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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die Aussichten der christlichen Religion in "Lhinä

Ausübung ihrer Lehre gestört, obgleich ihre Zahl vielleicht beinahe das zwanzig¬
fache von der der Christen beträgt. Wie ist nun dieser auffallende Unterschied
in der Behandlung der Anhänger der beiden monotheistischen Religionen zu
erklären? Die christlichen Missionare sind allzu sehr geneigt, als Antwort die
Behauptung aufzustellen, es läge nur daran, daß sie als Westländer und "fremde
Teufel" den Chinesen verhaßt wären, wogegen es schon seit vielen Jahrhunderten
keine proselytierenden Araber mehr in China gäbe. Gewiß wirkt dieser Umstand
mit, doch der Hauptgrund ist ein andrer. Wer sich nämlich hierzulande in
einer Moschee aufmerksam umsieht, der wird stets eine Tafel darin angebracht
finden, worauf in goldnen Schriftzeichen die Worte zu lesen sind: "Möge der
Kaiser zehntausend Jahre lang regieren!" Nun wird man vielleicht denken:
ja, was kommt denn am Ende so sehr viel darauf an, ob eine derartige Tafel
in dem Gotteshause vorhanden ist oder nicht! Die Sache wird jedoch sofort
in das richtige Licht gerückt, wenn erwähnt wird, daß sämtliche größern
konfuzianischen, buddhistischen und taoistischen Tempel dem Kaiser genau dieselbe
Ehre erweisen. Wir haben es hierbei mit einem allgemeinen Gebote der Re¬
gierung zu tun. In jedem Gotteshause soll der Sohn des Himmels so verehrt
werden. Wenn sich eine Religionsgemeinschaft dem fügen will, so darf sie im
übrigen ziemlich ihrem eignen Willen folgen.

Die Chinesen sind im Grunde in religiöser Beziehung ein sehr tolerantes
Volk. Religionskriege, diese entsetzlichen Geißeln der abendländischen Menschheit,
kommen in ihrer Geschichte nicht vor. Selbst die beiden großen mohammedanischen
Empörungen des vorigen Jahrhunderts in den Provinzen Kansu und Milman
hatten mit der Religion nichts zu tun. Diese entlegnen und vorher schon mehr
oder weniger unabhängigen Landesteile wollten sich vielmehr politisch völlig
vom Reiche losreißen. Während der dann folgenden jahrelangen Anstrengungen
der Pekinger Negierung, die Auflehnungen mit erbarmungsloser Strenge und
Grausamkeit niederzuwerfen, blieben die 200000 in der Hauptstadt lebenden
Mohammedaner ganz unbelästigt, was am besten beweist, wie wenig es auf
das Bekenntnis der Rebellen ankam. Man hat auch niemals gehört, das
Gebot, den Kaiser in den Moscheen auf die angegebne Art zu verehren, habe
irgendwie mit den erwähnten Empörungen im Zusammenhang gestanden.

Es braucht nun kaum eigens bemerkt zu werden, daß sich keine christliche
Gemeinschaft in China bereit finden würde, von ihren Mitgliedern zu verlangen,
sie sollten in der Kirche vor einer dort zu Ehren des Kaisers angebrachten
Tafel die Knie beugen, wie es die Mohammedaner in ihren Moscheen tun.

Die auf dem Drachenthrone sitzenden Herrscher sind an sich keineswegs
immer abgeneigt gewesen, die christliche Religion in ihr Land einzulassen. Im
Gegenteil, wiederholt haben sich die Missionare in Peking sogar großer Achtung
erfreut. Dies gilt besonders von den Jesuiten, die im siebzehnten Jahrhundert
bei dem großen Kaiser Kang Hi, aus der noch jetzt regierenden Dynastie,
vielleicht dem bedeutendsten Herrscher, den China jemals gehabt hat, in höchstem


Die Aussichten der christlichen Religion in «Lhinä

Ausübung ihrer Lehre gestört, obgleich ihre Zahl vielleicht beinahe das zwanzig¬
fache von der der Christen beträgt. Wie ist nun dieser auffallende Unterschied
in der Behandlung der Anhänger der beiden monotheistischen Religionen zu
erklären? Die christlichen Missionare sind allzu sehr geneigt, als Antwort die
Behauptung aufzustellen, es läge nur daran, daß sie als Westländer und „fremde
Teufel" den Chinesen verhaßt wären, wogegen es schon seit vielen Jahrhunderten
keine proselytierenden Araber mehr in China gäbe. Gewiß wirkt dieser Umstand
mit, doch der Hauptgrund ist ein andrer. Wer sich nämlich hierzulande in
einer Moschee aufmerksam umsieht, der wird stets eine Tafel darin angebracht
finden, worauf in goldnen Schriftzeichen die Worte zu lesen sind: „Möge der
Kaiser zehntausend Jahre lang regieren!" Nun wird man vielleicht denken:
ja, was kommt denn am Ende so sehr viel darauf an, ob eine derartige Tafel
in dem Gotteshause vorhanden ist oder nicht! Die Sache wird jedoch sofort
in das richtige Licht gerückt, wenn erwähnt wird, daß sämtliche größern
konfuzianischen, buddhistischen und taoistischen Tempel dem Kaiser genau dieselbe
Ehre erweisen. Wir haben es hierbei mit einem allgemeinen Gebote der Re¬
gierung zu tun. In jedem Gotteshause soll der Sohn des Himmels so verehrt
werden. Wenn sich eine Religionsgemeinschaft dem fügen will, so darf sie im
übrigen ziemlich ihrem eignen Willen folgen.

