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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Johannes Lalvin in seinen Briefen

gescheut zur Calvinfeier ist unserm Volke jetzt eine Biographie Calvins beschert
worden, die uns den Mann wirklich kennen lehrt, eine große Sammlung von
Briefen Calvins in deutscher Übersetzung, die uns wirklich, wie ihr Titel sagt,
Calvins Lebenswerk in wahrer Vollständigkeit, Echtheit und Anschaulichkeit
vor Augen führt.*)

Daß diese Briefsammlung (sie bietet von den etwa 1250 erhaltnen Briefen
des Reformators 759) vom höchsten Werte für jeden Gebildeten ist, der sich
überhaupt um ein lebendiges Verständnis der gewaltigen Kämpfe der Re¬
formationszeit bemüht, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Welches
bunte, reiche Bild auch der politischen und Kulturverhältnisse jener Zeit, das
wir aus diesen Briefen gewinnen -- der Zeit, wo Kaiser und Könige, die nur
ihre höchst weltlichen Ziele im Auge haben, als Schirmherren der christlichen
Kirche dastehn, und fromme schlichte Leute, die nichts andres wollen als Gott
von Herzen dienen, als verfluchte Ketzer den Scheiterhaufen besteigen müssen --
wo Hunderte von vornehmen, hochgebildeten Leuten um des Glaubens willen
Habe und Heimat verlassen, um in der Fremde eine Freistatt zu suchen, und
allerhand unruhige, nichtsnutzige Menschen in der allgemeinen Verwirrung zu
Macht und Ansehen kommen -- wo es noch für selbstverständlich galt, daß
die Pest durch eine Hexcnverschwörung in eine Stadt Eingang finde, und man
sich von blutigen Seen erzählte, die ein böses Omen seien -- wo eine dringende
Botschaft von Genf nach Wittenberg schnellstens in drei Wochen gelangen konnte,
und man am 19. März 1546 in der Schweiz noch nichts vom Tode Luthers
wußte!

Aber vor allem liegt die Bedeutung dieses Quellenwerks darin, daß wir
aus ihm einen wahrhaft großen Mann, eine der bedeutendsten Gestalten des
gesamten Protestantismus wirklich kennen lernen. Ein wahrhaft großer Mann,
diesen Eindruck muß jeder von Calvin gewinnen, der diese Briefe liest. Nicht
als ob sich der, der sie geschrieben hat, darin so gäbe, daß seine Fehler und
Schwächen irgendwie verhüllt würden! Er gibt sich, wie er ist; und so ver¬
bergen sich die düstere Strenge und die leidenschaftliche Heftigkeit Calvins in
diesen Briefen durchaus nicht. Wir beobachten ihn hier mitten in den erregten
Kämpfen seines Lebens, in den Kämpfen mit der starken Partei seiner Gegner
in Genf, denen der Einfluß des auf sittliche Strenge haltenden Mannes uner¬
träglich schien, in den Kämpfen mit den lutherischen Theologen und mit allerhand
Freigeistern. Da geht es nicht ab ohne die schärfsten Urteile, ohne Schimpf¬
worte und Verwünschungen. Aber man muß daran natürlich auch den
Maßstab der Zeit anlegen und damit vergleichen, was damals überhaupt in
der Polemik Gewohnheit und Stil war. Und vor allem muß man anerkennen,
daß Calvin immer nur dort in den Kampf eintritt, wo ihn nicht persönliche



Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen von Rudolf Schwarz, Pfarrer in
Basndmaen, Mit einem Geleitwort von Professor D. Paul Wernle. 2 Bünde (498 und
496 Seilen). Tübingen, Mohr, 1909. Gebunden 24 Mark.
Johannes Lalvin in seinen Briefen

gescheut zur Calvinfeier ist unserm Volke jetzt eine Biographie Calvins beschert
worden, die uns den Mann wirklich kennen lehrt, eine große Sammlung von
Briefen Calvins in deutscher Übersetzung, die uns wirklich, wie ihr Titel sagt,
Calvins Lebenswerk in wahrer Vollständigkeit, Echtheit und Anschaulichkeit
vor Augen führt.*)

Daß diese Briefsammlung (sie bietet von den etwa 1250 erhaltnen Briefen
des Reformators 759) vom höchsten Werte für jeden Gebildeten ist, der sich
überhaupt um ein lebendiges Verständnis der gewaltigen Kämpfe der Re¬
formationszeit bemüht, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Welches
bunte, reiche Bild auch der politischen und Kulturverhältnisse jener Zeit, das
wir aus diesen Briefen gewinnen — der Zeit, wo Kaiser und Könige, die nur
ihre höchst weltlichen Ziele im Auge haben, als Schirmherren der christlichen
Kirche dastehn, und fromme schlichte Leute, die nichts andres wollen als Gott
von Herzen dienen, als verfluchte Ketzer den Scheiterhaufen besteigen müssen —
wo Hunderte von vornehmen, hochgebildeten Leuten um des Glaubens willen
Habe und Heimat verlassen, um in der Fremde eine Freistatt zu suchen, und
allerhand unruhige, nichtsnutzige Menschen in der allgemeinen Verwirrung zu
Macht und Ansehen kommen — wo es noch für selbstverständlich galt, daß
die Pest durch eine Hexcnverschwörung in eine Stadt Eingang finde, und man
sich von blutigen Seen erzählte, die ein böses Omen seien — wo eine dringende
Botschaft von Genf nach Wittenberg schnellstens in drei Wochen gelangen konnte,
und man am 19. März 1546 in der Schweiz noch nichts vom Tode Luthers
wußte!

