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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Fränkisch - schwäbische Grenzwaiiderungen

fliegen auf. Enge Winkel und Höfchen in der Tiefe hängen voll Wäsche.
Keinem andern Mauerwandrer begegne ich. Und mit jeder Krümmung des
ungewohnten Weges wandelt sich der sonderbar schöne Blick ins Stadtinnere,
über die roten Dächer und Türmchen hinweg, um dann wieder auf den Nat-
hausgiebeln und in den durchbrochnen Turmhelmen der Jakobskirche zu rasten
oder in der Bläue des Himmels, die alles mit gelassener, heiterer Ruhe über¬
spannt. Von einigen Stellen erblicke ich drinnen in der Stadt Reste des
ältern, engern Mauerrings mit kunstlosen, aber kaum weniger malerischen
Türmen und Torbogen.

Ich stehe am Eingang zur kleinen Mesnerwohnung und warte auf den
Kirchner. Fliederbüsche und Nosengestrüuch neigen sich über die Stufen. Der
Kirchner kommt mit einem vorzeitlichen, mächtigen Schlüsselreifen, ein alter
Mann, weißhaarig, mit hochgewölbter, schöner Stirn. Ich liebe die gewölbten
Greisenstirnen. Hinter ihnen wohnt Weltweite und Milde und Freudigkeit.
Das Tor der protestantischen, gotischen Jakobskirche öffnet sich knarrend.
Der Eindruck des Innern ist ganz schlicht, aber edel. Erquicklich ist es zu
erleben, mit welcher stolzen Freude, die gar nichts vom Schablonenführer
an sich hat, der alte Mann seine Schätze zeigt, mit bedachter Steigerung: eine
naive Darstellung der Trinität aus dem dreizehnten Jahrhundert, die Chor¬
stühle der ehemaligen Deutschordensherren, die bunten Glasfenster, den Hoch¬
altar Herlins. Dann kommen die Glanzstücke: der Marienaltar und der
Heiligblutaltar Titanen Riemenschneiders, des fränkischen Meisters, mit der
ausdrucksvollen Darstellung des Abendmahls. Indem er von Rothenburgs
einst viel besuchter Reliquie, dem Blutstropfen Christi, spricht, kann sich mein
Führer doch nicht einer spöttelnden Seitenbemerkung über katholischen Kultus
enthalten, und seine Augen blicken offen und fast lustig dabei. In diesem
Augenblick verkörpert sich mir in ihm das protestantische Wesen der Stadt,
abgeklärt und gemildert seit den Tagen der Bilderstürmer.

Durchs Kobolzeller Tor gehe ich auf rasch absteigenden Wege ins Tal.
Ich komme am Kobolzeller Kirchlein vorüber. Ich schreite über die uralte,
mächtige Doppelbrücke, die Flüßchen und Talgrund mit auseinandergesetzten
Bogenmassen überspannt. Sie bringt einen kraftvollen Zug in das enge
Talbild. Ich gehe am linken Tauberufer abwärts, neben mir singendes
Wasser und wipfelbeschattete alte Mühlen, zur Rechten steil auf dem Höhen¬
rand das langgezogne, bunte, formenreiche Bild der Reichsstadt, über stellen
Weinäckern, Obstgärten und Feldern. Die Enge und grüne Verborgenheck
des Tales, die Steile der Uferwand, die Höhe und doch Nähe der Gemäuer,
die klare Buntheit des Einzelnen, die hundertfältig verschiedne Gestalt des
Gewesenen verleihen dem Eindruck ein ganz Ungewohntes. sagenhaftes. Er
ist zugleich ernster, gebieterischer geworden. Klangen mir oben Volkslied und
Idyll. Landsknechtslied und Meistersang an. so denke ich hier an Epos und
Romanze. Ich verstehe besser als vorher den alten Vergleich der Lage und


Fränkisch - schwäbische Grenzwaiiderungen

fliegen auf. Enge Winkel und Höfchen in der Tiefe hängen voll Wäsche.
Keinem andern Mauerwandrer begegne ich. Und mit jeder Krümmung des
ungewohnten Weges wandelt sich der sonderbar schöne Blick ins Stadtinnere,
über die roten Dächer und Türmchen hinweg, um dann wieder auf den Nat-
hausgiebeln und in den durchbrochnen Turmhelmen der Jakobskirche zu rasten
oder in der Bläue des Himmels, die alles mit gelassener, heiterer Ruhe über¬
spannt. Von einigen Stellen erblicke ich drinnen in der Stadt Reste des
ältern, engern Mauerrings mit kunstlosen, aber kaum weniger malerischen
Türmen und Torbogen.

Ich stehe am Eingang zur kleinen Mesnerwohnung und warte auf den
Kirchner. Fliederbüsche und Nosengestrüuch neigen sich über die Stufen. Der
Kirchner kommt mit einem vorzeitlichen, mächtigen Schlüsselreifen, ein alter
Mann, weißhaarig, mit hochgewölbter, schöner Stirn. Ich liebe die gewölbten
Greisenstirnen. Hinter ihnen wohnt Weltweite und Milde und Freudigkeit.
Das Tor der protestantischen, gotischen Jakobskirche öffnet sich knarrend.
Der Eindruck des Innern ist ganz schlicht, aber edel. Erquicklich ist es zu
erleben, mit welcher stolzen Freude, die gar nichts vom Schablonenführer
an sich hat, der alte Mann seine Schätze zeigt, mit bedachter Steigerung: eine
naive Darstellung der Trinität aus dem dreizehnten Jahrhundert, die Chor¬
stühle der ehemaligen Deutschordensherren, die bunten Glasfenster, den Hoch¬
altar Herlins. Dann kommen die Glanzstücke: der Marienaltar und der
Heiligblutaltar Titanen Riemenschneiders, des fränkischen Meisters, mit der
ausdrucksvollen Darstellung des Abendmahls. Indem er von Rothenburgs
einst viel besuchter Reliquie, dem Blutstropfen Christi, spricht, kann sich mein
Führer doch nicht einer spöttelnden Seitenbemerkung über katholischen Kultus
enthalten, und seine Augen blicken offen und fast lustig dabei. In diesem
Augenblick verkörpert sich mir in ihm das protestantische Wesen der Stadt,
abgeklärt und gemildert seit den Tagen der Bilderstürmer.

