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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Das Moderne in Luther

Wir empfinden dasselbe wie unsre Vorfahren, wenn wir fürchten, hoffen, wünschen,
uns freuen oder betrüben, aber die Gegenstände unsrer Gemütsbewegungen sind
zum Teil andre geworden, und wir reagieren auf äußere Einwirkungen mit andern
Handlungen. Außerdem ist unser Geist weit reicher an Vorstellungen, und zwar
nicht an Phantastischen, sondern an Wirklichkeitsvorstellungen, und das beschleunigt
mit der Raschheit des heutigen Verkehrs zusammen den Ablauf unsrer Vor¬
stellungen, unsern Gedankenfluß. Der durchschnittliche heutige Mensch mag also
(ich wage nicht, es unbedingt zu behaupten, denn ein Übermaß äußerer Eindrücke
stumpft oft ab: die Bilder fliehen vorüber, ohne in die Seele einzudringen, wie
auf einer Eisenbahnfahrt) ein reicheres Innenleben haben als der durchschnittliche
Mensch früherer Zeiten.

Einen weit tiefern Unterschied nimmt Karl Vogt an in seinem schönen
Buche: Der moderne Mensch in Luther (Eugen Diederichs in Jena 1908).
Er sieht den Hauptunterschied darin, daß der moderne Mensch undogmatisch sei.
die Idee als etwas Fließendes begriffen habe. Richtig ist ja, daß Formulierungen
eines Gedankens, eines Verhältnisses, eines Zustandes, die der Wirklichkeit eines
bestimmten Zeitabschnitts durchaus entsprechen und darum nützlich sind, weil sie
die gegenseitige Verständigung und gemeinsames Handeln ermöglichen, daß solche
dogmatischen Formulierungen zur Lüge und zu einem Hindernis des Fortschritts
werden, sobald sich die Wirklichkeit, deren Ausdruck sie waren, geändert hat.
Aber die Erkenntnis des Flusses der Dinge und der Idee ist nichts Neues,
sondern die alte Weisheit des Heraklit, die zweitausend Jahre vor Nietzsche von
den Sophisten dazu benutzt wurde, den Satz zu beweisen: Nichts ist wahr, alles
ist erlaubt. Der unaufhörliche Fluß ist aber nur eine Seite der Wirklichkeit;
die andre ist das unveränderliche Sein des Parmenides, und Plato hat das
Verhältnis beider zueinander richtig bestimmt: im Fluß der sinnlich wahrnehm¬
baren Dinge stellt sich uns das unveränderliche Sein, die Idee, unter wechselnden
Aspekten dar. Vogt demonstriert den Wandel unter anderen an Ehe und Eigentum,
aber gerade an diesen beiden Grundverhältnissen des sozialen Lebens tritt die
Richtigkeit der platonischen Auffassung deutlich hervor. Die Idee der Ehe ist
unveränderlich. Gerade einem feinfühlenden modernen Gemüte ist der Gedanke an
eine andre Form des Verkehrs der Geschlechter, der Kinderzeugung und Kinder¬
erziehung als die Monogamie unerträglich. Promisknität, Polygamie und Poly-
andrie sind ihm ein Greuel. Daß die Verhältnisse Ausnahmen erzwingen können,
und daß sich die Leidenschaft und der ungebändigte Naturtrieb auch ohne den
Zwang der Notwendigkeit Ausnahmen gestatten, kann er natürlich nicht leugnen,
aber er wird niemals zugeben, daß die Ausnahme zur Regel werden dürfe. Was
sich ändert, und was sich immer ändern wird, das find die Bräuche der Werbung
des Mannes, die gesetzlichen Formen der Eheschließung, die Abgrenzung der
Rechte zwischen den Gatten sowie zwischen Eltern und Kindern. Die Formen
fließen mit den Zuständen, die Idee der Ehe ist von Adam und Odysseus bis
heute unverändert geblieben.


Das Moderne in Luther

Wir empfinden dasselbe wie unsre Vorfahren, wenn wir fürchten, hoffen, wünschen,
uns freuen oder betrüben, aber die Gegenstände unsrer Gemütsbewegungen sind
zum Teil andre geworden, und wir reagieren auf äußere Einwirkungen mit andern
Handlungen. Außerdem ist unser Geist weit reicher an Vorstellungen, und zwar
nicht an Phantastischen, sondern an Wirklichkeitsvorstellungen, und das beschleunigt
mit der Raschheit des heutigen Verkehrs zusammen den Ablauf unsrer Vor¬
stellungen, unsern Gedankenfluß. Der durchschnittliche heutige Mensch mag also
(ich wage nicht, es unbedingt zu behaupten, denn ein Übermaß äußerer Eindrücke
stumpft oft ab: die Bilder fliehen vorüber, ohne in die Seele einzudringen, wie
auf einer Eisenbahnfahrt) ein reicheres Innenleben haben als der durchschnittliche
Mensch früherer Zeiten.

