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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

auch tief im Busch, mit Anteil gelesen wird. Das Buch ist von Anfang bis zu
Ende nicht nur ethnologisch interessant, sondern auch höchst unterhaltsam. Und
in einigen Erzählungen, zum Beispiel in "Herr und Frau Sir Fat", birgt sich
ein tieferes Leben, zeigt der Verfasser (wiederum Dyson) Gaben, die uns wohl
begierig machen, mehr von ihm kennen zu lernen. Manches in dem Bande
erinnert an die Art Mark Twains, aber auch Klänge von dem großen Amerikaner
Poe sind darin, und alles hat den besondern Reiz eines noch unverbrauchter,
sich erst kräftig heranbildenden Volkslebens.

Ein geradezu entzückendes Buch hat uns Adolf Wilbrcmdt beschert; er
hat Neisebriefe eines seiner Freunde unter dem Titel "Rund ums Mittelmeer"
herausgegeben (bei Cotta in Stuttgart). Der leider ungenannte Verfasser spricht
hier in Briefen und Karten, die nicht etwa für den Druck, sondern nur für
Wilbrandt und sein Haus bestimmt waren. Er ist bald in Italien, bald in
Tunis, Tripolis, Algier, Kleinasien, Ägypten, Syrien, Dalmatien, Spanien,
und von überall eilt er, in kurzen Zeilen, oft auf Ansichtskarten, die ersten
Eindrücke wiederzugeben, denen er dann in längern Schreiben ausführliche
Schilderungen und Charakteristiken folgen läßt. Lebendigere Neisebriefe besitzen
wir kaum; so ungern ich einen so hohen Vergleich wage, ich muß doch sagen,
daß ich nur Bismarcks Schilderungen aus Südfrankreich in den Briefen an Frau
Johanna diesen Meisterbriefen zur Seite stellen kann. Wie das heutige Spanien
lebt, kann nicht knapper und dabei mit vollerer Charakteristik dargestellt werden
als in den Briefen dieses Schreibers, die uns durch das ganze Land von
Zaragoza über Madrid, Toledo, Aranjuez durch Andalusien und wiederum bis
Barcelona geleiten. Was ein Stiergefecht eigentlich ist, und was es in Spanien
bedeutet, das lernt man erst hier, wo man förmlich alle Farben Zuloagas noch
einmal ausbrennen fühlt. Wilbrandt hat recht, wenn er glaubte, uns hiermit
etwas vorzulegen, was wir noch nicht haben, "eine Art, von Reisen zu be¬
richten, die so ungewohnt wie reizvoll und wertvoll ist".

Zum Schluß ein kleines episches Werk: "Die Kinder der Lilith" von
Isolde Kurz (Stuttgart, Cotta). Lilith ist die Adam vom Schöpfer gegebne
Gefährtin, Eva die von Sammael-Luzifer aus Adams Rippe geschaffne
Erdenfrau, die ihn dem immer nach dem höchsten Fluge trachtenden, ruhelosen
und doch allein befriedigenden Glück mit Lilith entreißt, ihm die Frucht der
Erkenntnis bringt, ihn das Paradies verlieren läßt. Sie selbst genießt die
Frucht nicht, sie bleibt im Dumpfen, und Schreckliches vollendet sich an der
Frucht ihres Schoßes, an dem Sohn Kam. Gabriel aber erscheint Adam in der
Stunde, wo dieser die erste Leiche, Abel, in der Erde birgt und gibt dem
Müden Trost: auch Lilith hat einen Sohn geboren, und er, nicht die ins
Joch gebeugten Kinder Evas, wird einmal herrschen. Er wird immer von Evas
Kindern bekämpft werden, doch als Forscher, als Held, als Seher, als Dichter
immer wieder die arme, darbende Welt durchrauschen, sie aus der Sinnen-
knechtschast Schmach zu reißen trachten, bis er als der Menschheit Vollender


