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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Wie auch der historische Sozialismus der Marx und Engels realistischere
Grundlagen für die Idee von Zukunftsgesellschaft und Zukunftsstaat zu schaffen
trachtete, so haben doch auch diese utopiefeindlichen Sozialisten das alte Märchen
vom Verlornen und wiedergefundnen Paradiese nicht fahren lassen, weil damit
der werbenden Kraft des Sozialismus als einer Weltanschauung der Grund
abgegraben sein würde. Auch sie haben also an eine Ordnung der mensch¬
lichen Dinge glauben gemacht, worin es an Raum für Straftaten fehlt,
weil die Menschheit von aller Willens- und Wunschqual befreit sein wird.
Und wenn sich auch der revisionistische Sozialismus unsrer Tage mehr und
mehr hütet, seine Zukuuftsstaatsideen in sxeoiö darzulegen, so darf er sich
doch auch nicht von jenem Utopismus entfernen, aus dessen Grunde er hervor¬
gewachsen ist.

Noch neuerdings hat es ein "gelehrter" Sozialist unternommen, diesen
Ideen Worte zu leihen. Auf die von der Universität Amsterdam gestellte
Preisaufgabe: IZxposs ZMelNÄtiyuk se eritiMk sur is raxport sntrs viiininalitv
se ooiMtions vvonamiaues hat W. A. Borger, cloetcmr su äroit, ein Werk von
750 Seiten geschrieben, das in den Sätzen gipfelt: Die ideellen Faktoren des
kriminologischen Phänomens, der Egoismus, die Sexualität, überhaupt die
niedern Leidenschaften sind der Ausfluß des heutigen Wirtschaftssystems. Mit
der Aufhebung des Eigentums wird an die Stelle des Egoismus der Altruismus
treten (viens uns toUs sovikte it "<z 8Äurait vero ^usstiou 6s orirno proprkinsiit
an). Und diese Arbeit, deren Fleiß gewiß anzuerkennen ist, hat trotz dieses
utopistischen Charakters von der Universität eine ehrenvolle Erwähnung erhalten.
Man kann sich denken, welche Stärke der Überzeugung bestehn muß, um als
Preisarbeit für eine Universität ein Werk von solchem Umfange zu schaffen,
das aller Voraussicht nach niemals einen Preis erwarten konnte.

Bleibt noch übrig der Anarchismus, der praktisch fast nur durch möglichst
scheußliche Verbrechen auf das Welttheater tritt.*) Er will uns glaube" machen,
daß die von dem elenden Ballast der jetzigen Rechtsgüter befreite Menschheit
ohne Verbrechen auskommen wird. Freilich, wo es kein Eigentum, keine Ehe,
keine Familie, keinen Gott, kein Vaterland, keinen Staat gibt, ist es schon
schwer zu fehle", und wenn damit ein jeder zum unbeschränkten Hüter seiner
Freiheit, seiner körperlichen und geistigen Integrität berufe" wird, da"n heißt
das Verbrechen nicht mehr Verbrechen, sondern Schutz des eignen Ich, mag
dies auch noch so erbärmlich und noch so wenig schutzbedürftig sein.

Wir wissen, daß weder der sozialistische Zukunftsstaat noch das anarchistische
Gemeinwesen der Zukunft, wenn sie einmal außerhalb Nirgendheim zu finden



*) Man hat dabei nicht nur an Kapitalverbrechen zu denken, wie es gewöhnlich geschieht.
Der Anarchismus betätigt sich auch, wahrscheinlich um Mittel für seine Propaganda zu finden,
in Einbruchsdiebstählen, deren Begehung durch die anarchistische Lehre ja nur gefördert wird.
Russische Blätter berechneten die Summe, die der anarchistisch-revolutionären Partei während
weniger Sommerwochen 1W7 durch Diebstahl zufielen, ans mehr als eine Million Rubel.
Grenzboten 1 Is09 1^

Wie auch der historische Sozialismus der Marx und Engels realistischere
Grundlagen für die Idee von Zukunftsgesellschaft und Zukunftsstaat zu schaffen
trachtete, so haben doch auch diese utopiefeindlichen Sozialisten das alte Märchen
vom Verlornen und wiedergefundnen Paradiese nicht fahren lassen, weil damit
der werbenden Kraft des Sozialismus als einer Weltanschauung der Grund
abgegraben sein würde. Auch sie haben also an eine Ordnung der mensch¬
lichen Dinge glauben gemacht, worin es an Raum für Straftaten fehlt,
weil die Menschheit von aller Willens- und Wunschqual befreit sein wird.
Und wenn sich auch der revisionistische Sozialismus unsrer Tage mehr und
mehr hütet, seine Zukuuftsstaatsideen in sxeoiö darzulegen, so darf er sich
doch auch nicht von jenem Utopismus entfernen, aus dessen Grunde er hervor¬
gewachsen ist.

Noch neuerdings hat es ein „gelehrter" Sozialist unternommen, diesen
Ideen Worte zu leihen. Auf die von der Universität Amsterdam gestellte
Preisaufgabe: IZxposs ZMelNÄtiyuk se eritiMk sur is raxport sntrs viiininalitv
se ooiMtions vvonamiaues hat W. A. Borger, cloetcmr su äroit, ein Werk von
750 Seiten geschrieben, das in den Sätzen gipfelt: Die ideellen Faktoren des
kriminologischen Phänomens, der Egoismus, die Sexualität, überhaupt die
niedern Leidenschaften sind der Ausfluß des heutigen Wirtschaftssystems. Mit
der Aufhebung des Eigentums wird an die Stelle des Egoismus der Altruismus
treten (viens uns toUs sovikte it »<z 8Äurait vero ^usstiou 6s orirno proprkinsiit
an). Und diese Arbeit, deren Fleiß gewiß anzuerkennen ist, hat trotz dieses
utopistischen Charakters von der Universität eine ehrenvolle Erwähnung erhalten.
Man kann sich denken, welche Stärke der Überzeugung bestehn muß, um als
Preisarbeit für eine Universität ein Werk von solchem Umfange zu schaffen,
das aller Voraussicht nach niemals einen Preis erwarten konnte.

