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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Veit Valentin

männer zu wenden. Sobald aber hinzukommend die zweite und dritte Aufgabe
mit Talent gehandhabt wird, gehören den Werken der Geschichtschreibung alle
Herzen und der Beschäftigung mit ihnen ein gutes Stück der Mußezeit, die
sich die Menschen der Gegenwart erübrigen können -- notwendigerweise natürlich
mit starker Auswahl der Stoffe und Zeiten, wobei, wie ich schon bemerkt habe,
die neuen und neusten weitaus bevorzugt werden. Das von Leben pulsierende
stoffliche Interesse für Menschen und Dinge hat viel zahlreichere Träger seiner
selbst als das abgeklärte schöngeistige für die rein künstlerische Form und ihre
idealen Gehalte. In der Geschichte ist auch das Vergangne alles voll Leben,
Bewegung, realer Menschlichkeit, voll Beziehung und Ähnlichkeit der Akteure
von ehedem und heute und immer; die in sich abgeschlossenen Welten der
Schöpfungen der Kunst haben im Gegensatz dazu etwas an sich, was Schiller
"der Schönheit stille Schattenlande" nennt. Philosophischer, das Zufällige vom
Wesenhaften ausschließender, ewig wahrer sind dabei doch nach der Erkenntnis
des Aristoteles, die seit Lessing alle erlauchten deutschen Geister teilen, die
Bilder des Lebens, die von den Werken der Kunst geschaffen, als die von der
Geschichte einer einmaligen, vorübergerauschten Wirklichkeit nachgezeichnet werden:
aber von ganzem Herzen das zu empfinden vermag doch nur eine durch feinere
Begabung und ausgewähltere Bildungswege durchgesiebtere Minderheit, während
die Mehrheit statt dem rein Schönen dem "Interessanten" zufällt. So hat
Veit Valentin der Sohn einen für den Erfolg weit günstigern Kreis der Arbeit
und des Wirkens, als ihn Veit Valentin der Vater hatte; dazu kommt, daß
ihm die Wege des Lebens durch die Mühen des Vaters weit geebneter find,
als sie es diesem durch das bescheidne Glück seines Vaters im Kampfe um die
Existenz waren. Nach dem, was der junge Veit Valentin schon heute tatsächlich
geleistet hat, darf man ihm das Horoskop stellen, daß ihm noch viele Früchte
des Fleißes und Talentes zu zeitigen und für viele ein geistiger Lebenswert
zu werden vergönnt sein wird, sodaß mit einemmale die literarische Marke "Veit
Valentin" als verjüngter Phönix aus der Asche aufsteigt.

Das Buch über die Stadt Frankfurt am Main in den Revolutionsjahren
1848 und 1849 erscheint mir als eine ganz stupende Leistung eines Anfängers,
der nach seinen Jahren als solcher vorausgesetzt wird. Beim Lesen habe ich
wohl einmal nach dem Umschlag des Buches zurückgeschlagen wie in tiefster
Verwunderung, ob wirklich ein Vierundzwanzigjähriger mit so männlicher
Reife sprechen könne, aber was sonst "Veit Valentin" hieß, konnte hier ja
nun nicht das Wort geführt haben. Es ist mir wirklich ergangen wie einem
andern jungen Frankfurter gegenüber, wenn es mir unbegreiflich schien, woher
dem Dichter des "Götz von Berlichingen" diese manchmal das Menschen¬
wesen durch und durch sehende Seelenkunde in so jungen Jahren gekommen
sein möchte.

Zunächst muß jedoch wohl von der Forschung die Rede sein. Ich glaube,
dieser Schüler, der noch vor kurzem zu ihren Füßen gesessen hat, macht seinen


Veit Valentin

männer zu wenden. Sobald aber hinzukommend die zweite und dritte Aufgabe
mit Talent gehandhabt wird, gehören den Werken der Geschichtschreibung alle
Herzen und der Beschäftigung mit ihnen ein gutes Stück der Mußezeit, die
sich die Menschen der Gegenwart erübrigen können — notwendigerweise natürlich
mit starker Auswahl der Stoffe und Zeiten, wobei, wie ich schon bemerkt habe,
die neuen und neusten weitaus bevorzugt werden. Das von Leben pulsierende
stoffliche Interesse für Menschen und Dinge hat viel zahlreichere Träger seiner
selbst als das abgeklärte schöngeistige für die rein künstlerische Form und ihre
idealen Gehalte. In der Geschichte ist auch das Vergangne alles voll Leben,
Bewegung, realer Menschlichkeit, voll Beziehung und Ähnlichkeit der Akteure
von ehedem und heute und immer; die in sich abgeschlossenen Welten der
Schöpfungen der Kunst haben im Gegensatz dazu etwas an sich, was Schiller
»der Schönheit stille Schattenlande" nennt. Philosophischer, das Zufällige vom
Wesenhaften ausschließender, ewig wahrer sind dabei doch nach der Erkenntnis
des Aristoteles, die seit Lessing alle erlauchten deutschen Geister teilen, die
Bilder des Lebens, die von den Werken der Kunst geschaffen, als die von der
Geschichte einer einmaligen, vorübergerauschten Wirklichkeit nachgezeichnet werden:
aber von ganzem Herzen das zu empfinden vermag doch nur eine durch feinere
Begabung und ausgewähltere Bildungswege durchgesiebtere Minderheit, während
die Mehrheit statt dem rein Schönen dem „Interessanten" zufällt. So hat
Veit Valentin der Sohn einen für den Erfolg weit günstigern Kreis der Arbeit
und des Wirkens, als ihn Veit Valentin der Vater hatte; dazu kommt, daß
ihm die Wege des Lebens durch die Mühen des Vaters weit geebneter find,
als sie es diesem durch das bescheidne Glück seines Vaters im Kampfe um die
Existenz waren. Nach dem, was der junge Veit Valentin schon heute tatsächlich
geleistet hat, darf man ihm das Horoskop stellen, daß ihm noch viele Früchte
des Fleißes und Talentes zu zeitigen und für viele ein geistiger Lebenswert
zu werden vergönnt sein wird, sodaß mit einemmale die literarische Marke „Veit
Valentin" als verjüngter Phönix aus der Asche aufsteigt.