Durchs Kobolzeller Tor gehe ich auf rasch absteigenden Wege ins Tal.
Ich komme am Kobolzeller Kirchlein vorüber. Ich schreite über die uralte,
mächtige Doppelbrücke, die Flüßchen und Talgrund mit auseinandergesetzten
Bogenmassen überspannt. Sie bringt einen kraftvollen Zug in das enge
Talbild. Ich gehe am linken Tauberufer abwärts, neben mir singendes
Wasser und wipfelbeschattete alte Mühlen, zur Rechten steil auf dem Höhen¬
rand das langgezogne, bunte, formenreiche Bild der Reichsstadt, über stellen
Weinäckern, Obstgärten und Feldern. Die Enge und grüne Verborgenheck
des Tales, die Steile der Uferwand, die Höhe und doch Nähe der Gemäuer,
die klare Buntheit des Einzelnen, die hundertfältig verschiedne Gestalt des
Gewesenen verleihen dem Eindruck ein ganz Ungewohntes. sagenhaftes. Er
ist zugleich ernster, gebieterischer geworden. Klangen mir oben Volkslied und
Idyll. Landsknechtslied und Meistersang an. so denke ich hier an Epos und
Romanze. Ich verstehe besser als vorher den alten Vergleich der Lage und


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[0381] Fränkisch - schwäbische Grenzwaiiderungen fliegen auf. Enge Winkel und Höfchen in der Tiefe hängen voll Wäsche. Keinem andern Mauerwandrer begegne ich. Und mit jeder Krümmung des ungewohnten Weges wandelt sich der sonderbar schöne Blick ins Stadtinnere, über die roten Dächer und Türmchen hinweg, um dann wieder auf den Nat- hausgiebeln und in den durchbrochnen Turmhelmen der Jakobskirche zu rasten oder in der Bläue des Himmels, die alles mit gelassener, heiterer Ruhe über¬ spannt. Von einigen Stellen erblicke ich drinnen in der Stadt Reste des ältern, engern Mauerrings mit kunstlosen, aber kaum weniger malerischen Türmen und Torbogen. Ich stehe am Eingang zur kleinen Mesnerwohnung und warte auf den Kirchner. Fliederbüsche und Nosengestrüuch neigen sich über die Stufen. Der Kirchner kommt mit einem vorzeitlichen, mächtigen Schlüsselreifen, ein alter Mann, weißhaarig, mit hochgewölbter, schöner Stirn. Ich liebe die gewölbten Greisenstirnen. Hinter ihnen wohnt Weltweite und Milde und Freudigkeit. Das Tor der protestantischen, gotischen Jakobskirche öffnet sich knarrend. Der Eindruck des Innern ist ganz schlicht, aber edel. Erquicklich ist es zu erleben, mit welcher stolzen Freude, die gar nichts vom Schablonenführer an sich hat, der alte Mann seine Schätze zeigt, mit bedachter Steigerung: eine naive Darstellung der Trinität aus dem dreizehnten Jahrhundert, die Chor¬ stühle der ehemaligen Deutschordensherren, die bunten Glasfenster, den Hoch¬ altar Herlins. Dann kommen die Glanzstücke: der Marienaltar und der Heiligblutaltar Titanen Riemenschneiders, des fränkischen Meisters, mit der ausdrucksvollen Darstellung des Abendmahls. Indem er von Rothenburgs einst viel besuchter Reliquie, dem Blutstropfen Christi, spricht, kann sich mein Führer doch nicht einer spöttelnden Seitenbemerkung über katholischen Kultus enthalten, und seine Augen blicken offen und fast lustig dabei. In diesem Augenblick verkörpert sich mir in ihm das protestantische Wesen der Stadt, abgeklärt und gemildert seit den Tagen der Bilderstürmer. Durchs Kobolzeller Tor gehe ich auf rasch absteigenden Wege ins Tal. Ich komme am Kobolzeller Kirchlein vorüber. Ich schreite über die uralte, mächtige Doppelbrücke, die Flüßchen und Talgrund mit auseinandergesetzten Bogenmassen überspannt. Sie bringt einen kraftvollen Zug in das enge Talbild. Ich gehe am linken Tauberufer abwärts, neben mir singendes Wasser und wipfelbeschattete alte Mühlen, zur Rechten steil auf dem Höhen¬ rand das langgezogne, bunte, formenreiche Bild der Reichsstadt, über stellen Weinäckern, Obstgärten und Feldern. Die Enge und grüne Verborgenheck des Tales, die Steile der Uferwand, die Höhe und doch Nähe der Gemäuer, die klare Buntheit des Einzelnen, die hundertfältig verschiedne Gestalt des Gewesenen verleihen dem Eindruck ein ganz Ungewohntes. sagenhaftes. Er ist zugleich ernster, gebieterischer geworden. Klangen mir oben Volkslied und Idyll. Landsknechtslied und Meistersang an. so denke ich hier an Epos und Romanze. Ich verstehe besser als vorher den alten Vergleich der Lage und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/381>, abgerufen am 29.06.2024.