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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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vom eignen Leben

rührend hervorzubringen vermag, das haben wohl diese Eindrücke aus früher
Jugend bei mir bewirkt.

Ganz glücklich aber waren wir, wenn es gelang, dem Vater eine Ge¬
schichte abzubetteln. Etwas aus der Bibel oder aus der Weltgeschichte, eine
Sage oder ein Märchen, es war alles willkommen, denn alles, was wir
hörten, war ein Märchen und war Wahrheit zugleich, und auch Bekanntes
und öfters Gehörtes wurde jedesmal mit neuem Entzücken vernommen. Erst
da ich als Student einmal meinen Vater im Unterricht der Kleinen und
Kleinsten eine Geschichte vortragen hörte, ist es mir recht zum Bewußtsein
gekommen, wie wundervoll er schildern konnte, und wie unter seinem Erzählen
alles und jedes bis in die letzte Einzelheit hinein lebendig und farben¬
voll wurde.

Bei der Wahl dessen, was er erzählte, knüpfte er gern an eben Ge¬
schautes und Erlebtes an und webte auch gern die Welt der Wirklichkeit um
uns her, Menschen und Dinge, Bäume und Steine und Wolken, die gerade
über uns hinzogen, in seine Schilderung hinein. Ich habe in meine Er¬
zählung "Joggeli" eine solche Kindheitserinnerung eingeschmuggelt. Wie der
Joggeli seinen eignen Kindern, und als diese von ihm gegangen waren,
fremden Kindern ein Ende verrosteten Eisendrahtes, das er im Gras der
Frauhollenwiese gefunden hatte, als Überrest einer vormaligen Verbindung
mit einer verborgnen, dem Kinderherzen aber immer nahen und innig ver¬
trauten Welt vorweist, so ist auch mir einmal mitten in der Geschichte und
am Orte des Märchens selbst ein solcher Fund gedeutet worden, und so scheu
und andächtig, wie es die Kinder in der Erzählung tun, habe auch ich das
geheimnisvolle Beweisstück angesehen.

Wenn ich jetzt die Pfade der Erinnerung allein gehe, dann schimmert
mir durch das Bild, das ich vor Augen habe, immer noch ein andres ent¬
gegen, das ich vorzeiten erblickte. Der sonderbare Weidenstumpf auf einer
Bergwiese, ein verwitterter großer Steinblock über einer waldigen Kuppe,
Lindenbäume an der Straße, die einen Steinsitz überdachen, Lindenbäume
über uralten Brunnen, ein dunkler Höhleneingang jenseits eines träumerischen
Weihers, ein Jägerhaus mitten im Walde, an dessen Tür der Röhrenbrunnen
mit den Stimmen der Finken singt und summt, das Rauschen einer Mühle
und Glockentöne von irgendwoher -- das alles redet nun eine zwiefache
Sprache. Und wenn ich dort vorüberkommend nach einem von Buschwerk
wie von einer festen Mauer umschlossenen Walde hinüberschaue, dann denke
ich immer daran, daß darin einmal Brüderchen und Schwesterchen über Laub
und Moos hinirrten, und bald wird der Fels einer von Sträuchern um¬
rankten Felskuppe wieder zum Dach eines Königsschlosses, umsponnen von
Rosen und überglänzt vom Abendrot. So höre ich ähnlich dem guten Leon-
hard in meiner Erzählung "Ursula" zugleich eine Melodie von heute und
crie andre aus fernen Tagen, und könnte ich den beiden Stimmen so leicht


vom eignen Leben

rührend hervorzubringen vermag, das haben wohl diese Eindrücke aus früher
Jugend bei mir bewirkt.

Ganz glücklich aber waren wir, wenn es gelang, dem Vater eine Ge¬
schichte abzubetteln. Etwas aus der Bibel oder aus der Weltgeschichte, eine
Sage oder ein Märchen, es war alles willkommen, denn alles, was wir
hörten, war ein Märchen und war Wahrheit zugleich, und auch Bekanntes
und öfters Gehörtes wurde jedesmal mit neuem Entzücken vernommen. Erst
da ich als Student einmal meinen Vater im Unterricht der Kleinen und
Kleinsten eine Geschichte vortragen hörte, ist es mir recht zum Bewußtsein
gekommen, wie wundervoll er schildern konnte, und wie unter seinem Erzählen
alles und jedes bis in die letzte Einzelheit hinein lebendig und farben¬
voll wurde.

Bei der Wahl dessen, was er erzählte, knüpfte er gern an eben Ge¬
schautes und Erlebtes an und webte auch gern die Welt der Wirklichkeit um
uns her, Menschen und Dinge, Bäume und Steine und Wolken, die gerade
über uns hinzogen, in seine Schilderung hinein. Ich habe in meine Er¬
zählung „Joggeli" eine solche Kindheitserinnerung eingeschmuggelt. Wie der
Joggeli seinen eignen Kindern, und als diese von ihm gegangen waren,
fremden Kindern ein Ende verrosteten Eisendrahtes, das er im Gras der
Frauhollenwiese gefunden hatte, als Überrest einer vormaligen Verbindung
mit einer verborgnen, dem Kinderherzen aber immer nahen und innig ver¬
trauten Welt vorweist, so ist auch mir einmal mitten in der Geschichte und
am Orte des Märchens selbst ein solcher Fund gedeutet worden, und so scheu
und andächtig, wie es die Kinder in der Erzählung tun, habe auch ich das
geheimnisvolle Beweisstück angesehen.

