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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

imposante Meinungsäußerung" herbeizuführen; im geheimen wünschte er, was
übrigens auch vorauszusehen war, daß die Notabeln die Zahl der Abgeordneten
des dritten Standes verdoppeln würden. Eine arge Enttäuschung erfuhr aber
Necker dadurch, daß die Notabeln ebenfalls die alte Form der Beratung der
Generalstände forderten, wonach dem dritten Stande nur eine Stimme gegen¬
über den beiden andern Ständen zugebilligt werden sollte.

Die Erregung der Zeit spiegelt sich seit Oktober 1788 in einer unzählbaren
Menge von Broschüren wider, und umgekehrt: diese Massenpamphlete steigerten
wiederum die furchtbare Gärung des Volks bis zur Siedehitze, nicht bloß in
Paris, sondern auch in den Provinzen, obwohl in diesen in etwas maßvollerer
Weise. Die Schriften rührten meist von Männern des dritten Standes her;
aber es fehlte auch nicht an adligen Schriftstellern, unter denen wieder solche
zu unterscheiden sind, die aufrichtigen Herzens für den Tiers eintraten, und
solche, die sich aus Furcht oder Schlauheit auf die Seite der aufsteigenden Macht
dieses Standes stellten. Unter den geistlichen Publizisten ragte am meisten
hervor der Abt Sieyes. Seine erste Broschüre trug den Titel "Versuch über
die Privilegien" und wurde noch wenig beachtet, obwohl sie schon folgende
Kraftstellen enthielt: "Ja die Privilegierten kommen wirklich so weit, sich für
eine andre Art von Menschen zu halten" und: "Sobald jemand ein Privileg
besitzt, verengert sich sein Patriotismus." Weit und breit berühmt wurde Sieyes
erst durch seine zweite Schrift: Hu'sse-ce yue 1e tiers-LtÄt? Sie war ziemlich
kurz, in gedrungne Kapitel eingeteilt, diese wieder zum Teil in Paragraphen
mit packenden Überschriften; sie zeichnete sich durch Bestimmtheit des Aus¬
drucks, durch Einseitigkeit und blinden Fanatismus aus, ohne doch nach sonstiger
damaliger Sitte in wüste Schimpfereien und geschmacklose Witze auszuarten.
Die ersten drei Abschnitte beantworteten die drei Fragen: was ist der dritte
Stand; was war er bisher im staatlichen Leben; was verlangt er? mit drei
unzweifelhaften Unrichtigkeiten: der dritte Stand ist alles; er ist bisher nichts
gewesen; er verlangt etwas zu werden. Tatsächlich hatte er immer eine hohe
Bedeutung gehabt, aber er wollte sich jetzt womöglich die alleinige Bedeutung
anmaßen; das geht wenigstens aus den drei letzten Abschnitten der Broschüre
hervor, zumal wenn im letzten Kapitel der Rat erteilt wird, der dritte Stand
solle sich von den zwei ersten absondern und eine Nationalversammlung bilden,
oder er solle an eine außerordentlich zu berufende Nationalversammlung appellieren.
In einer wenige Wochen später erschienenen Schrift wiegelte übrigens Sieyes
gewaltig ab und mahnte ausdrücklich zum Frieden zwischen den drei Ständen.
I" den folgenden Monaten bis nach der Berufung der Generalstände wurden
die Angriffe der Pamphletisten immer verrückter, schändlicher, schamloser und
blutgieriger. Camille Desmoulins nennt in seiner?rail<-ö libro die Monarchie
..die geborne Feindin unsrer Sitten" und den Adel "die Vampire des Staats".
Schriften reaktionären oder auch nur gemäßigten Inhalts fehlten fast ganz und
wurden, wenn sie erschienen, vom Publikum nicht gelesen. Alle schrien nach


Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

imposante Meinungsäußerung" herbeizuführen; im geheimen wünschte er, was
übrigens auch vorauszusehen war, daß die Notabeln die Zahl der Abgeordneten
des dritten Standes verdoppeln würden. Eine arge Enttäuschung erfuhr aber
Necker dadurch, daß die Notabeln ebenfalls die alte Form der Beratung der
Generalstände forderten, wonach dem dritten Stande nur eine Stimme gegen¬
über den beiden andern Ständen zugebilligt werden sollte.

Die Erregung der Zeit spiegelt sich seit Oktober 1788 in einer unzählbaren
Menge von Broschüren wider, und umgekehrt: diese Massenpamphlete steigerten
wiederum die furchtbare Gärung des Volks bis zur Siedehitze, nicht bloß in
Paris, sondern auch in den Provinzen, obwohl in diesen in etwas maßvollerer
Weise. Die Schriften rührten meist von Männern des dritten Standes her;
aber es fehlte auch nicht an adligen Schriftstellern, unter denen wieder solche
zu unterscheiden sind, die aufrichtigen Herzens für den Tiers eintraten, und
solche, die sich aus Furcht oder Schlauheit auf die Seite der aufsteigenden Macht
dieses Standes stellten. Unter den geistlichen Publizisten ragte am meisten
hervor der Abt Sieyes. Seine erste Broschüre trug den Titel „Versuch über
die Privilegien" und wurde noch wenig beachtet, obwohl sie schon folgende
Kraftstellen enthielt: „Ja die Privilegierten kommen wirklich so weit, sich für
eine andre Art von Menschen zu halten" und: „Sobald jemand ein Privileg
besitzt, verengert sich sein Patriotismus." Weit und breit berühmt wurde Sieyes
erst durch seine zweite Schrift: Hu'sse-ce yue 1e tiers-LtÄt? Sie war ziemlich
kurz, in gedrungne Kapitel eingeteilt, diese wieder zum Teil in Paragraphen
mit packenden Überschriften; sie zeichnete sich durch Bestimmtheit des Aus¬
drucks, durch Einseitigkeit und blinden Fanatismus aus, ohne doch nach sonstiger
damaliger Sitte in wüste Schimpfereien und geschmacklose Witze auszuarten.
Die ersten drei Abschnitte beantworteten die drei Fragen: was ist der dritte
Stand; was war er bisher im staatlichen Leben; was verlangt er? mit drei
unzweifelhaften Unrichtigkeiten: der dritte Stand ist alles; er ist bisher nichts
gewesen; er verlangt etwas zu werden. Tatsächlich hatte er immer eine hohe
Bedeutung gehabt, aber er wollte sich jetzt womöglich die alleinige Bedeutung
anmaßen; das geht wenigstens aus den drei letzten Abschnitten der Broschüre
hervor, zumal wenn im letzten Kapitel der Rat erteilt wird, der dritte Stand
solle sich von den zwei ersten absondern und eine Nationalversammlung bilden,
oder er solle an eine außerordentlich zu berufende Nationalversammlung appellieren.
In einer wenige Wochen später erschienenen Schrift wiegelte übrigens Sieyes
gewaltig ab und mahnte ausdrücklich zum Frieden zwischen den drei Ständen.
I» den folgenden Monaten bis nach der Berufung der Generalstände wurden
die Angriffe der Pamphletisten immer verrückter, schändlicher, schamloser und
blutgieriger. Camille Desmoulins nennt in seiner?rail<-ö libro die Monarchie
..die geborne Feindin unsrer Sitten" und den Adel „die Vampire des Staats".
Schriften reaktionären oder auch nur gemäßigten Inhalts fehlten fast ganz und
wurden, wenn sie erschienen, vom Publikum nicht gelesen. Alle schrien nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/313>, abgerufen am 23.07.2024.