Aber vor allem liegt die Bedeutung dieses Quellenwerks darin, daß wir
aus ihm einen wahrhaft großen Mann, eine der bedeutendsten Gestalten des
gesamten Protestantismus wirklich kennen lernen. Ein wahrhaft großer Mann,
diesen Eindruck muß jeder von Calvin gewinnen, der diese Briefe liest. Nicht
als ob sich der, der sie geschrieben hat, darin so gäbe, daß seine Fehler und
Schwächen irgendwie verhüllt würden! Er gibt sich, wie er ist; und so ver¬
bergen sich die düstere Strenge und die leidenschaftliche Heftigkeit Calvins in
diesen Briefen durchaus nicht. Wir beobachten ihn hier mitten in den erregten
Kämpfen seines Lebens, in den Kämpfen mit der starken Partei seiner Gegner
in Genf, denen der Einfluß des auf sittliche Strenge haltenden Mannes uner¬
träglich schien, in den Kämpfen mit den lutherischen Theologen und mit allerhand
Freigeistern. Da geht es nicht ab ohne die schärfsten Urteile, ohne Schimpf¬
worte und Verwünschungen. Aber man muß daran natürlich auch den
Maßstab der Zeit anlegen und damit vergleichen, was damals überhaupt in
der Polemik Gewohnheit und Stil war. Und vor allem muß man anerkennen,
daß Calvin immer nur dort in den Kampf eintritt, wo ihn nicht persönliche



Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen von Rudolf Schwarz, Pfarrer in
Basndmaen, Mit einem Geleitwort von Professor D. Paul Wernle. 2 Bünde (498 und
496 Seilen). Tübingen, Mohr, 1909. Gebunden 24 Mark.
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[0132] Johannes Lalvin in seinen Briefen gescheut zur Calvinfeier ist unserm Volke jetzt eine Biographie Calvins beschert worden, die uns den Mann wirklich kennen lehrt, eine große Sammlung von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung, die uns wirklich, wie ihr Titel sagt, Calvins Lebenswerk in wahrer Vollständigkeit, Echtheit und Anschaulichkeit vor Augen führt.*) Daß diese Briefsammlung (sie bietet von den etwa 1250 erhaltnen Briefen des Reformators 759) vom höchsten Werte für jeden Gebildeten ist, der sich überhaupt um ein lebendiges Verständnis der gewaltigen Kämpfe der Re¬ formationszeit bemüht, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Welches bunte, reiche Bild auch der politischen und Kulturverhältnisse jener Zeit, das wir aus diesen Briefen gewinnen — der Zeit, wo Kaiser und Könige, die nur ihre höchst weltlichen Ziele im Auge haben, als Schirmherren der christlichen Kirche dastehn, und fromme schlichte Leute, die nichts andres wollen als Gott von Herzen dienen, als verfluchte Ketzer den Scheiterhaufen besteigen müssen — wo Hunderte von vornehmen, hochgebildeten Leuten um des Glaubens willen Habe und Heimat verlassen, um in der Fremde eine Freistatt zu suchen, und allerhand unruhige, nichtsnutzige Menschen in der allgemeinen Verwirrung zu Macht und Ansehen kommen — wo es noch für selbstverständlich galt, daß die Pest durch eine Hexcnverschwörung in eine Stadt Eingang finde, und man sich von blutigen Seen erzählte, die ein böses Omen seien — wo eine dringende Botschaft von Genf nach Wittenberg schnellstens in drei Wochen gelangen konnte, und man am 19. März 1546 in der Schweiz noch nichts vom Tode Luthers wußte! Aber vor allem liegt die Bedeutung dieses Quellenwerks darin, daß wir aus ihm einen wahrhaft großen Mann, eine der bedeutendsten Gestalten des gesamten Protestantismus wirklich kennen lernen. Ein wahrhaft großer Mann, diesen Eindruck muß jeder von Calvin gewinnen, der diese Briefe liest. Nicht als ob sich der, der sie geschrieben hat, darin so gäbe, daß seine Fehler und Schwächen irgendwie verhüllt würden! Er gibt sich, wie er ist; und so ver¬ bergen sich die düstere Strenge und die leidenschaftliche Heftigkeit Calvins in diesen Briefen durchaus nicht. Wir beobachten ihn hier mitten in den erregten Kämpfen seines Lebens, in den Kämpfen mit der starken Partei seiner Gegner in Genf, denen der Einfluß des auf sittliche Strenge haltenden Mannes uner¬ träglich schien, in den Kämpfen mit den lutherischen Theologen und mit allerhand Freigeistern. Da geht es nicht ab ohne die schärfsten Urteile, ohne Schimpf¬ worte und Verwünschungen. Aber man muß daran natürlich auch den Maßstab der Zeit anlegen und damit vergleichen, was damals überhaupt in der Polemik Gewohnheit und Stil war. Und vor allem muß man anerkennen, daß Calvin immer nur dort in den Kampf eintritt, wo ihn nicht persönliche Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen von Rudolf Schwarz, Pfarrer in Basndmaen, Mit einem Geleitwort von Professor D. Paul Wernle. 2 Bünde (498 und 496 Seilen). Tübingen, Mohr, 1909. Gebunden 24 Mark.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/132>, abgerufen am 22.07.2024.