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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Meine Jugend und die Religion

Professor der Chirurgie, der vielen Kranken ein Heiland wurde, genest, die ersten
Stare sind gekommen, die Blitzableiter zu kontrollieren ist es hohe Zeit, ein Arzt
in Berlin hat ein neues Narkotikum gefunden, im Neubau der Firma Rosental
wird die elektrische Beleuchtung eingerichtet -- Heller Tag bei uns und helle Nacht.
Ich faltete das Blatt, das mitten unter hellen, heitern Notizen die grausige Nach¬
richt enthielt, mit spitzen Fingern zusammen, als könnte es mich mit Blut beflecken.

Aus dem Wortgewirr des grauen Drucks, auf dem mein Blick noch haftete,
kroch das Grauen kalt an mich heran: also das Scheusal, die Folter, das ich längst
gestorben wähnte, lebt noch! Nicht weit von unserm hellen Tag und unsrer hellen
Nacht, in dem Lande, aus dem so viele Menschen mit allerlei Gebrechen behaftet
zu den berühmten Ärzten der Universität kommen, quält man noch die Menschen,
um Geständnisse zu erpressen. Wie man dabei verfuhr, war mir nicht rätselhaft. Ich
fühlte ja meinen Vater oft unter der Kontaktplatte des kleinen Elektrisierapparats,
die meine zitternde Hand führte, zusammenzucken. Was ich von Rußland aus
Bildern gesehen hatte, was an Soldaten, Offizieren, Generalen, Ministern, Land¬
schaften, Städtebildern in den letzten Jahren während des russisch-türkischen Kriegs
durch die illustrierten Zeitungen und über die bunten Bilderbogen von Gustav
Kühn in Neu-Ruppin gezogen war, der grelle Reigen gab nun dem Schrecknis,
das formlos aus der Zeitung aufgestiegen war, Gestalt und Farbe. Den Schrecken
der Legenden und der Legendenbilder, den Dämonen in der Toga, in der Tunika,
im Panzer, in der Gugel, in der Robe und in der Halskrause waren meine Helfer,
Tautotee und Conanchet, verstärkt durch Chingachgook und Unkas gewachsen. Daß
die Dämonen der Gegenwart in meine Vorstellungen eindrangen, konnten sie nicht
verhindern, dazu waren diese freundlichen Bewohner und Hüter meiner Phantasie
zu schwach. Wenn der Induktionsapparat sang, erzählte er mir immer von dem
Schrecklichen, das ich vergangen, endgiltig vergangen gewähnt hatte, und das nun
doch noch lebte, in unserm Tag.

So brach das Schrecknis in meine Seele und nahm sie in Besitz. Es schlief
ein, wenn es um mich laut, und wachte auf, wenn es um mich still war und hielt
meine Augen und Ohren für Dämonen seinesgleichen offen. Die fanden den Weg.
Die meisten den durchs Auge, denn meine Eltern sprachen nur von ihren Sorgen
oder wandten manchmal den Blick auf ihre Jugendzeit, die für sie von Hellem,
warmem Sonnenschein erfüllt war. Ich ließ mir am liebsten von den Büchern
erzählen, die mein älterer Bruder und ich aus den Klaßbüchereien und vom dunt-
befahrnen Leihmarkt der eignen und der zeitlich benachbarten Klassen nach Hause
brachten. Da las ich von Rätseln und von Greueln der Geschichte, von Engeln
und vou Teufeln in Menschengestalt, vom Temple und vom Tower, vom Prinzen¬
mord im Tower und vom Prinzenraub in Thüringen, vom Bagno und von der
Bastille, von den Assassinen und von den Femschöffen, von der Folter und von
den Autosdafö, von Ketzern und von Hexen. Und dazwischen hörte ich vom
Schwedenmord und vom Hexenbruch erzählen.

(Fortsetzung folgt)




Meine Jugend und die Religion

Professor der Chirurgie, der vielen Kranken ein Heiland wurde, genest, die ersten
Stare sind gekommen, die Blitzableiter zu kontrollieren ist es hohe Zeit, ein Arzt
in Berlin hat ein neues Narkotikum gefunden, im Neubau der Firma Rosental
wird die elektrische Beleuchtung eingerichtet — Heller Tag bei uns und helle Nacht.
Ich faltete das Blatt, das mitten unter hellen, heitern Notizen die grausige Nach¬
richt enthielt, mit spitzen Fingern zusammen, als könnte es mich mit Blut beflecken.

Aus dem Wortgewirr des grauen Drucks, auf dem mein Blick noch haftete,
kroch das Grauen kalt an mich heran: also das Scheusal, die Folter, das ich längst
gestorben wähnte, lebt noch! Nicht weit von unserm hellen Tag und unsrer hellen
Nacht, in dem Lande, aus dem so viele Menschen mit allerlei Gebrechen behaftet
zu den berühmten Ärzten der Universität kommen, quält man noch die Menschen,
um Geständnisse zu erpressen. Wie man dabei verfuhr, war mir nicht rätselhaft. Ich
fühlte ja meinen Vater oft unter der Kontaktplatte des kleinen Elektrisierapparats,
die meine zitternde Hand führte, zusammenzucken. Was ich von Rußland aus
Bildern gesehen hatte, was an Soldaten, Offizieren, Generalen, Ministern, Land¬
schaften, Städtebildern in den letzten Jahren während des russisch-türkischen Kriegs
durch die illustrierten Zeitungen und über die bunten Bilderbogen von Gustav
Kühn in Neu-Ruppin gezogen war, der grelle Reigen gab nun dem Schrecknis,
das formlos aus der Zeitung aufgestiegen war, Gestalt und Farbe. Den Schrecken
der Legenden und der Legendenbilder, den Dämonen in der Toga, in der Tunika,
im Panzer, in der Gugel, in der Robe und in der Halskrause waren meine Helfer,
Tautotee und Conanchet, verstärkt durch Chingachgook und Unkas gewachsen. Daß
die Dämonen der Gegenwart in meine Vorstellungen eindrangen, konnten sie nicht
verhindern, dazu waren diese freundlichen Bewohner und Hüter meiner Phantasie
zu schwach. Wenn der Induktionsapparat sang, erzählte er mir immer von dem
Schrecklichen, das ich vergangen, endgiltig vergangen gewähnt hatte, und das nun
doch noch lebte, in unserm Tag.