Wenn ich jetzt die Pfade der Erinnerung allein gehe, dann schimmert
mir durch das Bild, das ich vor Augen habe, immer noch ein andres ent¬
gegen, das ich vorzeiten erblickte. Der sonderbare Weidenstumpf auf einer
Bergwiese, ein verwitterter großer Steinblock über einer waldigen Kuppe,
Lindenbäume an der Straße, die einen Steinsitz überdachen, Lindenbäume
über uralten Brunnen, ein dunkler Höhleneingang jenseits eines träumerischen
Weihers, ein Jägerhaus mitten im Walde, an dessen Tür der Röhrenbrunnen
mit den Stimmen der Finken singt und summt, das Rauschen einer Mühle
und Glockentöne von irgendwoher — das alles redet nun eine zwiefache
Sprache. Und wenn ich dort vorüberkommend nach einem von Buschwerk
wie von einer festen Mauer umschlossenen Walde hinüberschaue, dann denke
ich immer daran, daß darin einmal Brüderchen und Schwesterchen über Laub
und Moos hinirrten, und bald wird der Fels einer von Sträuchern um¬
rankten Felskuppe wieder zum Dach eines Königsschlosses, umsponnen von
Rosen und überglänzt vom Abendrot. So höre ich ähnlich dem guten Leon-
hard in meiner Erzählung „Ursula" zugleich eine Melodie von heute und
crie andre aus fernen Tagen, und könnte ich den beiden Stimmen so leicht


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[0091] vom eignen Leben rührend hervorzubringen vermag, das haben wohl diese Eindrücke aus früher Jugend bei mir bewirkt. Ganz glücklich aber waren wir, wenn es gelang, dem Vater eine Ge¬ schichte abzubetteln. Etwas aus der Bibel oder aus der Weltgeschichte, eine Sage oder ein Märchen, es war alles willkommen, denn alles, was wir hörten, war ein Märchen und war Wahrheit zugleich, und auch Bekanntes und öfters Gehörtes wurde jedesmal mit neuem Entzücken vernommen. Erst da ich als Student einmal meinen Vater im Unterricht der Kleinen und Kleinsten eine Geschichte vortragen hörte, ist es mir recht zum Bewußtsein gekommen, wie wundervoll er schildern konnte, und wie unter seinem Erzählen alles und jedes bis in die letzte Einzelheit hinein lebendig und farben¬ voll wurde. Bei der Wahl dessen, was er erzählte, knüpfte er gern an eben Ge¬ schautes und Erlebtes an und webte auch gern die Welt der Wirklichkeit um uns her, Menschen und Dinge, Bäume und Steine und Wolken, die gerade über uns hinzogen, in seine Schilderung hinein. Ich habe in meine Er¬ zählung „Joggeli" eine solche Kindheitserinnerung eingeschmuggelt. Wie der Joggeli seinen eignen Kindern, und als diese von ihm gegangen waren, fremden Kindern ein Ende verrosteten Eisendrahtes, das er im Gras der Frauhollenwiese gefunden hatte, als Überrest einer vormaligen Verbindung mit einer verborgnen, dem Kinderherzen aber immer nahen und innig ver¬ trauten Welt vorweist, so ist auch mir einmal mitten in der Geschichte und am Orte des Märchens selbst ein solcher Fund gedeutet worden, und so scheu und andächtig, wie es die Kinder in der Erzählung tun, habe auch ich das geheimnisvolle Beweisstück angesehen. Wenn ich jetzt die Pfade der Erinnerung allein gehe, dann schimmert mir durch das Bild, das ich vor Augen habe, immer noch ein andres ent¬ gegen, das ich vorzeiten erblickte. Der sonderbare Weidenstumpf auf einer Bergwiese, ein verwitterter großer Steinblock über einer waldigen Kuppe, Lindenbäume an der Straße, die einen Steinsitz überdachen, Lindenbäume über uralten Brunnen, ein dunkler Höhleneingang jenseits eines träumerischen Weihers, ein Jägerhaus mitten im Walde, an dessen Tür der Röhrenbrunnen mit den Stimmen der Finken singt und summt, das Rauschen einer Mühle und Glockentöne von irgendwoher — das alles redet nun eine zwiefache Sprache. Und wenn ich dort vorüberkommend nach einem von Buschwerk wie von einer festen Mauer umschlossenen Walde hinüberschaue, dann denke ich immer daran, daß darin einmal Brüderchen und Schwesterchen über Laub und Moos hinirrten, und bald wird der Fels einer von Sträuchern um¬ rankten Felskuppe wieder zum Dach eines Königsschlosses, umsponnen von Rosen und überglänzt vom Abendrot. So höre ich ähnlich dem guten Leon- hard in meiner Erzählung „Ursula" zugleich eine Melodie von heute und crie andre aus fernen Tagen, und könnte ich den beiden Stimmen so leicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/91>, abgerufen am 23.07.2024.