabt. Außerdem lag doch die Sache so,
daß sich zwar die vier Mächte scheinbar schützend vor Griechenland stellten, aber
doch nur unter Annahme einer Voraussetzung, die den wesentlichen Forderungen
der Türkei Recht gab. Die Zugehörigkeit Kretas zur Türkei wurde als Grund¬
lage der Verhandlungen anerkannt, Griechenland tatsächlich beiseitegcschobeu. Das
mag für den hellenischen Nationalstolz augenblicklich recht schmerzlich sein, aber man
wird im Lande trotzdem aufatmen. Die bei allen Rodomontaden und bei allem
gelegentlichen leidenschaftlichen Aufbegehren im Grunde friedliche Stimmung des
griechischen Volks entspringt übrigens nicht nur dem unbehaglichen Gefühl, der
Türkei doch wohl militärisch nicht recht gewachsen und auf einen Krieg nicht vor¬
bereitet zu sein, sondern es ist auch wohl uoch eine rubra Erwägung im Spiel.
Wer die Verbreitung und die Bedeutung des Griechentums im Orient kennt, wird
sich leicht überzeugen, daß, ebenso wie einst zwischen diesem Griechentum und
dem alten Sultansstaat natürliche Feindschaft gesetzt war, zwischen diesem selben
Griechentum und einem konstitutionell nach moderne» Grundsätzen regierten Osmnneu-
reich jetzt eine natürliche Interessengemeinschaft besteht. Es ist undenkbar, daß diese
leicht erkennbare Wahrheit einem so intelligenten und bei aller Leidenschaftlichkeit
scharf und genau rechnenden Volke, wie den Griechen entgehn könnte. Tatsächlich
hat Griechland vor dem Akutwerden des Kretnstreits eine Annäherung an die
Türkei gesucht und ist nur durch diesen Streit, an dem sich früher unter ganz
andern Verhältnissen die nationale Leidenschaft zu entzünden Pflegte, und dem darum
immer noch eine gewisse traditionelle Wirkung und Bedeutung eigen ist, in eine
andre Bahn gedrängt worden — also eigentlich gegen seinen Willen und gegen
seine bessere Einsicht. Um so mehr konnte die türkische Regierung, die doch diese
Lage der Dinge kannte, das Recht und die Logik für sich in Anspruch nehmen,
wenn sie in der kretischen Frage möglichst entschieden auftrat.

Jetzt ist um für die türkische Regierung der Grund weggefallen, die Frage
auch weiter noch schroff zu behandeln. Sie kann sich bei der gegenwärtigen Lage
auch damit zufrieden geben, daß die griechische Regierung die letzte türkische Note
wiederum nicht so präzise beantwortet hat, wie es eigentlich gefordert worden war.
Durch den Schritt der Mächte ist das eben ziemlich bedeutungslos geworden. Das


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[0439] Maßgebliches und Umnaßgebliches gehißt War, und hieb den Flaggenmast um. So war die griechische Flagge be¬ seitigt, ohne daß man diese selbst verletzt oder einer mißachtenden Behandlung aus¬ gesetzt hatte. Nach dieser Maßregel von wahrhaft salomonischen Gepräge konnten kleine Widerstände im Innern der Insel kaum noch ins Gewicht fallen; es fanden sich angesehene und besonnene Männer, die vermittelten und die Leidenschaften be-- ruhigem. Denn die Schutzmächte mußten nun auch dem andern Teil ihrer Ver¬ pflichtungen gerecht werden und die Türkei verhindern, selbst in Kreta mit Gewalt¬ maßregeln einzuschreiten oder, statt mit den Schutzmächten, sich mit Griechenland über Kreta auseinanderzusetzen. Diesem Zweck diente die gemeinsame Note, die in der vergangnen Woche von den Schntzmächten an die Pforte gerichtet wurde. Der Wortlaut ist nicht offiziell bekannt gegeben worden; daß die Note wirklich so schroff gelautet haben sollte, wie von einer ausländischen Stelle aus behauptet wurde, ist kaum anzunehmen. Richtig aber scheint Wohl zu sein, daß in der Note in sehr entschiedner Form zum Ausdruck gebracht wurde, in der Frage der kretischen Autonomie und bei der Abmessung der Rechte der kretischen Bevölkerung, die unter türkischer Oberhoheit verbleiben müsse, komme Griechenland überhaupt nicht in Be¬ tracht, vielmehr seien die Schutzmächte die Instanz, mit der die Türkei allein zu verhandeln habe. Einer solchen Stellungnahme der Mächte gegenüber hätte das Bestreben, die endgiltige Erledigung der kretischen Frage auf dem Wege eines energisch bis zur letzten Konsequenz durchgeführten Streits mit Griechenland zu erreichen, für die türkische Politik kaum noch eiuen Sinn, geschweige denn Aussicht auf den eigentlich gewünschten Erfolg gehabt. Außerdem lag doch die Sache so, daß sich zwar die vier Mächte scheinbar schützend vor Griechenland stellten, aber doch nur unter Annahme einer Voraussetzung, die den wesentlichen Forderungen der Türkei Recht gab. Die Zugehörigkeit Kretas zur Türkei wurde als Grund¬ lage der Verhandlungen anerkannt, Griechenland tatsächlich beiseitegcschobeu. Das mag für den hellenischen Nationalstolz augenblicklich recht schmerzlich sein, aber man wird im Lande trotzdem aufatmen. Die bei allen Rodomontaden und bei allem gelegentlichen leidenschaftlichen Aufbegehren im Grunde friedliche Stimmung des griechischen Volks entspringt übrigens nicht nur dem unbehaglichen Gefühl, der Türkei doch wohl militärisch nicht recht gewachsen und auf einen Krieg nicht vor¬ bereitet zu sein, sondern es ist auch wohl uoch eine rubra Erwägung im Spiel. Wer die Verbreitung und die Bedeutung des Griechentums im Orient kennt, wird sich leicht überzeugen, daß, ebenso wie einst zwischen diesem Griechentum und dem alten Sultansstaat natürliche Feindschaft gesetzt war, zwischen diesem selben Griechentum und einem konstitutionell nach moderne» Grundsätzen regierten Osmnneu- reich jetzt eine natürliche Interessengemeinschaft besteht. Es ist undenkbar, daß diese leicht erkennbare Wahrheit einem so intelligenten und bei aller Leidenschaftlichkeit scharf und genau rechnenden Volke, wie den Griechen entgehn könnte. Tatsächlich hat Griechland vor dem Akutwerden des Kretnstreits eine Annäherung an die Türkei gesucht und ist nur durch diesen Streit, an dem sich früher unter ganz andern Verhältnissen die nationale Leidenschaft zu entzünden Pflegte, und dem darum immer noch eine gewisse traditionelle Wirkung und Bedeutung eigen ist, in eine andre Bahn gedrängt worden — also eigentlich gegen seinen Willen und gegen seine bessere Einsicht. Um so mehr konnte die türkische Regierung, die doch diese Lage der Dinge kannte, das Recht und die Logik für sich in Anspruch nehmen, wenn sie in der kretischen Frage möglichst entschieden auftrat. Jetzt ist um für die türkische Regierung der Grund weggefallen, die Frage auch weiter noch schroff zu behandeln. Sie kann sich bei der gegenwärtigen Lage auch damit zufrieden geben, daß die griechische Regierung die letzte türkische Note wiederum nicht so präzise beantwortet hat, wie es eigentlich gefordert worden war. Durch den Schritt der Mächte ist das eben ziemlich bedeutungslos geworden. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/439>, abgerufen am 22.12.2024.