Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Johann Friedrich von Schuttes Lebenserinnerungen

ungiltig zu erklären." Mehr als der dritte Teil der Väter wollte von dem Dekret
überhaupt nichts wissen, weil die Kirche schlechterdings nicht das Recht habe, eine
durch freien Konsens geschlossene Ehe zu annullieren. Von den charakteristischen
Äußerungen einzelner Bischöfe, die Schulte mitteilt, seien nur zwei angeführt.
Der von Modena: "Der Staat kann die verbotnen Grade einschränken, folglich
kann es um so mehr auch die Kirche." Dagegen der von Lciria: "Der Kontrakt
im allgemeinen untersteht seiner Natur nach dem Staate, weil es dessen Sache
ist, alles zum öffentlichen Wohle erforderliche zu ordnen, folglich auch der
Ehevertrag; denn obwohl dieser Vertrag im christlichen Staate die Natur eines
Sakraments erlangt hat, hat er doch die eines Vertrages nicht verloren." Daß
die weltliche Obrigkeit die Form der Eheschließung bestimmen und ändern und
Ehen annullieren könne, behaupten mehrere.

Einige der Schulteschen Aufsätze sind der Kritik der geistlichen Orden und
ihrer Tätigkeit gewidmet. Die Verdienste der Krankenpflegerorden werden an¬
erkannt, die Aushilfe in der Seelsorge, die Ordensleute leisten, wird für überflüssig,
die Leitung von Schulen durch Mönche und Nonnen für schädlich erklärt, die
vermeintliche Wohlfeilheit des geistlichen Unterrichts rechnerisch widerlegt. Die
biographischen Skizzen sind meist Nekrologe. Falls Verdienste hat Schulte in der
Kölnischen Zeitung bei des Ministers Lebzeiten gefeiert -- am 3. Juli 1879,
als dessen Entlassungsgesuch bekannt wurde. Wir können nicht hoffen, schreibt
Schulte in der Einleitung, "unsre Stimme werde auch nur gehört, geschweige
denn beachtet werden. Sollte aber dennoch unser Wort nicht ohne Eindruck bleiben,
das Volk würde es zu schätzen wissen; verhallt es klanglos, wir erfüllen eine
Pflicht der Gerechtigkeit, indem wir uns zum Organe der Stimmung machen, die
Millionen preußischer und deutscher Bürger in diesen Tagen bewegt." Sehr
interessant ist die Untersuchung "Herkunft und Alter von deutschen Gelehrten aller
Art" auf Grund der "Allgemeinen Deutschen Biographie" bis zum letzten De¬
zember 1899. Es sind nicht eigentlich Gelehrte gemeint, sondern alle Angehörige
der akademisch gebildeten Stände, die in die Deutsche Biographie Aufnahme ge¬
funden haben. Das Hauptergebnis lautet: das evangelische Pfarrhaus steht an
der Spitze, aus ihm ist die bei weitem größte Zahl bedeutender Männer hervor¬
gegangen. An zweiter Stelle steht das Haus des Juristen, dann folgt das des
Arztes, des Philologen, das Schulhaus, die Offizierssamilie. Das Haus des
Schuhflickers hat einen berühmten Sprößling aufzuweisen, Winckelmann, das
Forsthaus zwei, allerdings weniger berühmte: den Germanisten Zacher und den
Juristen und Dichter Schleich. Der Adel wird nicht in den statistischen Teil ein¬
gereiht, sondern es wird von ihm nur gesagt, daß er eine erhebliche Zahl großer
Staatsmänner hervorgebracht habe -- und außerdem die meisten der weniger
großen darf man für Preußen und auch für andre Staaten wohl hinzufügen.
Den Schluß der Sammlung machen Mitteilungen, die Ergänzungen der Lebens¬
erinnerungen im engern Sinne des Worts genannt werden müssen, darunter
Briefe des Großherzogs von Baden an Schulte, Gespräche mit Bismarck über


