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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Rriminalpolitische Irrtümer

sein sollten, je und je des Verbrechens entbehren werden. Es ist ein natür¬
licher und notwendiger Zustand des menschlichen Geschlechts, in Gemeinschaft
zu leben, der in der Unmöglichkeit, seine physischen, geistigen und ethischen
Bedürfnisse allein zu befriedigen, auf die tiefsten Quellen menschlichen Daseins
zurückgeht. Wo immer aber eine solche Gemeinschaft von Menschen zusammen¬
lebt -- es braucht keineswegs in der Form eines Staates zu sein --, da wird
es auch Gesetze geben, und mit ihnen wird der Anspruch entstehen, daß sie heilig
seien. "Sind aber Gesetze und Anordnungen da,, sagt Stirner richtig, dann
werden sie mit Notwendigkeit auch übertreten, denn Menschen, die dem Heiligen
des Staates, der Gesellschaft ihr Unheiliges entgegenstellen, deren Egoismus
sich den von einem andern aufgestellten Normen entgegenstellt, wird es so lange
geben, als das Ich des Menschen sich nicht völlig zu der Gallertmasse des
"Nur noch sozialen Bewußtseins" verändert hat." Das ist jedenfalls sicher,
daß auch bei dem Aufkommen anders gearteter Gesellschafts- und Wirtschafts¬
formen nach den abgeschafften Rechtsgütern, wie die Pilze aus der Erde, neue
entstehn werden, von denen man nicht wissen wird, wie sie von den alten
unterschieden werden sollen, und auch den neuen Rechtsgütern wird sich das
Verbrechen feindlich gegenüberstellen. Wir sind nicht imstande, uns eine
Behandlungsweise des Verbrechens zu denken, die es vollständig aus unserm
Leben tilgte. Ebensowenig wie wir das von einer Straftheorie erhoffen dürfen,
dürfen wir es von einer Heiltheorie, denn auch von physischen Krankheiten lassen
sich viele, viele Menschen, so jetzt, wie in Zukunft, nicht heilen, weil sie der
Weisheit des Arztes ihre Weisheit, dem fremden Ich also das eigne Ich entgegen¬
setzen. Und mit der Durchführung einer Theorie der Unschädlichmachung der
Verbrecher würden wir auch nicht weit kommen. Sie setzt die Begehung mindestens
eines Verbrechens voraus, und daß man sich auch an der bloßen Konstatierung
verbrecherischer Gesinnung genügen lassen wollte, ist wohl ein Gedanke, der in
absehbaren Zeiten auf praktische Beendigung keinen Anspruch erheben darf.

Nur dann, wenn sich einmal auch der Egoismus völlig auf feiten des
Rechthandelns im Sinne der derzeitigen Gesellschaft geschlagen haben wird,
dürften wir hoffen, die Kriminalität bis auf Spuren zu beseitigen. Das wäre
gleichbedeutend mit der Abänderung eines Naturgesetzes. Naturgesetze aber sind
unabänderlich. Wie immer der Blitz da einschlagen muß, wo er angezogen
wird, wie immer bei einer gewissen Schneebeschaffenheit sich im Gebirgssturm
aus Schneebällen Lawinen formen müssen, so wird sich immer, wenn äußerer
und innerer Anlaß in der Menschenseele zusammentreffen, das Verbrechen er¬
geben. Aber eben so sehr, wie die Kriminalität Naturgesetz ist, ist es der Kampf
gegen sie: er ist die Reaktion der Gemeinschafts- gegen die Einzelinteressen und
darum niemals durch die Vorstellung der Fruchtlosigkeit der Kampfmühen zu
bannen. Wir kämpfen ja auch gegen eine ganze Reihe uns als schädlich be¬
kannter Naturgesetze an, nicht in der Erwartung, sie abändern oder aufheben
zu können, sondern nur um die Anwendung des Naturgesetzes auf uns zu


Rriminalpolitische Irrtümer

sein sollten, je und je des Verbrechens entbehren werden. Es ist ein natür¬
licher und notwendiger Zustand des menschlichen Geschlechts, in Gemeinschaft
zu leben, der in der Unmöglichkeit, seine physischen, geistigen und ethischen
Bedürfnisse allein zu befriedigen, auf die tiefsten Quellen menschlichen Daseins
zurückgeht. Wo immer aber eine solche Gemeinschaft von Menschen zusammen¬
lebt — es braucht keineswegs in der Form eines Staates zu sein —, da wird
es auch Gesetze geben, und mit ihnen wird der Anspruch entstehen, daß sie heilig
seien. „Sind aber Gesetze und Anordnungen da,, sagt Stirner richtig, dann
werden sie mit Notwendigkeit auch übertreten, denn Menschen, die dem Heiligen
des Staates, der Gesellschaft ihr Unheiliges entgegenstellen, deren Egoismus
sich den von einem andern aufgestellten Normen entgegenstellt, wird es so lange
geben, als das Ich des Menschen sich nicht völlig zu der Gallertmasse des
»Nur noch sozialen Bewußtseins« verändert hat." Das ist jedenfalls sicher,
daß auch bei dem Aufkommen anders gearteter Gesellschafts- und Wirtschafts¬
formen nach den abgeschafften Rechtsgütern, wie die Pilze aus der Erde, neue
entstehn werden, von denen man nicht wissen wird, wie sie von den alten
unterschieden werden sollen, und auch den neuen Rechtsgütern wird sich das
Verbrechen feindlich gegenüberstellen. Wir sind nicht imstande, uns eine
Behandlungsweise des Verbrechens zu denken, die es vollständig aus unserm
Leben tilgte. Ebensowenig wie wir das von einer Straftheorie erhoffen dürfen,
dürfen wir es von einer Heiltheorie, denn auch von physischen Krankheiten lassen
sich viele, viele Menschen, so jetzt, wie in Zukunft, nicht heilen, weil sie der
Weisheit des Arztes ihre Weisheit, dem fremden Ich also das eigne Ich entgegen¬
setzen. Und mit der Durchführung einer Theorie der Unschädlichmachung der
Verbrecher würden wir auch nicht weit kommen. Sie setzt die Begehung mindestens
eines Verbrechens voraus, und daß man sich auch an der bloßen Konstatierung
verbrecherischer Gesinnung genügen lassen wollte, ist wohl ein Gedanke, der in
absehbaren Zeiten auf praktische Beendigung keinen Anspruch erheben darf.