Die Chinesen sind im Grunde in religiöser Beziehung ein sehr tolerantes
Volk. Religionskriege, diese entsetzlichen Geißeln der abendländischen Menschheit,
kommen in ihrer Geschichte nicht vor. Selbst die beiden großen mohammedanischen
Empörungen des vorigen Jahrhunderts in den Provinzen Kansu und Milman
hatten mit der Religion nichts zu tun. Diese entlegnen und vorher schon mehr
oder weniger unabhängigen Landesteile wollten sich vielmehr politisch völlig
vom Reiche losreißen. Während der dann folgenden jahrelangen Anstrengungen
der Pekinger Negierung, die Auflehnungen mit erbarmungsloser Strenge und
Grausamkeit niederzuwerfen, blieben die 200000 in der Hauptstadt lebenden
Mohammedaner ganz unbelästigt, was am besten beweist, wie wenig es auf
das Bekenntnis der Rebellen ankam. Man hat auch niemals gehört, das
Gebot, den Kaiser in den Moscheen auf die angegebne Art zu verehren, habe
irgendwie mit den erwähnten Empörungen im Zusammenhang gestanden.

Es braucht nun kaum eigens bemerkt zu werden, daß sich keine christliche
Gemeinschaft in China bereit finden würde, von ihren Mitgliedern zu verlangen,
sie sollten in der Kirche vor einer dort zu Ehren des Kaisers angebrachten
Tafel die Knie beugen, wie es die Mohammedaner in ihren Moscheen tun.

Die auf dem Drachenthrone sitzenden Herrscher sind an sich keineswegs
immer abgeneigt gewesen, die christliche Religion in ihr Land einzulassen. Im
Gegenteil, wiederholt haben sich die Missionare in Peking sogar großer Achtung
erfreut. Dies gilt besonders von den Jesuiten, die im siebzehnten Jahrhundert
bei dem großen Kaiser Kang Hi, aus der noch jetzt regierenden Dynastie,
vielleicht dem bedeutendsten Herrscher, den China jemals gehabt hat, in höchstem


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[0206] Die Aussichten der christlichen Religion in «Lhinä Ausübung ihrer Lehre gestört, obgleich ihre Zahl vielleicht beinahe das zwanzig¬ fache von der der Christen beträgt. Wie ist nun dieser auffallende Unterschied in der Behandlung der Anhänger der beiden monotheistischen Religionen zu erklären? Die christlichen Missionare sind allzu sehr geneigt, als Antwort die Behauptung aufzustellen, es läge nur daran, daß sie als Westländer und „fremde Teufel" den Chinesen verhaßt wären, wogegen es schon seit vielen Jahrhunderten keine proselytierenden Araber mehr in China gäbe. Gewiß wirkt dieser Umstand mit, doch der Hauptgrund ist ein andrer. Wer sich nämlich hierzulande in einer Moschee aufmerksam umsieht, der wird stets eine Tafel darin angebracht finden, worauf in goldnen Schriftzeichen die Worte zu lesen sind: „Möge der Kaiser zehntausend Jahre lang regieren!" Nun wird man vielleicht denken: ja, was kommt denn am Ende so sehr viel darauf an, ob eine derartige Tafel in dem Gotteshause vorhanden ist oder nicht! Die Sache wird jedoch sofort in das richtige Licht gerückt, wenn erwähnt wird, daß sämtliche größern konfuzianischen, buddhistischen und taoistischen Tempel dem Kaiser genau dieselbe Ehre erweisen. Wir haben es hierbei mit einem allgemeinen Gebote der Re¬ gierung zu tun. In jedem Gotteshause soll der Sohn des Himmels so verehrt werden. Wenn sich eine Religionsgemeinschaft dem fügen will, so darf sie im übrigen ziemlich ihrem eignen Willen folgen. Die Chinesen sind im Grunde in religiöser Beziehung ein sehr tolerantes Volk. Religionskriege, diese entsetzlichen Geißeln der abendländischen Menschheit, kommen in ihrer Geschichte nicht vor. Selbst die beiden großen mohammedanischen Empörungen des vorigen Jahrhunderts in den Provinzen Kansu und Milman hatten mit der Religion nichts zu tun. Diese entlegnen und vorher schon mehr oder weniger unabhängigen Landesteile wollten sich vielmehr politisch völlig vom Reiche losreißen. Während der dann folgenden jahrelangen Anstrengungen der Pekinger Negierung, die Auflehnungen mit erbarmungsloser Strenge und Grausamkeit niederzuwerfen, blieben die 200000 in der Hauptstadt lebenden Mohammedaner ganz unbelästigt, was am besten beweist, wie wenig es auf das Bekenntnis der Rebellen ankam. Man hat auch niemals gehört, das Gebot, den Kaiser in den Moscheen auf die angegebne Art zu verehren, habe irgendwie mit den erwähnten Empörungen im Zusammenhang gestanden. Es braucht nun kaum eigens bemerkt zu werden, daß sich keine christliche Gemeinschaft in China bereit finden würde, von ihren Mitgliedern zu verlangen, sie sollten in der Kirche vor einer dort zu Ehren des Kaisers angebrachten Tafel die Knie beugen, wie es die Mohammedaner in ihren Moscheen tun. Die auf dem Drachenthrone sitzenden Herrscher sind an sich keineswegs immer abgeneigt gewesen, die christliche Religion in ihr Land einzulassen. Im Gegenteil, wiederholt haben sich die Missionare in Peking sogar großer Achtung erfreut. Dies gilt besonders von den Jesuiten, die im siebzehnten Jahrhundert bei dem großen Kaiser Kang Hi, aus der noch jetzt regierenden Dynastie, vielleicht dem bedeutendsten Herrscher, den China jemals gehabt hat, in höchstem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/206>, abgerufen am 22.12.2024.