Johann Friedrich von Schuttes Lebenserinnerungen

ungiltig zu erklären." Mehr als der dritte Teil der Väter wollte von dem Dekret
überhaupt nichts wissen, weil die Kirche schlechterdings nicht das Recht habe, eine
durch freien Konsens geschlossene Ehe zu annullieren. Von den charakteristischen
Äußerungen einzelner Bischöfe, die Schulte mitteilt, seien nur zwei angeführt.
Der von Modena: „Der Staat kann die verbotnen Grade einschränken, folglich
kann es um so mehr auch die Kirche." Dagegen der von Lciria: „Der Kontrakt
im allgemeinen untersteht seiner Natur nach dem Staate, weil es dessen Sache
ist, alles zum öffentlichen Wohle erforderliche zu ordnen, folglich auch der
Ehevertrag; denn obwohl dieser Vertrag im christlichen Staate die Natur eines
Sakraments erlangt hat, hat er doch die eines Vertrages nicht verloren." Daß
die weltliche Obrigkeit die Form der Eheschließung bestimmen und ändern und
Ehen annullieren könne, behaupten mehrere.

Einige der Schulteschen Aufsätze sind der Kritik der geistlichen Orden und
ihrer Tätigkeit gewidmet. Die Verdienste der Krankenpflegerorden werden an¬
erkannt, die Aushilfe in der Seelsorge, die Ordensleute leisten, wird für überflüssig,
die Leitung von Schulen durch Mönche und Nonnen für schädlich erklärt, die
vermeintliche Wohlfeilheit des geistlichen Unterrichts rechnerisch widerlegt. Die
biographischen Skizzen sind meist Nekrologe. Falls Verdienste hat Schulte in der
Kölnischen Zeitung bei des Ministers Lebzeiten gefeiert — am 3. Juli 1879,
als dessen Entlassungsgesuch bekannt wurde. Wir können nicht hoffen, schreibt
Schulte in der Einleitung, „unsre Stimme werde auch nur gehört, geschweige
denn beachtet werden. Sollte aber dennoch unser Wort nicht ohne Eindruck bleiben,
das Volk würde es zu schätzen wissen; verhallt es klanglos, wir erfüllen eine
Pflicht der Gerechtigkeit, indem wir uns zum Organe der Stimmung machen, die
Millionen preußischer und deutscher Bürger in diesen Tagen bewegt." Sehr
interessant ist die Untersuchung „Herkunft und Alter von deutschen Gelehrten aller
Art" auf Grund der „Allgemeinen Deutschen Biographie" bis zum letzten De¬
zember 1899. Es sind nicht eigentlich Gelehrte gemeint, sondern alle Angehörige
der akademisch gebildeten Stände, die in die Deutsche Biographie Aufnahme ge¬
funden haben. Das Hauptergebnis lautet: das evangelische Pfarrhaus steht an
der Spitze, aus ihm ist die bei weitem größte Zahl bedeutender Männer hervor¬
gegangen. An zweiter Stelle steht das Haus des Juristen, dann folgt das des
Arztes, des Philologen, das Schulhaus, die Offizierssamilie. Das Haus des
Schuhflickers hat einen berühmten Sprößling aufzuweisen, Winckelmann, das
Forsthaus zwei, allerdings weniger berühmte: den Germanisten Zacher und den
Juristen und Dichter Schleich. Der Adel wird nicht in den statistischen Teil ein¬
gereiht, sondern es wird von ihm nur gesagt, daß er eine erhebliche Zahl großer
Staatsmänner hervorgebracht habe — und außerdem die meisten der weniger
großen darf man für Preußen und auch für andre Staaten wohl hinzufügen.
Den Schluß der Sammlung machen Mitteilungen, die Ergänzungen der Lebens¬
erinnerungen im engern Sinne des Worts genannt werden müssen, darunter
Briefe des Großherzogs von Baden an Schulte, Gespräche mit Bismarck über