Einen weit tiefern Unterschied nimmt Karl Vogt an in seinem schönen
Buche: Der moderne Mensch in Luther (Eugen Diederichs in Jena 1908).
Er sieht den Hauptunterschied darin, daß der moderne Mensch undogmatisch sei.
die Idee als etwas Fließendes begriffen habe. Richtig ist ja, daß Formulierungen
eines Gedankens, eines Verhältnisses, eines Zustandes, die der Wirklichkeit eines
bestimmten Zeitabschnitts durchaus entsprechen und darum nützlich sind, weil sie
die gegenseitige Verständigung und gemeinsames Handeln ermöglichen, daß solche
dogmatischen Formulierungen zur Lüge und zu einem Hindernis des Fortschritts
werden, sobald sich die Wirklichkeit, deren Ausdruck sie waren, geändert hat.
Aber die Erkenntnis des Flusses der Dinge und der Idee ist nichts Neues,
sondern die alte Weisheit des Heraklit, die zweitausend Jahre vor Nietzsche von
den Sophisten dazu benutzt wurde, den Satz zu beweisen: Nichts ist wahr, alles
ist erlaubt. Der unaufhörliche Fluß ist aber nur eine Seite der Wirklichkeit;
die andre ist das unveränderliche Sein des Parmenides, und Plato hat das
Verhältnis beider zueinander richtig bestimmt: im Fluß der sinnlich wahrnehm¬
baren Dinge stellt sich uns das unveränderliche Sein, die Idee, unter wechselnden
Aspekten dar. Vogt demonstriert den Wandel unter anderen an Ehe und Eigentum,
aber gerade an diesen beiden Grundverhältnissen des sozialen Lebens tritt die
Richtigkeit der platonischen Auffassung deutlich hervor. Die Idee der Ehe ist
unveränderlich. Gerade einem feinfühlenden modernen Gemüte ist der Gedanke an
eine andre Form des Verkehrs der Geschlechter, der Kinderzeugung und Kinder¬
erziehung als die Monogamie unerträglich. Promisknität, Polygamie und Poly-
andrie sind ihm ein Greuel. Daß die Verhältnisse Ausnahmen erzwingen können,
und daß sich die Leidenschaft und der ungebändigte Naturtrieb auch ohne den
Zwang der Notwendigkeit Ausnahmen gestatten, kann er natürlich nicht leugnen,
aber er wird niemals zugeben, daß die Ausnahme zur Regel werden dürfe. Was
sich ändert, und was sich immer ändern wird, das find die Bräuche der Werbung
des Mannes, die gesetzlichen Formen der Eheschließung, die Abgrenzung der
Rechte zwischen den Gatten sowie zwischen Eltern und Kindern. Die Formen
fließen mit den Zuständen, die Idee der Ehe ist von Adam und Odysseus bis
heute unverändert geblieben.


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[0220] Das Moderne in Luther Wir empfinden dasselbe wie unsre Vorfahren, wenn wir fürchten, hoffen, wünschen, uns freuen oder betrüben, aber die Gegenstände unsrer Gemütsbewegungen sind zum Teil andre geworden, und wir reagieren auf äußere Einwirkungen mit andern Handlungen. Außerdem ist unser Geist weit reicher an Vorstellungen, und zwar nicht an Phantastischen, sondern an Wirklichkeitsvorstellungen, und das beschleunigt mit der Raschheit des heutigen Verkehrs zusammen den Ablauf unsrer Vor¬ stellungen, unsern Gedankenfluß. Der durchschnittliche heutige Mensch mag also (ich wage nicht, es unbedingt zu behaupten, denn ein Übermaß äußerer Eindrücke stumpft oft ab: die Bilder fliehen vorüber, ohne in die Seele einzudringen, wie auf einer Eisenbahnfahrt) ein reicheres Innenleben haben als der durchschnittliche Mensch früherer Zeiten. Einen weit tiefern Unterschied nimmt Karl Vogt an in seinem schönen Buche: Der moderne Mensch in Luther (Eugen Diederichs in Jena 1908). Er sieht den Hauptunterschied darin, daß der moderne Mensch undogmatisch sei. die Idee als etwas Fließendes begriffen habe. Richtig ist ja, daß Formulierungen eines Gedankens, eines Verhältnisses, eines Zustandes, die der Wirklichkeit eines bestimmten Zeitabschnitts durchaus entsprechen und darum nützlich sind, weil sie die gegenseitige Verständigung und gemeinsames Handeln ermöglichen, daß solche dogmatischen Formulierungen zur Lüge und zu einem Hindernis des Fortschritts werden, sobald sich die Wirklichkeit, deren Ausdruck sie waren, geändert hat. Aber die Erkenntnis des Flusses der Dinge und der Idee ist nichts Neues, sondern die alte Weisheit des Heraklit, die zweitausend Jahre vor Nietzsche von den Sophisten dazu benutzt wurde, den Satz zu beweisen: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Der unaufhörliche Fluß ist aber nur eine Seite der Wirklichkeit; die andre ist das unveränderliche Sein des Parmenides, und Plato hat das Verhältnis beider zueinander richtig bestimmt: im Fluß der sinnlich wahrnehm¬ baren Dinge stellt sich uns das unveränderliche Sein, die Idee, unter wechselnden Aspekten dar. Vogt demonstriert den Wandel unter anderen an Ehe und Eigentum, aber gerade an diesen beiden Grundverhältnissen des sozialen Lebens tritt die Richtigkeit der platonischen Auffassung deutlich hervor. Die Idee der Ehe ist unveränderlich. Gerade einem feinfühlenden modernen Gemüte ist der Gedanke an eine andre Form des Verkehrs der Geschlechter, der Kinderzeugung und Kinder¬ erziehung als die Monogamie unerträglich. Promisknität, Polygamie und Poly- andrie sind ihm ein Greuel. Daß die Verhältnisse Ausnahmen erzwingen können, und daß sich die Leidenschaft und der ungebändigte Naturtrieb auch ohne den Zwang der Notwendigkeit Ausnahmen gestatten, kann er natürlich nicht leugnen, aber er wird niemals zugeben, daß die Ausnahme zur Regel werden dürfe. Was sich ändert, und was sich immer ändern wird, das find die Bräuche der Werbung des Mannes, die gesetzlichen Formen der Eheschließung, die Abgrenzung der Rechte zwischen den Gatten sowie zwischen Eltern und Kindern. Die Formen fließen mit den Zuständen, die Idee der Ehe ist von Adam und Odysseus bis heute unverändert geblieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/220>, abgerufen am 22.07.2024.