Bleibt noch übrig der Anarchismus, der praktisch fast nur durch möglichst
scheußliche Verbrechen auf das Welttheater tritt.*) Er will uns glaube» machen,
daß die von dem elenden Ballast der jetzigen Rechtsgüter befreite Menschheit
ohne Verbrechen auskommen wird. Freilich, wo es kein Eigentum, keine Ehe,
keine Familie, keinen Gott, kein Vaterland, keinen Staat gibt, ist es schon
schwer zu fehle», und wenn damit ein jeder zum unbeschränkten Hüter seiner
Freiheit, seiner körperlichen und geistigen Integrität berufe» wird, da»n heißt
das Verbrechen nicht mehr Verbrechen, sondern Schutz des eignen Ich, mag
dies auch noch so erbärmlich und noch so wenig schutzbedürftig sein.

Wir wissen, daß weder der sozialistische Zukunftsstaat noch das anarchistische
Gemeinwesen der Zukunft, wenn sie einmal außerhalb Nirgendheim zu finden



*) Man hat dabei nicht nur an Kapitalverbrechen zu denken, wie es gewöhnlich geschieht.
Der Anarchismus betätigt sich auch, wahrscheinlich um Mittel für seine Propaganda zu finden,
in Einbruchsdiebstählen, deren Begehung durch die anarchistische Lehre ja nur gefördert wird.
Russische Blätter berechneten die Summe, die der anarchistisch-revolutionären Partei während
weniger Sommerwochen 1W7 durch Diebstahl zufielen, ans mehr als eine Million Rubel.
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[0081] Wie auch der historische Sozialismus der Marx und Engels realistischere Grundlagen für die Idee von Zukunftsgesellschaft und Zukunftsstaat zu schaffen trachtete, so haben doch auch diese utopiefeindlichen Sozialisten das alte Märchen vom Verlornen und wiedergefundnen Paradiese nicht fahren lassen, weil damit der werbenden Kraft des Sozialismus als einer Weltanschauung der Grund abgegraben sein würde. Auch sie haben also an eine Ordnung der mensch¬ lichen Dinge glauben gemacht, worin es an Raum für Straftaten fehlt, weil die Menschheit von aller Willens- und Wunschqual befreit sein wird. Und wenn sich auch der revisionistische Sozialismus unsrer Tage mehr und mehr hütet, seine Zukuuftsstaatsideen in sxeoiö darzulegen, so darf er sich doch auch nicht von jenem Utopismus entfernen, aus dessen Grunde er hervor¬ gewachsen ist. Noch neuerdings hat es ein „gelehrter" Sozialist unternommen, diesen Ideen Worte zu leihen. Auf die von der Universität Amsterdam gestellte Preisaufgabe: IZxposs ZMelNÄtiyuk se eritiMk sur is raxport sntrs viiininalitv se ooiMtions vvonamiaues hat W. A. Borger, cloetcmr su äroit, ein Werk von 750 Seiten geschrieben, das in den Sätzen gipfelt: Die ideellen Faktoren des kriminologischen Phänomens, der Egoismus, die Sexualität, überhaupt die niedern Leidenschaften sind der Ausfluß des heutigen Wirtschaftssystems. Mit der Aufhebung des Eigentums wird an die Stelle des Egoismus der Altruismus treten (viens uns toUs sovikte it »<z 8Äurait vero ^usstiou 6s orirno proprkinsiit an). Und diese Arbeit, deren Fleiß gewiß anzuerkennen ist, hat trotz dieses utopistischen Charakters von der Universität eine ehrenvolle Erwähnung erhalten. Man kann sich denken, welche Stärke der Überzeugung bestehn muß, um als Preisarbeit für eine Universität ein Werk von solchem Umfange zu schaffen, das aller Voraussicht nach niemals einen Preis erwarten konnte. Bleibt noch übrig der Anarchismus, der praktisch fast nur durch möglichst scheußliche Verbrechen auf das Welttheater tritt.*) Er will uns glaube» machen, daß die von dem elenden Ballast der jetzigen Rechtsgüter befreite Menschheit ohne Verbrechen auskommen wird. Freilich, wo es kein Eigentum, keine Ehe, keine Familie, keinen Gott, kein Vaterland, keinen Staat gibt, ist es schon schwer zu fehle», und wenn damit ein jeder zum unbeschränkten Hüter seiner Freiheit, seiner körperlichen und geistigen Integrität berufe» wird, da»n heißt das Verbrechen nicht mehr Verbrechen, sondern Schutz des eignen Ich, mag dies auch noch so erbärmlich und noch so wenig schutzbedürftig sein. Wir wissen, daß weder der sozialistische Zukunftsstaat noch das anarchistische Gemeinwesen der Zukunft, wenn sie einmal außerhalb Nirgendheim zu finden *) Man hat dabei nicht nur an Kapitalverbrechen zu denken, wie es gewöhnlich geschieht. Der Anarchismus betätigt sich auch, wahrscheinlich um Mittel für seine Propaganda zu finden, in Einbruchsdiebstählen, deren Begehung durch die anarchistische Lehre ja nur gefördert wird. Russische Blätter berechneten die Summe, die der anarchistisch-revolutionären Partei während weniger Sommerwochen 1W7 durch Diebstahl zufielen, ans mehr als eine Million Rubel. Grenzboten 1 Is09 1^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/81>, abgerufen am 23.07.2024.