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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Uhlands Einfluß auf die Poesie Hebbels

und Gedankenwelt mannigfach beeinflußten Nachfolger nicht nur keine Ver¬
kleinerung daraus hergeleitet werden kann, sondern zuweilen gerade das
Gegenteil, und wenn diese Beziehungen so zahlreich, so innig und überhaupt
so bedeutungsvoll sind wie bei den beiden großen nachgoethischen Lyrikern
Uhland und Hebbel.

Daß Hebbel besonders in seiner Jugend starke Anregungen von Uhland
empfangen hat, kommt auch dem, der beider Schaffen nur oberflächlich kennt,
zum Bewußtsein; auch dann, wenn er die ausdrücklichen Bekenntnisse Hebbels
hierüber, seine Briefe an Uhland und seine Tagebuchnotizen nicht kennte.
Doch sind auch diese heute bekannt genug. Weniger bekannt dürfte aber sein,
wie diese Einwirkung bei genauerer Betrachtung der Gedichte beider im
einzelnen bestätigt wird, und was für wunderbare Verknüpfungen sich zwischen
einigen ihrer Werke ergeben, Verknüpfungen, die auch einen Beitrag zu der
Lehre von den latenten Erinnerungszuständen geben. Denn wie soll man
sonst die häufig vorkommende Tatsache auffassen, daß bei Bearbeitung eines
verwandten Inhalts dem jungen Dichter nicht nur Worte und Gedanken,
sondern auch Rhythmus und Strophenbau seines Vorbilds in die Feder
fließen? Solche Gleichheiten streifen eng an das tiefste Geheimnis der
Poetischen Produktion überhaupt, an ihre Verwandtschaft mit dem Musikalischen,
die vorbereitende Seelenstimmung und andres, worüber wir Äußerungen der
Größten haben.

Dem Rhythmus und dem Strophenbau als dem halb unbewußten Material
des Lyrikers möchte ich schon darum um so mehr hierbei gerecht werden, als
man gewöhnlich diesen Dingen wenig Beachtung schenkt. Man hält sie für
belanglos. Man rühmt die prächtige Sprache, die poetischen Bilder und ver¬
gißt dabei nur zu oft die verborgne Leier Amphions, der Lyrik Sinnbild,
nach der sich diese prächtigen Steine fast ohne Zutun fügten, ehe der kritische
Verstand hinzutrat; ehe dieser auf die weiche Skizze der Seele die scharfen
Profile, die tiefen Schatten und grellen Lichter der künstlerischen Wirkung setzte.

An Rhythmen finden wir um bei Uhland fast alle geläufigen vertreten,
am seltensten daktylische. Distichen hat er nur wenige gemacht. Von Kunst¬
formen hat er das Sonett, die Oktave und die Glosse gehandhabt. Die ersten
beiden hat auch Hebbel. Doch sind diese Formen ja den meisten Dichtern nicht
fremd gewesen.

Wichtig ist schon, daß die beiden Hauptmaße, deren sich Uhland in seinen
epischen Gedichten bedient, die Nibelungenstrophe (Graf Eberhard der Greiner)
und die trochäische Romanze (Ritter Paris), eine analoge Verwendung in der
Hebbelschen Poesie finden, die zweite zum Beispiel in den Kindheitsgedichten:
Aus der Kindheit, Bubensonntag und "Schau ich in die tiefste Ferne", aber
auch in den romantischen Gedichten Ritter Fortunat und Der Zauberhain.
Am auffallendsten ist aber der Zusammenhang bei etwas seltner gebräuch¬
lichen Strophenformen wie der fünfzeiligen des Guten Kameraden, bei der


Uhlands Einfluß auf die Poesie Hebbels

und Gedankenwelt mannigfach beeinflußten Nachfolger nicht nur keine Ver¬
kleinerung daraus hergeleitet werden kann, sondern zuweilen gerade das
Gegenteil, und wenn diese Beziehungen so zahlreich, so innig und überhaupt
so bedeutungsvoll sind wie bei den beiden großen nachgoethischen Lyrikern
Uhland und Hebbel.

Daß Hebbel besonders in seiner Jugend starke Anregungen von Uhland
empfangen hat, kommt auch dem, der beider Schaffen nur oberflächlich kennt,
zum Bewußtsein; auch dann, wenn er die ausdrücklichen Bekenntnisse Hebbels
hierüber, seine Briefe an Uhland und seine Tagebuchnotizen nicht kennte.
Doch sind auch diese heute bekannt genug. Weniger bekannt dürfte aber sein,
wie diese Einwirkung bei genauerer Betrachtung der Gedichte beider im
einzelnen bestätigt wird, und was für wunderbare Verknüpfungen sich zwischen
einigen ihrer Werke ergeben, Verknüpfungen, die auch einen Beitrag zu der
Lehre von den latenten Erinnerungszuständen geben. Denn wie soll man
sonst die häufig vorkommende Tatsache auffassen, daß bei Bearbeitung eines
verwandten Inhalts dem jungen Dichter nicht nur Worte und Gedanken,
sondern auch Rhythmus und Strophenbau seines Vorbilds in die Feder
fließen? Solche Gleichheiten streifen eng an das tiefste Geheimnis der
Poetischen Produktion überhaupt, an ihre Verwandtschaft mit dem Musikalischen,
die vorbereitende Seelenstimmung und andres, worüber wir Äußerungen der
Größten haben.