Literarische Rundschau

auch tief im Busch, mit Anteil gelesen wird. Das Buch ist von Anfang bis zu
Ende nicht nur ethnologisch interessant, sondern auch höchst unterhaltsam. Und
in einigen Erzählungen, zum Beispiel in „Herr und Frau Sir Fat", birgt sich
ein tieferes Leben, zeigt der Verfasser (wiederum Dyson) Gaben, die uns wohl
begierig machen, mehr von ihm kennen zu lernen. Manches in dem Bande
erinnert an die Art Mark Twains, aber auch Klänge von dem großen Amerikaner
Poe sind darin, und alles hat den besondern Reiz eines noch unverbrauchter,
sich erst kräftig heranbildenden Volkslebens.

Ein geradezu entzückendes Buch hat uns Adolf Wilbrcmdt beschert; er
hat Neisebriefe eines seiner Freunde unter dem Titel „Rund ums Mittelmeer"
herausgegeben (bei Cotta in Stuttgart). Der leider ungenannte Verfasser spricht
hier in Briefen und Karten, die nicht etwa für den Druck, sondern nur für
Wilbrandt und sein Haus bestimmt waren. Er ist bald in Italien, bald in
Tunis, Tripolis, Algier, Kleinasien, Ägypten, Syrien, Dalmatien, Spanien,
und von überall eilt er, in kurzen Zeilen, oft auf Ansichtskarten, die ersten
Eindrücke wiederzugeben, denen er dann in längern Schreiben ausführliche
Schilderungen und Charakteristiken folgen läßt. Lebendigere Neisebriefe besitzen
wir kaum; so ungern ich einen so hohen Vergleich wage, ich muß doch sagen,
daß ich nur Bismarcks Schilderungen aus Südfrankreich in den Briefen an Frau
Johanna diesen Meisterbriefen zur Seite stellen kann. Wie das heutige Spanien
lebt, kann nicht knapper und dabei mit vollerer Charakteristik dargestellt werden
als in den Briefen dieses Schreibers, die uns durch das ganze Land von
Zaragoza über Madrid, Toledo, Aranjuez durch Andalusien und wiederum bis
Barcelona geleiten. Was ein Stiergefecht eigentlich ist, und was es in Spanien
bedeutet, das lernt man erst hier, wo man förmlich alle Farben Zuloagas noch
einmal ausbrennen fühlt. Wilbrandt hat recht, wenn er glaubte, uns hiermit
etwas vorzulegen, was wir noch nicht haben, „eine Art, von Reisen zu be¬
richten, die so ungewohnt wie reizvoll und wertvoll ist".

Zum Schluß ein kleines episches Werk: „Die Kinder der Lilith" von
Isolde Kurz (Stuttgart, Cotta). Lilith ist die Adam vom Schöpfer gegebne
Gefährtin, Eva die von Sammael-Luzifer aus Adams Rippe geschaffne
Erdenfrau, die ihn dem immer nach dem höchsten Fluge trachtenden, ruhelosen
und doch allein befriedigenden Glück mit Lilith entreißt, ihm die Frucht der
Erkenntnis bringt, ihn das Paradies verlieren läßt. Sie selbst genießt die
Frucht nicht, sie bleibt im Dumpfen, und Schreckliches vollendet sich an der
Frucht ihres Schoßes, an dem Sohn Kam. Gabriel aber erscheint Adam in der
Stunde, wo dieser die erste Leiche, Abel, in der Erde birgt und gibt dem
Müden Trost: auch Lilith hat einen Sohn geboren, und er, nicht die ins
Joch gebeugten Kinder Evas, wird einmal herrschen. Er wird immer von Evas
Kindern bekämpft werden, doch als Forscher, als Held, als Seher, als Dichter
immer wieder die arme, darbende Welt durchrauschen, sie aus der Sinnen-
knechtschast Schmach zu reißen trachten, bis er als der Menschheit Vollender