So brach das Schrecknis in meine Seele und nahm sie in Besitz. Es schlief
ein, wenn es um mich laut, und wachte auf, wenn es um mich still war und hielt
meine Augen und Ohren für Dämonen seinesgleichen offen. Die fanden den Weg.
Die meisten den durchs Auge, denn meine Eltern sprachen nur von ihren Sorgen
oder wandten manchmal den Blick auf ihre Jugendzeit, die für sie von Hellem,
warmem Sonnenschein erfüllt war. Ich ließ mir am liebsten von den Büchern
erzählen, die mein älterer Bruder und ich aus den Klaßbüchereien und vom dunt-
befahrnen Leihmarkt der eignen und der zeitlich benachbarten Klassen nach Hause
brachten. Da las ich von Rätseln und von Greueln der Geschichte, von Engeln
und vou Teufeln in Menschengestalt, vom Temple und vom Tower, vom Prinzen¬
mord im Tower und vom Prinzenraub in Thüringen, vom Bagno und von der
Bastille, von den Assassinen und von den Femschöffen, von der Folter und von
den Autosdafö, von Ketzern und von Hexen. Und dazwischen hörte ich vom
Schwedenmord und vom Hexenbruch erzählen.

(Fortsetzung folgt)




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[0191] Meine Jugend und die Religion Professor der Chirurgie, der vielen Kranken ein Heiland wurde, genest, die ersten Stare sind gekommen, die Blitzableiter zu kontrollieren ist es hohe Zeit, ein Arzt in Berlin hat ein neues Narkotikum gefunden, im Neubau der Firma Rosental wird die elektrische Beleuchtung eingerichtet — Heller Tag bei uns und helle Nacht. Ich faltete das Blatt, das mitten unter hellen, heitern Notizen die grausige Nach¬ richt enthielt, mit spitzen Fingern zusammen, als könnte es mich mit Blut beflecken. Aus dem Wortgewirr des grauen Drucks, auf dem mein Blick noch haftete, kroch das Grauen kalt an mich heran: also das Scheusal, die Folter, das ich längst gestorben wähnte, lebt noch! Nicht weit von unserm hellen Tag und unsrer hellen Nacht, in dem Lande, aus dem so viele Menschen mit allerlei Gebrechen behaftet zu den berühmten Ärzten der Universität kommen, quält man noch die Menschen, um Geständnisse zu erpressen. Wie man dabei verfuhr, war mir nicht rätselhaft. Ich fühlte ja meinen Vater oft unter der Kontaktplatte des kleinen Elektrisierapparats, die meine zitternde Hand führte, zusammenzucken. Was ich von Rußland aus Bildern gesehen hatte, was an Soldaten, Offizieren, Generalen, Ministern, Land¬ schaften, Städtebildern in den letzten Jahren während des russisch-türkischen Kriegs durch die illustrierten Zeitungen und über die bunten Bilderbogen von Gustav Kühn in Neu-Ruppin gezogen war, der grelle Reigen gab nun dem Schrecknis, das formlos aus der Zeitung aufgestiegen war, Gestalt und Farbe. Den Schrecken der Legenden und der Legendenbilder, den Dämonen in der Toga, in der Tunika, im Panzer, in der Gugel, in der Robe und in der Halskrause waren meine Helfer, Tautotee und Conanchet, verstärkt durch Chingachgook und Unkas gewachsen. Daß die Dämonen der Gegenwart in meine Vorstellungen eindrangen, konnten sie nicht verhindern, dazu waren diese freundlichen Bewohner und Hüter meiner Phantasie zu schwach. Wenn der Induktionsapparat sang, erzählte er mir immer von dem Schrecklichen, das ich vergangen, endgiltig vergangen gewähnt hatte, und das nun doch noch lebte, in unserm Tag. So brach das Schrecknis in meine Seele und nahm sie in Besitz. Es schlief ein, wenn es um mich laut, und wachte auf, wenn es um mich still war und hielt meine Augen und Ohren für Dämonen seinesgleichen offen. Die fanden den Weg. Die meisten den durchs Auge, denn meine Eltern sprachen nur von ihren Sorgen oder wandten manchmal den Blick auf ihre Jugendzeit, die für sie von Hellem, warmem Sonnenschein erfüllt war. Ich ließ mir am liebsten von den Büchern erzählen, die mein älterer Bruder und ich aus den Klaßbüchereien und vom dunt- befahrnen Leihmarkt der eignen und der zeitlich benachbarten Klassen nach Hause brachten. Da las ich von Rätseln und von Greueln der Geschichte, von Engeln und vou Teufeln in Menschengestalt, vom Temple und vom Tower, vom Prinzen¬ mord im Tower und vom Prinzenraub in Thüringen, vom Bagno und von der Bastille, von den Assassinen und von den Femschöffen, von der Folter und von den Autosdafö, von Ketzern und von Hexen. Und dazwischen hörte ich vom Schwedenmord und vom Hexenbruch erzählen. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/191>, abgerufen am 22.07.2024.