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0422" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314125"/>
          <fw type="header" place="top"> Johann Friedrich von Schuttes Lebenserinnerungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1992" prev="#ID_1991"> ungiltig zu erklären." Mehr als der dritte Teil der Väter wollte von dem Dekret<lb/>
überhaupt nichts wissen, weil die Kirche schlechterdings nicht das Recht habe, eine<lb/>
durch freien Konsens geschlossene Ehe zu annullieren. Von den charakteristischen<lb/>
Äußerungen einzelner Bischöfe, die Schulte mitteilt, seien nur zwei angeführt.<lb/>
Der von Modena: &#x201E;Der Staat kann die verbotnen Grade einschränken, folglich<lb/>
kann es um so mehr auch die Kirche." Dagegen der von Lciria: &#x201E;Der Kontrakt<lb/>
im allgemeinen untersteht seiner Natur nach dem Staate, weil es dessen Sache<lb/>
ist, alles zum öffentlichen Wohle erforderliche zu ordnen, folglich auch der<lb/>
Ehevertrag; denn obwohl dieser Vertrag im christlichen Staate die Natur eines<lb/>
Sakraments erlangt hat, hat er doch die eines Vertrages nicht verloren." Daß<lb/>
die weltliche Obrigkeit die Form der Eheschließung bestimmen und ändern und<lb/>
Ehen annullieren könne, behaupten mehrere.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1993" next="#ID_1994"> Einige der Schulteschen Aufsätze sind der Kritik der geistlichen Orden und<lb/>
ihrer Tätigkeit gewidmet. Die Verdienste der Krankenpflegerorden werden an¬<lb/>
erkannt, die Aushilfe in der Seelsorge, die Ordensleute leisten, wird für überflüssig,<lb/>
die Leitung von Schulen durch Mönche und Nonnen für schädlich erklärt, die<lb/>
vermeintliche Wohlfeilheit des geistlichen Unterrichts rechnerisch widerlegt. Die<lb/>
biographischen Skizzen sind meist Nekrologe. Falls Verdienste hat Schulte in der<lb/>
Kölnischen Zeitung bei des Ministers Lebzeiten gefeiert &#x2014; am 3. Juli 1879,<lb/>
als dessen Entlassungsgesuch bekannt wurde. Wir können nicht hoffen, schreibt<lb/>
Schulte in der Einleitung, &#x201E;unsre Stimme werde auch nur gehört, geschweige<lb/>
denn beachtet werden. Sollte aber dennoch unser Wort nicht ohne Eindruck bleiben,<lb/>
das Volk würde es zu schätzen wissen; verhallt es klanglos, wir erfüllen eine<lb/>
Pflicht der Gerechtigkeit, indem wir uns zum Organe der Stimmung machen, die<lb/>
Millionen preußischer und deutscher Bürger in diesen Tagen bewegt." Sehr<lb/>
interessant ist die Untersuchung &#x201E;Herkunft und Alter von deutschen Gelehrten aller<lb/>
Art" auf Grund der &#x201E;Allgemeinen Deutschen Biographie" bis zum letzten De¬<lb/>
zember 1899. Es sind nicht eigentlich Gelehrte gemeint, sondern alle Angehörige<lb/>
der akademisch gebildeten Stände, die in die Deutsche Biographie Aufnahme ge¬<lb/>
funden haben. Das Hauptergebnis lautet: das evangelische Pfarrhaus steht an<lb/>
der Spitze, aus ihm ist die bei weitem größte Zahl bedeutender Männer hervor¬<lb/>
gegangen. An zweiter Stelle steht das Haus des Juristen, dann folgt das des<lb/>
Arztes, des Philologen, das Schulhaus, die Offizierssamilie. Das Haus des<lb/>
Schuhflickers hat einen berühmten Sprößling aufzuweisen, Winckelmann, das<lb/>
Forsthaus zwei, allerdings weniger berühmte: den Germanisten Zacher und den<lb/>
Juristen und Dichter Schleich. Der Adel wird nicht in den statistischen Teil ein¬<lb/>
gereiht, sondern es wird von ihm nur gesagt, daß er eine erhebliche Zahl großer<lb/>
Staatsmänner hervorgebracht habe &#x2014; und außerdem die meisten der weniger<lb/>
großen darf man für Preußen und auch für andre Staaten wohl hinzufügen.<lb/>
Den Schluß der Sammlung machen Mitteilungen, die Ergänzungen der Lebens¬<lb/>
