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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Was das Jahr gebracht hat

Min ereignisvolles, tiefbewegtes Jahr liegt hinter uns. Noch
einmal, ganz überraschend stiegen in dem alten europäischen
Wetterwinkel, am Balkan, drohende Wolken auf, und noch heute
haben sie sich nicht zerteilt, eine Zeit lang standen die Dinge
ogar auf der Schneide des Schwerts. Urplötzlich, für die meisten
ganz überraschend, erhob sich im Sommer die lange zurückgedrängte, verfolgte
jungtürkische Partei, unterstützt von einem Teile der Armee, den Truppen, die
im aufgewühlten, von einem widerwärtigen Bandenkriege schwer heimgesuchten
Mazedonien stehen, in einer unblutigen, aber energischen Revolution. Und indem
sich der kluge Sultan in der Erkenntnis, daß sie sich nicht gegen ihn richte,
rasch an ihre Spitze stellte, schickte sich diese orientalische, halb geistliche absolute
Monarchie an, zurückgreifend auf die Verfassung von 1876, sich in ein kon¬
stitutionelles Staatswesen westeuropäischer Art zu verwandeln. Das türkische
Volk aber, das man in allen Erörterungen der orientalischen Frage immer
gänzlich beiseite gelassen, höchstens nach seiner anerkannten militärischen
Leistungsfähigkeit in Betracht gezogen hatte, zeigte sich plötzlich unter kluger
Führung als tapfer, energisch, maßvoll, duldsam und von einem nicht sowohl
religiösen als nntionalpvlitischen Selbstbewußtsein erfüllt, sodciß es die allge¬
meinsten Sympathien für sich gewann. Mit einem Schlage hörte der Banden¬
krieg auf, die erfolgarme diplomatische Flickarbeit der bevormundenden Gro߬
mächte wurde abgebrochen, der "kranke Mann", der schon seit vielen Jahrzehnten
auf dem Aussterbeetat stand, und nach dessen Erbschaft längst lüsterne Augen
spähten, offenbarte eine verblüffende Kraft und Gesundheit. Zahlreiche Schwierig¬
keiten sind noch zu überwinden; noch vermag namentlich niemand zu sagen, wie
sich die schon in der Verfassung von 1876 proklamierte Gleichberechtigung
aller "Ottomanen", der christlichen Stämme und der Mohammedaner türkischer
und arabischer Nationalität, mit den staatsrechtlichen Grundsätzen des Islam
Praktisch vertragen und in europäische Formen fügen lassen werde: aber an
der Intelligenz und dem guten Willen der führenden Kreise wird man so wenig


Grenzboten I 1909 1


Was das Jahr gebracht hat

Min ereignisvolles, tiefbewegtes Jahr liegt hinter uns. Noch
einmal, ganz überraschend stiegen in dem alten europäischen
Wetterwinkel, am Balkan, drohende Wolken auf, und noch heute
haben sie sich nicht zerteilt, eine Zeit lang standen die Dinge
ogar auf der Schneide des Schwerts. Urplötzlich, für die meisten
ganz überraschend, erhob sich im Sommer die lange zurückgedrängte, verfolgte
jungtürkische Partei, unterstützt von einem Teile der Armee, den Truppen, die
im aufgewühlten, von einem widerwärtigen Bandenkriege schwer heimgesuchten
Mazedonien stehen, in einer unblutigen, aber energischen Revolution. Und indem
sich der kluge Sultan in der Erkenntnis, daß sie sich nicht gegen ihn richte,
rasch an ihre Spitze stellte, schickte sich diese orientalische, halb geistliche absolute
Monarchie an, zurückgreifend auf die Verfassung von 1876, sich in ein kon¬
stitutionelles Staatswesen westeuropäischer Art zu verwandeln. Das türkische
Volk aber, das man in allen Erörterungen der orientalischen Frage immer
gänzlich beiseite gelassen, höchstens nach seiner anerkannten militärischen
Leistungsfähigkeit in Betracht gezogen hatte, zeigte sich plötzlich unter kluger
Führung als tapfer, energisch, maßvoll, duldsam und von einem nicht sowohl
religiösen als nntionalpvlitischen Selbstbewußtsein erfüllt, sodciß es die allge¬
meinsten Sympathien für sich gewann. Mit einem Schlage hörte der Banden¬
krieg auf, die erfolgarme diplomatische Flickarbeit der bevormundenden Gro߬
mächte wurde abgebrochen, der „kranke Mann", der schon seit vielen Jahrzehnten
auf dem Aussterbeetat stand, und nach dessen Erbschaft längst lüsterne Augen
spähten, offenbarte eine verblüffende Kraft und Gesundheit. Zahlreiche Schwierig¬
keiten sind noch zu überwinden; noch vermag namentlich niemand zu sagen, wie
sich die schon in der Verfassung von 1876 proklamierte Gleichberechtigung
aller „Ottomanen", der christlichen Stämme und der Mohammedaner türkischer
und arabischer Nationalität, mit den staatsrechtlichen Grundsätzen des Islam
Praktisch vertragen und in europäische Formen fügen lassen werde: aber an
der Intelligenz und dem guten Willen der führenden Kreise wird man so wenig


