Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Der rote Hahn lag schief am Markte an einer ExtraVerbreiterung; um seine Mauern entlang schlich Die Straße der Stadt war zweitausend Meter lang, und es kam nicht ganz Aber in der Straße oder in den Straßen wohnten nicht einmal so viel Menschen So war die Stadt -- Herrgott, ja! In alten Zeiten hatten an ihren Ufern Fähren gelegen, mit denen man sich Mit der Herrlichkeit war es aus, und das Stadtwappen, ein altes Fährschiff, Der Besuch des Meeres war das letzte bemerkenswerte Ereignis in der Geschichte In diese Stadt hatte das Schicksal Kaj Seydewitz verschlagen, als ihm der Der rote Hahn lag schief am Markte an einer ExtraVerbreiterung; um seine Mauern entlang schlich Die Straße der Stadt war zweitausend Meter lang, und es kam nicht ganz Aber in der Straße oder in den Straßen wohnten nicht einmal so viel Menschen So war die Stadt — Herrgott, ja! In alten Zeiten hatten an ihren Ufern Fähren gelegen, mit denen man sich Mit der Herrlichkeit war es aus, und das Stadtwappen, ein altes Fährschiff, Der Besuch des Meeres war das letzte bemerkenswerte Ereignis in der Geschichte In diese Stadt hatte das Schicksal Kaj Seydewitz verschlagen, als ihm der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0243" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313946"/> <fw type="header" place="top"> Der rote Hahn</fw><lb/> <p xml:id="ID_1007" prev="#ID_1006"> lag schief am Markte an einer ExtraVerbreiterung; um seine Mauern entlang schlich<lb/> sich ein Gttßlein, der einzige Auswuchs des Straßensystems, der nicht an die vier<lb/> Winde appellierte, aber auch so wenig empfindsam war, daß er sich Rathausgasse<lb/> nannte. Die Straße hatte wohl eigentlich nur die Bestimmung, die Gefangnen-<lb/> löcher im Parterre des Rathauses von Kaufmann Jensens Stallung zu trennen,<lb/> von der aus Schnapsgefahr durch die Gitterfenster zu befürchten war.</p><lb/> <p xml:id="ID_1008"> Die Straße der Stadt war zweitausend Meter lang, und es kam nicht ganz<lb/> ein Einwohner auf je zwei Meter. Die Straße begann am äußersten Ende des<lb/> Kirchspiels, und die Station lag einen Büchsenschuß weit im Nachbarkirchspiel. Es<lb/> machte die Bewohner bloß noch eingebildeter, daß sie sich eine Vorstadt leisten<lb/> konnten, in der die Steuerprozente lächerlich niedrig waren, und außerdem prahlten<lb/> sie damit, daß ihre Stadt den größten Flächenraum in Dänemark einnähme, nämlich<lb/> anderthalb Meilen auf der einen und dreiviertel auf der andern Seite. Es schloß sich<lb/> nämlich bis zum Meere reichendes Acker- und Weideland an den Ort an. und keine<lb/> Stadt in Dänemark besaß mehr Hühner, Enten, Schweine und Kühe. Nicht einmal</p><lb/> <p xml:id="ID_1009"> Aber in der Straße oder in den Straßen wohnten nicht einmal so viel Menschen<lb/> wie in einem mittelgroßen Hause des Kopenhagner Wcstquartiers. Der weit über¬<lb/> wiegende Teil hielt sich draußen bei den Schweinen und Kühen auf.</p><lb/> <p xml:id="ID_1010"> So war die Stadt — Herrgott, ja!</p><lb/> <p xml:id="ID_1011"> In alten Zeiten hatten an ihren Ufern Fähren gelegen, mit denen man sich<lb/> nach Süden übersetzen lassen konnte. Und in jenen Tagen passierte hin und wieder<lb/> ein König oder eine Königin auf der Durchreise den Ort, aber da, an einem November¬<lb/> tage, hatte das Meer die Stadt satt und ließ sie von ihren Wellen überfluten, daß<lb/> die Einwohner auf den Haustüren umhersegeln mußten, um ihr Leben zu retten,<lb/> und da bäumte man zu und errichtete Deiche draußen am Wasser.</p><lb/> <p xml:id="ID_1012"> Mit der Herrlichkeit war es aus, und das Stadtwappen, ein altes Fährschiff,<lb/> blieb als die einzige Erinnerung an ehemalige Größe übrig. Aber draußen vor<lb/> der Nordstraße stifteten die Bürger einen Stein zum Wahrzeichen an den Besuch<lb/> des Meeres, und dorthin wallfahrteten sie alle Sonntage, um sich die Beine zu<lb/> vertreten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1013"> Der Besuch des Meeres war das letzte bemerkenswerte Ereignis in der Geschichte<lb/> der Stadt. Nach der Taufe war sie ihrem innern Leben überlassen, vergessen von<lb/> allen, nur selbst an sich denkend, geleitet von den Männern draußen vom Weide¬<lb/> land und — jetzt nun schon an die zwanzig Jahre — von dem rundlichen und<lb/> Mialen Bürgermeister Hansen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1014" next="#ID_1015"> In diese Stadt hatte das Schicksal Kaj Seydewitz verschlagen, als ihm der<lb/> ^ruft des Lebens endlich aufgegangen war. Und jetzt saß er da für sechzig Kronen<lb/> Monatlich mit Selbstbeköstigung, von denen vierzig für das respektable Fräulein<lb/> ürederikke Frederiksen an der