Dem Rhythmus und dem Strophenbau als dem halb unbewußten Material
des Lyrikers möchte ich schon darum um so mehr hierbei gerecht werden, als
man gewöhnlich diesen Dingen wenig Beachtung schenkt. Man hält sie für
belanglos. Man rühmt die prächtige Sprache, die poetischen Bilder und ver¬
gißt dabei nur zu oft die verborgne Leier Amphions, der Lyrik Sinnbild,
nach der sich diese prächtigen Steine fast ohne Zutun fügten, ehe der kritische
Verstand hinzutrat; ehe dieser auf die weiche Skizze der Seele die scharfen
Profile, die tiefen Schatten und grellen Lichter der künstlerischen Wirkung setzte.

An Rhythmen finden wir um bei Uhland fast alle geläufigen vertreten,
am seltensten daktylische. Distichen hat er nur wenige gemacht. Von Kunst¬
formen hat er das Sonett, die Oktave und die Glosse gehandhabt. Die ersten
beiden hat auch Hebbel. Doch sind diese Formen ja den meisten Dichtern nicht
fremd gewesen.

Wichtig ist schon, daß die beiden Hauptmaße, deren sich Uhland in seinen
epischen Gedichten bedient, die Nibelungenstrophe (Graf Eberhard der Greiner)
und die trochäische Romanze (Ritter Paris), eine analoge Verwendung in der
Hebbelschen Poesie finden, die zweite zum Beispiel in den Kindheitsgedichten:
Aus der Kindheit, Bubensonntag und „Schau ich in die tiefste Ferne", aber
auch in den romantischen Gedichten Ritter Fortunat und Der Zauberhain.
Am auffallendsten ist aber der Zusammenhang bei etwas seltner gebräuch¬
lichen Strophenformen wie der fünfzeiligen des Guten Kameraden, bei der


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[0369] Uhlands Einfluß auf die Poesie Hebbels und Gedankenwelt mannigfach beeinflußten Nachfolger nicht nur keine Ver¬ kleinerung daraus hergeleitet werden kann, sondern zuweilen gerade das Gegenteil, und wenn diese Beziehungen so zahlreich, so innig und überhaupt so bedeutungsvoll sind wie bei den beiden großen nachgoethischen Lyrikern Uhland und Hebbel. Daß Hebbel besonders in seiner Jugend starke Anregungen von Uhland empfangen hat, kommt auch dem, der beider Schaffen nur oberflächlich kennt, zum Bewußtsein; auch dann, wenn er die ausdrücklichen Bekenntnisse Hebbels hierüber, seine Briefe an Uhland und seine Tagebuchnotizen nicht kennte. Doch sind auch diese heute bekannt genug. Weniger bekannt dürfte aber sein, wie diese Einwirkung bei genauerer Betrachtung der Gedichte beider im einzelnen bestätigt wird, und was für wunderbare Verknüpfungen sich zwischen einigen ihrer Werke ergeben, Verknüpfungen, die auch einen Beitrag zu der Lehre von den latenten Erinnerungszuständen geben. Denn wie soll man sonst die häufig vorkommende Tatsache auffassen, daß bei Bearbeitung eines verwandten Inhalts dem jungen Dichter nicht nur Worte und Gedanken, sondern auch Rhythmus und Strophenbau seines Vorbilds in die Feder fließen? Solche Gleichheiten streifen eng an das tiefste Geheimnis der Poetischen Produktion überhaupt, an ihre Verwandtschaft mit dem Musikalischen, die vorbereitende Seelenstimmung und andres, worüber wir Äußerungen der Größten haben. Dem Rhythmus und dem Strophenbau als dem halb unbewußten Material des Lyrikers möchte ich schon darum um so mehr hierbei gerecht werden, als man gewöhnlich diesen Dingen wenig Beachtung schenkt. Man hält sie für belanglos. Man rühmt die prächtige Sprache, die poetischen Bilder und ver¬ gißt dabei nur zu oft die verborgne Leier Amphions, der Lyrik Sinnbild, nach der sich diese prächtigen Steine fast ohne Zutun fügten, ehe der kritische Verstand hinzutrat; ehe dieser auf die weiche Skizze der Seele die scharfen Profile, die tiefen Schatten und grellen Lichter der künstlerischen Wirkung setzte. An Rhythmen finden wir um bei Uhland fast alle geläufigen vertreten, am seltensten daktylische. Distichen hat er nur wenige gemacht. Von Kunst¬ formen hat er das Sonett, die Oktave und die Glosse gehandhabt. Die ersten beiden hat auch Hebbel. Doch sind diese Formen ja den meisten Dichtern nicht fremd gewesen. Wichtig ist schon, daß die beiden Hauptmaße, deren sich Uhland in seinen epischen Gedichten bedient, die Nibelungenstrophe (Graf Eberhard der Greiner) und die trochäische Romanze (Ritter Paris), eine analoge Verwendung in der Hebbelschen Poesie finden, die zweite zum Beispiel in den Kindheitsgedichten: Aus der Kindheit, Bubensonntag und „Schau ich in die tiefste Ferne", aber auch in den romantischen Gedichten Ritter Fortunat und Der Zauberhain. Am auffallendsten ist aber der Zusammenhang bei etwas seltner gebräuch¬ lichen Strophenformen wie der fünfzeiligen des Guten Kameraden, bei der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/369>, abgerufen am 22.07.2024.