Grenzboten I 1909 1
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[0009] [Abbildung] Was das Jahr gebracht hat Min ereignisvolles, tiefbewegtes Jahr liegt hinter uns. Noch einmal, ganz überraschend stiegen in dem alten europäischen Wetterwinkel, am Balkan, drohende Wolken auf, und noch heute haben sie sich nicht zerteilt, eine Zeit lang standen die Dinge ogar auf der Schneide des Schwerts. Urplötzlich, für die meisten ganz überraschend, erhob sich im Sommer die lange zurückgedrängte, verfolgte jungtürkische Partei, unterstützt von einem Teile der Armee, den Truppen, die im aufgewühlten, von einem widerwärtigen Bandenkriege schwer heimgesuchten Mazedonien stehen, in einer unblutigen, aber energischen Revolution. Und indem sich der kluge Sultan in der Erkenntnis, daß sie sich nicht gegen ihn richte, rasch an ihre Spitze stellte, schickte sich diese orientalische, halb geistliche absolute Monarchie an, zurückgreifend auf die Verfassung von 1876, sich in ein kon¬ stitutionelles Staatswesen westeuropäischer Art zu verwandeln. Das türkische Volk aber, das man in allen Erörterungen der orientalischen Frage immer gänzlich beiseite gelassen, höchstens nach seiner anerkannten militärischen Leistungsfähigkeit in Betracht gezogen hatte, zeigte sich plötzlich unter kluger Führung als tapfer, energisch, maßvoll, duldsam und von einem nicht sowohl religiösen als nntionalpvlitischen Selbstbewußtsein erfüllt, sodciß es die allge¬ meinsten Sympathien für sich gewann. Mit einem Schlage hörte der Banden¬ krieg auf, die erfolgarme diplomatische Flickarbeit der bevormundenden Gro߬ mächte wurde abgebrochen, der „kranke Mann", der schon seit vielen Jahrzehnten auf dem Aussterbeetat stand, und nach dessen Erbschaft längst lüsterne Augen spähten, offenbarte eine verblüffende Kraft und Gesundheit. Zahlreiche Schwierig¬ keiten sind noch zu überwinden; noch vermag namentlich niemand zu sagen, wie sich die schon in der Verfassung von 1876 proklamierte Gleichberechtigung aller „Ottomanen", der christlichen Stämme und der Mohammedaner türkischer und arabischer Nationalität, mit den staatsrechtlichen Grundsätzen des Islam Praktisch vertragen und in europäische Formen fügen lassen werde: aber an der Intelligenz und dem guten Willen der führenden Kreise wird man so wenig Grenzboten I 1909 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/9>, abgerufen am 12.12.2024.