Das Buch über die Stadt Frankfurt am Main in den Revolutionsjahren
1848 und 1849 erscheint mir als eine ganz stupende Leistung eines Anfängers,
der nach seinen Jahren als solcher vorausgesetzt wird. Beim Lesen habe ich
wohl einmal nach dem Umschlag des Buches zurückgeschlagen wie in tiefster
Verwunderung, ob wirklich ein Vierundzwanzigjähriger mit so männlicher
Reife sprechen könne, aber was sonst „Veit Valentin" hieß, konnte hier ja
nun nicht das Wort geführt haben. Es ist mir wirklich ergangen wie einem
andern jungen Frankfurter gegenüber, wenn es mir unbegreiflich schien, woher
dem Dichter des „Götz von Berlichingen" diese manchmal das Menschen¬
wesen durch und durch sehende Seelenkunde in so jungen Jahren gekommen
sein möchte.

Zunächst muß jedoch wohl von der Forschung die Rede sein. Ich glaube,
dieser Schüler, der noch vor kurzem zu ihren Füßen gesessen hat, macht seinen


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[0233] Veit Valentin männer zu wenden. Sobald aber hinzukommend die zweite und dritte Aufgabe mit Talent gehandhabt wird, gehören den Werken der Geschichtschreibung alle Herzen und der Beschäftigung mit ihnen ein gutes Stück der Mußezeit, die sich die Menschen der Gegenwart erübrigen können — notwendigerweise natürlich mit starker Auswahl der Stoffe und Zeiten, wobei, wie ich schon bemerkt habe, die neuen und neusten weitaus bevorzugt werden. Das von Leben pulsierende stoffliche Interesse für Menschen und Dinge hat viel zahlreichere Träger seiner selbst als das abgeklärte schöngeistige für die rein künstlerische Form und ihre idealen Gehalte. In der Geschichte ist auch das Vergangne alles voll Leben, Bewegung, realer Menschlichkeit, voll Beziehung und Ähnlichkeit der Akteure von ehedem und heute und immer; die in sich abgeschlossenen Welten der Schöpfungen der Kunst haben im Gegensatz dazu etwas an sich, was Schiller »der Schönheit stille Schattenlande" nennt. Philosophischer, das Zufällige vom Wesenhaften ausschließender, ewig wahrer sind dabei doch nach der Erkenntnis des Aristoteles, die seit Lessing alle erlauchten deutschen Geister teilen, die Bilder des Lebens, die von den Werken der Kunst geschaffen, als die von der Geschichte einer einmaligen, vorübergerauschten Wirklichkeit nachgezeichnet werden: aber von ganzem Herzen das zu empfinden vermag doch nur eine durch feinere Begabung und ausgewähltere Bildungswege durchgesiebtere Minderheit, während die Mehrheit statt dem rein Schönen dem „Interessanten" zufällt. So hat Veit Valentin der Sohn einen für den Erfolg weit günstigern Kreis der Arbeit und des Wirkens, als ihn Veit Valentin der Vater hatte; dazu kommt, daß ihm die Wege des Lebens durch die Mühen des Vaters weit geebneter find, als sie es diesem durch das bescheidne Glück seines Vaters im Kampfe um die Existenz waren. Nach dem, was der junge Veit Valentin schon heute tatsächlich geleistet hat, darf man ihm das Horoskop stellen, daß ihm noch viele Früchte des Fleißes und Talentes zu zeitigen und für viele ein geistiger Lebenswert zu werden vergönnt sein wird, sodaß mit einemmale die literarische Marke „Veit Valentin" als verjüngter Phönix aus der Asche aufsteigt. Das Buch über die Stadt Frankfurt am Main in den Revolutionsjahren 1848 und 1849 erscheint mir als eine ganz stupende Leistung eines Anfängers, der nach seinen Jahren als solcher vorausgesetzt wird. Beim Lesen habe ich wohl einmal nach dem Umschlag des Buches zurückgeschlagen wie in tiefster Verwunderung, ob wirklich ein Vierundzwanzigjähriger mit so männlicher Reife sprechen könne, aber was sonst „Veit Valentin" hieß, konnte hier ja nun nicht das Wort geführt haben. Es ist mir wirklich ergangen wie einem andern jungen Frankfurter gegenüber, wenn es mir unbegreiflich schien, woher dem Dichter des „Götz von Berlichingen" diese manchmal das Menschen¬ wesen durch und durch sehende Seelenkunde in so jungen Jahren gekommen sein möchte. Zunächst muß jedoch wohl von der Forschung die Rede sein. Ich glaube, dieser Schüler, der noch vor kurzem zu ihren Füßen gesessen hat, macht seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/233>, abgerufen am 22.12.2024.