Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Europäisch. asiatische Aulturbeziehungen in Innerasien

Beschleunigung der Bewegung. Für den Nomaden ist die Zeit, die auf eine
Bewegung verwandt wird, völlig gleichgiltig. Diese Zeit wie Raum nicht
achtende Kraft des Wanderns allein ist es, durch die der Mensch die
Schwierigkeiten der asiatischen Länder bezwungen hat.

Wenn die innerasiatischen Gebiete heute verödet sind, so wirken neben
natürlichen Ursachen -- Versandung und Austrocknung -- auch geschichtliche
Ursachen mit. Das große Mongolenreich des dreizehnten Jahrhunderts war
eine politische Machtentfaltung des Nomadentums. Mit ihm ist das
Nomadenwesen im Gegensatz zum agrarischen Wesen der chinesischen Kultur
die Lebensform Jnnerasiens geworden, Diese Zustände aber werden nicht für
alle Zukunft bestehn. Das Vordringen der europäischen Kultur ins Innere
Asiens und die Ausdehnung Chinas, der beiden auf Ackerbau ruhenden
Kulturkreise, wird den Nomadismus überwinden. Wie in dem lange ver¬
ödeten Babylonien und Kleinasien bietet auch in Turkestan eine blühende
Vergangenheit die Gewähr für eine Neubelebung seiner natürlichen Kräfte.
Zurzeit freilich ist im Lande selbst noch nichts geschaffen worden. Seit der letzten
Eroberung durch die Chinesen (1878) betrachtet die chinesische Verwaltung
diese neunzehnte Provinz des Reiches nur als "Grenze". Die chinesischen
Behörden tun nichts zur Hebung des Landes; eine schwere Steuerlast hält
die bäuerliche Bevölkerung nieder. Von der entarteten türkischen Bevölkerung
der Städte ist nichts zu erwarten; sie ist durch das Laster des Nischerauchens,
das noch ärger wirken soll als Opium, völlig entartet und wird durch ihre
Spielleidenschaft wirtschaftlich ruiniert; ihre Habe wandert in die zahllosen
chinesischen Leihhäuser. Ein kräftiger Bestand in der Bevölkerung sind die
nomadischen Kirgisen, die Bewohner des Gebirges. Vorläufig sind sie von
der Kultur wenig berührt; aber in ihnen hat das Land gesunde Kräfte für
die Zukunft.

Auch aus den Bedingungen, die die Natur bietet, lassen sich im Lande
Werte schaffen. Das Land ist am Fuß der Gebirge reich an Wasserkräften;
vor einem Jahrtausend haben die Chinesen sie vortrefflich ausgenutzt. Das läßt
sich mit besserer Technik -- mit Stauungen und Kanalisation -- wiedergewinnen.
Turkestan kann -- darauf hat für Russisch-Turkestan vor Jahren der Astronom
E. von Schwarz hingewiesen -- ein Land bedeutender Baumwollenkultur
werden. Welchen Wert durch sie der Boden gewinnt, zeigt Ägypten. Schon
heute erzeugt die Ebene von Kaschgar ungeheure Mengen an Gemüse, Obst
und Wein in bester Qualität. Die Baumkultur kann überall gefördert werden.
Die Viehzucht liegt noch völlig im argen; aber die Ebene wie das Gebirge
bieten ihr die günstigsten Bedingungen. Ob das Land auch eine industrielle
Entwicklung begünstigt, ist ungewiß. Materialien und Arbeitskräfte sind im
Lande selbst sehr billig. Reiche Wasserkräfte liefert nicht allzuweit von der
Ebene das Gebirge; vielleicht ermöglichen sie einmal größere Produktion.
Kohle ist zwar vorhanden; es ist aber noch nicht bekannt, ob die Lager


Grenzboten III 1909 SS
Europäisch. asiatische Aulturbeziehungen in Innerasien

Beschleunigung der Bewegung. Für den Nomaden ist die Zeit, die auf eine
Bewegung verwandt wird, völlig gleichgiltig. Diese Zeit wie Raum nicht
achtende Kraft des Wanderns allein ist es, durch die der Mensch die
Schwierigkeiten der asiatischen Länder bezwungen hat.