erinnerungen im engern Sinne des Worts genannt werden müssen, darunter<lb/>
Briefe des Großherzogs von Baden an Schulte, Gespräche mit Bismarck über</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0422] Johann Friedrich von Schuttes Lebenserinnerungen ungiltig zu erklären." Mehr als der dritte Teil der Väter wollte von dem Dekret überhaupt nichts wissen, weil die Kirche schlechterdings nicht das Recht habe, eine durch freien Konsens geschlossene Ehe zu annullieren. Von den charakteristischen Äußerungen einzelner Bischöfe, die Schulte mitteilt, seien nur zwei angeführt. Der von Modena: „Der Staat kann die verbotnen Grade einschränken, folglich kann es um so mehr auch die Kirche." Dagegen der von Lciria: „Der Kontrakt im allgemeinen untersteht seiner Natur nach dem Staate, weil es dessen Sache ist, alles zum öffentlichen Wohle erforderliche zu ordnen, folglich auch der Ehevertrag; denn obwohl dieser Vertrag im christlichen Staate die Natur eines Sakraments erlangt hat, hat er doch die eines Vertrages nicht verloren." Daß die weltliche Obrigkeit die Form der Eheschließung bestimmen und ändern und Ehen annullieren könne, behaupten mehrere. Einige der Schulteschen Aufsätze sind der Kritik der geistlichen Orden und ihrer Tätigkeit gewidmet. Die Verdienste der Krankenpflegerorden werden an¬ erkannt, die Aushilfe in der Seelsorge, die Ordensleute leisten, wird für überflüssig, die Leitung von Schulen durch Mönche und Nonnen für schädlich erklärt, die vermeintliche Wohlfeilheit des geistlichen Unterrichts rechnerisch widerlegt. Die biographischen Skizzen sind meist Nekrologe. Falls Verdienste hat Schulte in der Kölnischen Zeitung bei des Ministers Lebzeiten gefeiert — am 3. Juli 1879, als dessen Entlassungsgesuch bekannt wurde. Wir können nicht hoffen, schreibt Schulte in der Einleitung, „unsre Stimme werde auch nur gehört, geschweige denn beachtet werden. Sollte aber dennoch unser Wort nicht ohne Eindruck bleiben, das Volk würde es zu schätzen wissen; verhallt es klanglos, wir erfüllen eine Pflicht der Gerechtigkeit, indem wir uns zum Organe der Stimmung machen, die Millionen preußischer und deutscher Bürger in diesen Tagen bewegt." Sehr interessant ist die Untersuchung „Herkunft und Alter von deutschen Gelehrten aller Art" auf Grund der „Allgemeinen Deutschen Biographie" bis zum letzten De¬ zember 1899. Es sind nicht eigentlich Gelehrte gemeint, sondern alle Angehörige der akademisch gebildeten Stände, die in die Deutsche Biographie Aufnahme ge¬ funden haben. Das Hauptergebnis lautet: das evangelische Pfarrhaus steht an der Spitze, aus ihm ist die bei weitem größte Zahl bedeutender Männer hervor¬ gegangen. An zweiter Stelle steht das Haus des Juristen, dann folgt das des Arztes, des Philologen, das Schulhaus, die Offizierssamilie. Das Haus des Schuhflickers hat einen berühmten Sprößling aufzuweisen, Winckelmann, das Forsthaus zwei, allerdings weniger berühmte: den Germanisten Zacher und den Juristen und Dichter Schleich. Der Adel wird nicht in den statistischen Teil ein¬ gereiht, sondern es wird von ihm nur gesagt, daß er eine erhebliche Zahl großer Staatsmänner hervorgebracht habe — und außerdem die meisten der weniger großen darf man für Preußen und auch für andre Staaten wohl hinzufügen. Den Schluß der Sammlung machen Mitteilungen, die Ergänzungen der Lebens¬ erinnerungen im engern Sinne des Worts genannt werden müssen, darunter Briefe des Großherzogs von Baden an Schulte, Gespräche mit Bismarck über

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/422
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/422>, abgerufen am 22.07.2024.