Nur dann, wenn sich einmal auch der Egoismus völlig auf feiten des
Rechthandelns im Sinne der derzeitigen Gesellschaft geschlagen haben wird,
dürften wir hoffen, die Kriminalität bis auf Spuren zu beseitigen. Das wäre
gleichbedeutend mit der Abänderung eines Naturgesetzes. Naturgesetze aber sind
unabänderlich. Wie immer der Blitz da einschlagen muß, wo er angezogen
wird, wie immer bei einer gewissen Schneebeschaffenheit sich im Gebirgssturm
aus Schneebällen Lawinen formen müssen, so wird sich immer, wenn äußerer
und innerer Anlaß in der Menschenseele zusammentreffen, das Verbrechen er¬
geben. Aber eben so sehr, wie die Kriminalität Naturgesetz ist, ist es der Kampf
gegen sie: er ist die Reaktion der Gemeinschafts- gegen die Einzelinteressen und
darum niemals durch die Vorstellung der Fruchtlosigkeit der Kampfmühen zu
bannen. Wir kämpfen ja auch gegen eine ganze Reihe uns als schädlich be¬
kannter Naturgesetze an, nicht in der Erwartung, sie abändern oder aufheben
zu können, sondern nur um die Anwendung des Naturgesetzes auf uns zu


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[0082] Rriminalpolitische Irrtümer sein sollten, je und je des Verbrechens entbehren werden. Es ist ein natür¬ licher und notwendiger Zustand des menschlichen Geschlechts, in Gemeinschaft zu leben, der in der Unmöglichkeit, seine physischen, geistigen und ethischen Bedürfnisse allein zu befriedigen, auf die tiefsten Quellen menschlichen Daseins zurückgeht. Wo immer aber eine solche Gemeinschaft von Menschen zusammen¬ lebt — es braucht keineswegs in der Form eines Staates zu sein —, da wird es auch Gesetze geben, und mit ihnen wird der Anspruch entstehen, daß sie heilig seien. „Sind aber Gesetze und Anordnungen da,, sagt Stirner richtig, dann werden sie mit Notwendigkeit auch übertreten, denn Menschen, die dem Heiligen des Staates, der Gesellschaft ihr Unheiliges entgegenstellen, deren Egoismus sich den von einem andern aufgestellten Normen entgegenstellt, wird es so lange geben, als das Ich des Menschen sich nicht völlig zu der Gallertmasse des »Nur noch sozialen Bewußtseins« verändert hat." Das ist jedenfalls sicher, daß auch bei dem Aufkommen anders gearteter Gesellschafts- und Wirtschafts¬ formen nach den abgeschafften Rechtsgütern, wie die Pilze aus der Erde, neue entstehn werden, von denen man nicht wissen wird, wie sie von den alten unterschieden werden sollen, und auch den neuen Rechtsgütern wird sich das Verbrechen feindlich gegenüberstellen. Wir sind nicht imstande, uns eine Behandlungsweise des Verbrechens zu denken, die es vollständig aus unserm Leben tilgte. Ebensowenig wie wir das von einer Straftheorie erhoffen dürfen, dürfen wir es von einer Heiltheorie, denn auch von physischen Krankheiten lassen sich viele, viele Menschen, so jetzt, wie in Zukunft, nicht heilen, weil sie der Weisheit des Arztes ihre Weisheit, dem fremden Ich also das eigne Ich entgegen¬ setzen. Und mit der Durchführung einer Theorie der Unschädlichmachung der Verbrecher würden wir auch nicht weit kommen. Sie setzt die Begehung mindestens eines Verbrechens voraus, und daß man sich auch an der bloßen Konstatierung verbrecherischer Gesinnung genügen lassen wollte, ist wohl ein Gedanke, der in absehbaren Zeiten auf praktische Beendigung keinen Anspruch erheben darf. Nur dann, wenn sich einmal auch der Egoismus völlig auf feiten des Rechthandelns im Sinne der derzeitigen Gesellschaft geschlagen haben wird, dürften wir hoffen, die Kriminalität bis auf Spuren zu beseitigen. Das wäre gleichbedeutend mit der Abänderung eines Naturgesetzes. Naturgesetze aber sind unabänderlich. Wie immer der Blitz da einschlagen muß, wo er angezogen wird, wie immer bei einer gewissen Schneebeschaffenheit sich im Gebirgssturm aus Schneebällen Lawinen formen müssen, so wird sich immer, wenn äußerer und innerer Anlaß in der Menschenseele zusammentreffen, das Verbrechen er¬ geben. Aber eben so sehr, wie die Kriminalität Naturgesetz ist, ist es der Kampf gegen sie: er ist die Reaktion der Gemeinschafts- gegen die Einzelinteressen und darum niemals durch die Vorstellung der Fruchtlosigkeit der Kampfmühen zu bannen. Wir kämpfen ja auch gegen eine ganze Reihe uns als schädlich be¬ kannter Naturgesetze an, nicht in der Erwartung, sie abändern oder aufheben zu können, sondern nur um die Anwendung des Naturgesetzes auf uns zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/82>, abgerufen am 23.07.2024.