Wenn die innerasiatischen Gebiete heute verödet sind, so wirken neben
natürlichen Ursachen — Versandung und Austrocknung — auch geschichtliche
Ursachen mit. Das große Mongolenreich des dreizehnten Jahrhunderts war
eine politische Machtentfaltung des Nomadentums. Mit ihm ist das
Nomadenwesen im Gegensatz zum agrarischen Wesen der chinesischen Kultur
die Lebensform Jnnerasiens geworden, Diese Zustände aber werden nicht für
alle Zukunft bestehn. Das Vordringen der europäischen Kultur ins Innere
Asiens und die Ausdehnung Chinas, der beiden auf Ackerbau ruhenden
Kulturkreise, wird den Nomadismus überwinden. Wie in dem lange ver¬
ödeten Babylonien und Kleinasien bietet auch in Turkestan eine blühende
Vergangenheit die Gewähr für eine Neubelebung seiner natürlichen Kräfte.
Zurzeit freilich ist im Lande selbst noch nichts geschaffen worden. Seit der letzten
Eroberung durch die Chinesen (1878) betrachtet die chinesische Verwaltung
diese neunzehnte Provinz des Reiches nur als „Grenze". Die chinesischen
Behörden tun nichts zur Hebung des Landes; eine schwere Steuerlast hält
die bäuerliche Bevölkerung nieder. Von der entarteten türkischen Bevölkerung
der Städte ist nichts zu erwarten; sie ist durch das Laster des Nischerauchens,
das noch ärger wirken soll als Opium, völlig entartet und wird durch ihre
Spielleidenschaft wirtschaftlich ruiniert; ihre Habe wandert in die zahllosen
chinesischen Leihhäuser. Ein kräftiger Bestand in der Bevölkerung sind die
nomadischen Kirgisen, die Bewohner des Gebirges. Vorläufig sind sie von
der Kultur wenig berührt; aber in ihnen hat das Land gesunde Kräfte für
die Zukunft.

Auch aus den Bedingungen, die die Natur bietet, lassen sich im Lande
Werte schaffen. Das Land ist am Fuß der Gebirge reich an Wasserkräften;
vor einem Jahrtausend haben die Chinesen sie vortrefflich ausgenutzt. Das läßt
sich mit besserer Technik — mit Stauungen und Kanalisation — wiedergewinnen.
Turkestan kann — darauf hat für Russisch-Turkestan vor Jahren der Astronom
E. von Schwarz hingewiesen — ein Land bedeutender Baumwollenkultur
werden. Welchen Wert durch sie der Boden gewinnt, zeigt Ägypten. Schon
heute erzeugt die Ebene von Kaschgar ungeheure Mengen an Gemüse, Obst
und Wein in bester Qualität. Die Baumkultur kann überall gefördert werden.
Die Viehzucht liegt noch völlig im argen; aber die Ebene wie das Gebirge
bieten ihr die günstigsten Bedingungen. Ob das Land auch eine industrielle
Entwicklung begünstigt, ist ungewiß. Materialien und Arbeitskräfte sind im
Lande selbst sehr billig. Reiche Wasserkräfte liefert nicht allzuweit von der
Ebene das Gebirge; vielleicht ermöglichen sie einmal größere Produktion.
Kohle ist zwar vorhanden; es ist aber noch nicht bekannt, ob die Lager