Kirche draufgingen und zwanzig im Gasthause nicht zu<lb/> °er einen warmen Mahlzeit ausreichten, die die vier Nachmittagsbureaustunden von<lb/> den Vormittagsstunden im üblichen Normalarbeitstage trennten. Kai Seydewitzens<lb/> Geschichte bis zum heutigen Tage ist schnell erzählt: Sohn eines Beamten mit einem<lb/> leinen Namen und ohne Mittel, vaterlos, ehe er begriff, was der Verlust eines<lb/> Katers bedeutete, mutterlos, weil sich seine Mutter nie in seiner Heimat zu Hause<lb/> fühlte, die nicht die ihre war, war er durch viele Schulen zur Alma mater der<lb/> Hauptstadt gekommen und Kandidat der Jurisprudenz mit einer Nummer zwei<lb/> geworden, ohne daß er selbst begriff, wie es zugegangen war. Vier Jahre lang<lb/> hatte er so wenig gearbeitet und so viel Geld verbraucht, das er nicht besaß, daß<lb/> es nnr eine gerechte Vergeltung des Schicksals war. wenn vermögende Verwandte</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0243]
Der rote Hahn
lag schief am Markte an einer ExtraVerbreiterung; um seine Mauern entlang schlich
sich ein Gttßlein, der einzige Auswuchs des Straßensystems, der nicht an die vier
Winde appellierte, aber auch so wenig empfindsam war, daß er sich Rathausgasse
nannte. Die Straße hatte wohl eigentlich nur die Bestimmung, die Gefangnen-
löcher im Parterre des Rathauses von Kaufmann Jensens Stallung zu trennen,
von der aus Schnapsgefahr durch die Gitterfenster zu befürchten war.
Die Straße der Stadt war zweitausend Meter lang, und es kam nicht ganz
ein Einwohner auf je zwei Meter. Die Straße begann am äußersten Ende des
Kirchspiels, und die Station lag einen Büchsenschuß weit im Nachbarkirchspiel. Es
machte die Bewohner bloß noch eingebildeter, daß sie sich eine Vorstadt leisten
konnten, in der die Steuerprozente lächerlich niedrig waren, und außerdem prahlten
sie damit, daß ihre Stadt den größten Flächenraum in Dänemark einnähme, nämlich
anderthalb Meilen auf der einen und dreiviertel auf der andern Seite. Es schloß sich
nämlich bis zum Meere reichendes Acker- und Weideland an den Ort an. und keine
Stadt in Dänemark besaß mehr Hühner, Enten, Schweine und Kühe. Nicht einmal
Aber in der Straße oder in den Straßen wohnten nicht einmal so viel Menschen
wie in einem mittelgroßen Hause des Kopenhagner Wcstquartiers. Der weit über¬
wiegende Teil hielt sich draußen bei den Schweinen und Kühen auf.
So war die Stadt — Herrgott, ja!
In alten Zeiten hatten an ihren Ufern Fähren gelegen, mit denen man sich
nach Süden übersetzen lassen konnte. Und in jenen Tagen passierte hin und wieder
ein König oder eine Königin auf der Durchreise den Ort, aber da, an einem November¬
tage, hatte das Meer die Stadt satt und ließ sie von ihren Wellen überfluten, daß
die Einwohner auf den Haustüren umhersegeln mußten, um ihr Leben zu retten,
und da bäumte man zu und errichtete Deiche draußen am Wasser.
Mit der Herrlichkeit war es aus, und das Stadtwappen, ein altes Fährschiff,
blieb als die einzige Erinnerung an ehemalige Größe übrig. Aber draußen vor
der Nordstraße stifteten die Bürger einen Stein zum Wahrzeichen an den Besuch
des Meeres, und dorthin wallfahrteten sie alle Sonntage, um sich die Beine zu
vertreten.
Der Besuch des Meeres war das letzte bemerkenswerte Ereignis in der Geschichte
der Stadt. Nach der Taufe war sie ihrem innern Leben überlassen, vergessen von
allen, nur selbst an sich denkend, geleitet von den Männern draußen vom Weide¬
land und — jetzt nun schon an die zwanzig Jahre — von dem rundlichen und
Mialen Bürgermeister Hansen.
In diese Stadt hatte das Schicksal Kaj Seydewitz verschlagen, als ihm der
^ruft des Lebens endlich aufgegangen war. Und jetzt saß er da für sechzig Kronen
Monatlich mit Selbstbeköstigung, von denen vierzig für das respektable Fräulein
ürederikke Frederiksen an der Kirche draufgingen und zwanzig im Gasthause nicht zu
°er einen warmen Mahlzeit ausreichten, die die vier Nachmittagsbureaustunden von
den Vormittagsstunden im üblichen Normalarbeitstage trennten. Kai Seydewitzens
Geschichte bis zum heutigen Tage ist schnell erzählt: Sohn eines Beamten mit einem
leinen Namen und ohne Mittel, vaterlos, ehe er begriff, was der Verlust eines
Katers bedeutete, mutterlos, weil sich seine Mutter nie in seiner Heimat zu Hause
fühlte, die nicht die ihre war, war er durch viele Schulen zur Alma mater der
Hauptstadt gekommen und Kandidat der Jurisprudenz mit einer Nummer zwei
geworden, ohne daß er selbst begriff, wie es zugegangen war. Vier Jahre lang
hatte er so wenig gearbeitet und so viel Geld verbraucht, das er nicht besaß, daß
es nnr eine gerechte Vergeltung des Schicksals war. wenn vermögende Verwandte
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