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[0272] Literarische Rundschau auch tief im Busch, mit Anteil gelesen wird. Das Buch ist von Anfang bis zu Ende nicht nur ethnologisch interessant, sondern auch höchst unterhaltsam. Und in einigen Erzählungen, zum Beispiel in „Herr und Frau Sir Fat", birgt sich ein tieferes Leben, zeigt der Verfasser (wiederum Dyson) Gaben, die uns wohl begierig machen, mehr von ihm kennen zu lernen. Manches in dem Bande erinnert an die Art Mark Twains, aber auch Klänge von dem großen Amerikaner Poe sind darin, und alles hat den besondern Reiz eines noch unverbrauchter, sich erst kräftig heranbildenden Volkslebens. Ein geradezu entzückendes Buch hat uns Adolf Wilbrcmdt beschert; er hat Neisebriefe eines seiner Freunde unter dem Titel „Rund ums Mittelmeer" herausgegeben (bei Cotta in Stuttgart). Der leider ungenannte Verfasser spricht hier in Briefen und Karten, die nicht etwa für den Druck, sondern nur für Wilbrandt und sein Haus bestimmt waren. Er ist bald in Italien, bald in Tunis, Tripolis, Algier, Kleinasien, Ägypten, Syrien, Dalmatien, Spanien, und von überall eilt er, in kurzen Zeilen, oft auf Ansichtskarten, die ersten Eindrücke wiederzugeben, denen er dann in längern Schreiben ausführliche Schilderungen und Charakteristiken folgen läßt. Lebendigere Neisebriefe besitzen wir kaum; so ungern ich einen so hohen Vergleich wage, ich muß doch sagen, daß ich nur Bismarcks Schilderungen aus Südfrankreich in den Briefen an Frau Johanna diesen Meisterbriefen zur Seite stellen kann. Wie das heutige Spanien lebt, kann nicht knapper und dabei mit vollerer Charakteristik dargestellt werden als in den Briefen dieses Schreibers, die uns durch das ganze Land von Zaragoza über Madrid, Toledo, Aranjuez durch Andalusien und wiederum bis Barcelona geleiten. Was ein Stiergefecht eigentlich ist, und was es in Spanien bedeutet, das lernt man erst hier, wo man förmlich alle Farben Zuloagas noch einmal ausbrennen fühlt. Wilbrandt hat recht, wenn er glaubte, uns hiermit etwas vorzulegen, was wir noch nicht haben, „eine Art, von Reisen zu be¬ richten, die so ungewohnt wie reizvoll und wertvoll ist". Zum Schluß ein kleines episches Werk: „Die Kinder der Lilith" von Isolde Kurz (Stuttgart, Cotta). Lilith ist die Adam vom Schöpfer gegebne Gefährtin, Eva die von Sammael-Luzifer aus Adams Rippe geschaffne Erdenfrau, die ihn dem immer nach dem höchsten Fluge trachtenden, ruhelosen und doch allein befriedigenden Glück mit Lilith entreißt, ihm die Frucht der Erkenntnis bringt, ihn das Paradies verlieren läßt. Sie selbst genießt die Frucht nicht, sie bleibt im Dumpfen, und Schreckliches vollendet sich an der Frucht ihres Schoßes, an dem Sohn Kam. Gabriel aber erscheint Adam in der Stunde, wo dieser die erste Leiche, Abel, in der Erde birgt und gibt dem Müden Trost: auch Lilith hat einen Sohn geboren, und er, nicht die ins Joch gebeugten Kinder Evas, wird einmal herrschen. Er wird immer von Evas Kindern bekämpft werden, doch als Forscher, als Held, als Seher, als Dichter immer wieder die arme, darbende Welt durchrauschen, sie aus der Sinnen- knechtschast Schmach zu reißen trachten, bis er als der Menschheit Vollender

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/272>, abgerufen am 22.12.2024.