Grenzboten III 1909 SS
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313876"/>
            <fw type="header" place="top"> Europäisch. asiatische Aulturbeziehungen in Innerasien</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_673" prev="#ID_672"> Beschleunigung der Bewegung. Für den Nomaden ist die Zeit, die auf eine<lb/>
Bewegung verwandt wird, völlig gleichgiltig. Diese Zeit wie Raum nicht<lb/>
achtende Kraft des Wanderns allein ist es, durch die der Mensch die<lb/>
Schwierigkeiten der asiatischen Länder bezwungen hat.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_674"> Wenn die innerasiatischen Gebiete heute verödet sind, so wirken neben<lb/>
natürlichen Ursachen &#x2014; Versandung und Austrocknung &#x2014; auch geschichtliche<lb/>
Ursachen mit. Das große Mongolenreich des dreizehnten Jahrhunderts war<lb/>
eine politische Machtentfaltung des Nomadentums. Mit ihm ist das<lb/>
Nomadenwesen im Gegensatz zum agrarischen Wesen der chinesischen Kultur<lb/>
die Lebensform Jnnerasiens geworden, Diese Zustände aber werden nicht für<lb/>
alle Zukunft bestehn. Das Vordringen der europäischen Kultur ins Innere<lb/>
Asiens und die Ausdehnung Chinas, der beiden auf Ackerbau ruhenden<lb/>
Kulturkreise, wird den Nomadismus überwinden. Wie in dem lange ver¬<lb/>
ödeten Babylonien und Kleinasien bietet auch in Turkestan eine blühende<lb/>
Vergangenheit die Gewähr für eine Neubelebung seiner natürlichen Kräfte.<lb/>
Zurzeit freilich ist im Lande selbst noch nichts geschaffen worden. Seit der letzten<lb/>
Eroberung durch die Chinesen (1878) betrachtet die chinesische Verwaltung<lb/>
diese neunzehnte Provinz des Reiches nur als &#x201E;Grenze". Die chinesischen<lb/>
Behörden tun nichts zur Hebung des Landes; eine schwere Steuerlast hält<lb/>
die bäuerliche Bevölkerung nieder. Von der entarteten türkischen Bevölkerung<lb/>
der Städte ist nichts zu erwarten; sie ist durch das Laster des Nischerauchens,<lb/>
das noch ärger wirken soll als Opium, völlig entartet und wird durch ihre<lb/>
Spielleidenschaft wirtschaftlich ruiniert; ihre Habe wandert in die zahllosen<lb/>
chinesischen Leihhäuser. Ein kräftiger Bestand in der Bevölkerung sind die<lb/>
nomadischen Kirgisen, die Bewohner des Gebirges. Vorläufig sind sie von<lb/>
der Kultur wenig berührt; aber in ihnen hat das Land gesunde Kräfte für<lb/>
die Zukunft.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_675" next="#ID_676"> Auch aus den Bedingungen, die die Natur bietet, lassen sich im Lande<lb/>
Werte schaffen. Das Land ist am Fuß der Gebirge reich an Wasserkräften;<lb/>
vor einem Jahrtausend haben die Chinesen sie vortrefflich ausgenutzt. Das läßt<lb/>
sich mit besserer Technik &#x2014; mit Stauungen und Kanalisation &#x2014; wiedergewinnen.<lb/>
Turkestan kann &#x2014; darauf hat für Russisch-Turkestan vor Jahren der Astronom<lb/>
E. von Schwarz hingewiesen &#x2014; ein Land bedeutender Baumwollenkultur<lb/>
werden. Welchen Wert durch sie der Boden gewinnt, zeigt Ägypten. Schon<lb/>
heute erzeugt die Ebene von Kaschgar ungeheure Mengen an Gemüse, Obst<lb/>
und Wein in bester Qualität. Die Baumkultur kann überall gefördert werden.<lb/>
Die Viehzucht liegt noch völlig im argen; aber die Ebene wie das Gebirge<lb/>
bieten ihr die günstigsten Bedingungen. Ob das Land auch eine industrielle<lb/>
Entwicklung begünstigt, ist ungewiß. Materialien und Arbeitskräfte sind im<lb/>
Lande selbst sehr billig. Reiche Wasserkräfte liefert nicht allzuweit von der<lb/>
Ebene das Gebirge; vielleicht ermöglichen sie einmal größere Produktion.<lb/>
Kohle ist zwar vorhanden; es ist aber noch nicht bekannt, ob die Lager</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1909 SS</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0173] Europäisch. asiatische Aulturbeziehungen in Innerasien Beschleunigung der Bewegung. Für den Nomaden ist die Zeit, die auf eine Bewegung verwandt wird, völlig gleichgiltig. Diese Zeit wie Raum nicht achtende Kraft des Wanderns allein ist es, durch die der Mensch die Schwierigkeiten der asiatischen Länder bezwungen hat. Wenn die innerasiatischen Gebiete heute verödet sind, so wirken neben natürlichen Ursachen — Versandung und Austrocknung — auch geschichtliche Ursachen mit. Das große Mongolenreich des dreizehnten Jahrhunderts war eine politische Machtentfaltung des Nomadentums. Mit ihm ist das Nomadenwesen im Gegensatz zum agrarischen Wesen der chinesischen Kultur die Lebensform Jnnerasiens geworden, Diese Zustände aber werden nicht für alle Zukunft bestehn. Das Vordringen der europäischen Kultur ins Innere Asiens und die Ausdehnung Chinas, der beiden auf Ackerbau ruhenden Kulturkreise, wird den Nomadismus überwinden. Wie in dem lange ver¬ ödeten Babylonien und Kleinasien bietet auch in Turkestan eine blühende Vergangenheit die Gewähr für eine Neubelebung seiner natürlichen Kräfte. Zurzeit freilich ist im Lande selbst noch nichts geschaffen worden. Seit der letzten Eroberung durch die Chinesen (1878) betrachtet die chinesische Verwaltung diese neunzehnte Provinz des Reiches nur als „Grenze". Die chinesischen Behörden tun nichts zur Hebung des Landes; eine schwere Steuerlast hält die bäuerliche Bevölkerung nieder. Von der entarteten türkischen Bevölkerung der Städte ist nichts zu erwarten; sie ist durch das Laster des Nischerauchens, das noch ärger wirken soll als Opium, völlig entartet und wird durch ihre Spielleidenschaft wirtschaftlich ruiniert; ihre Habe wandert in die zahllosen chinesischen Leihhäuser. Ein kräftiger Bestand in der Bevölkerung sind die nomadischen Kirgisen, die Bewohner des Gebirges. Vorläufig sind sie von der Kultur wenig berührt; aber in ihnen hat das Land gesunde Kräfte für die Zukunft. Auch aus den Bedingungen, die die Natur bietet, lassen sich im Lande Werte schaffen. Das Land ist am Fuß der Gebirge reich an Wasserkräften; vor einem Jahrtausend haben die Chinesen sie vortrefflich ausgenutzt. Das läßt sich mit besserer Technik — mit Stauungen und Kanalisation — wiedergewinnen. Turkestan kann — darauf hat für Russisch-Turkestan vor Jahren der Astronom E. von Schwarz hingewiesen — ein Land bedeutender Baumwollenkultur werden. Welchen Wert durch sie der Boden gewinnt, zeigt Ägypten. Schon heute erzeugt die Ebene von Kaschgar ungeheure Mengen an Gemüse, Obst und Wein in bester Qualität. Die Baumkultur kann überall gefördert werden. Die Viehzucht liegt noch völlig im argen; aber die Ebene wie das Gebirge bieten ihr die günstigsten Bedingungen. Ob das Land auch eine industrielle Entwicklung begünstigt, ist ungewiß. Materialien und Arbeitskräfte sind im Lande selbst sehr billig. Reiche Wasserkräfte liefert nicht allzuweit von der Ebene das Gebirge; vielleicht ermöglichen sie einmal größere Produktion. Kohle ist zwar vorhanden; es ist aber noch nicht bekannt, ob die Lager Grenzboten III 1909 SS

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/173
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/173>, abgerufen am 22.12.2024.