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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

manchen neuen Zug zu ihrem Charakterbilde geben, sind erst jetzt im Landesarchiv
zu Wolfenbüttel der Forschung eröffnet worden, und Eufemici von Adlersfeld-
Ballestrem hat sich der Arbeit unterzogen, diese Quellen für eine neue Biographie
zu benutzen, die unter dem Titel erschienen ist: Elisabeth Christine, Königin
von Preußen, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Das Lebensbild
einer Verläumder. Nach Quellen bearbeitet unter Verwendung zum Teil unbe¬
nützten Materials aus dem Braunschweigischen Landesarchiv zu Wolfenbüttel. Mit
einem Titelbilde. Berlin, Verlagsbuchhandlung von Alfred Schall, 1908.

Die Verfasserin hat sich bemüht, das wenig günstige Bild, das die Geschicht¬
schreiber von dieser Königin zu entwerfen pflegen, wesentlich zu korrigieren und ihr
die im Leben versagt gewesne Gerechtigkeit im vollen Maße widerfahren zu lassen.
Elisabeth Christinens Schicksal war trotz ihrer hohen Stellung oder richtiger wegen
ihrer hohen Stellung neben einem Fürsten wie Friedrich dem Zweiten beklagenswert;
sie war das Opfer einer kurzsichtigen Kabinettspolitik, aber auch eines tiefen Grolls
und einer heftigen Reaktion, die der rücksichtslose Eigensinn Friedrich Wilhelms des
Ersten in seiner Familie, namentlich bei seiner Gemahlin Sophie Dorothea, seiner
Tochter Amalia und am schärfsten bei seinem Sohne Fritz hervorrufen mußte. Der
König preist die braunschweigische Prinzessin dem Sohne mit den Worten an: "Sie
ist ein gottesfürchtiges Mensch und dieses ist alles und comportable sowohl mit Euch
als mit den Schwiegereltern. Gott gebe seinen Segen dazu und segne Euch und
Eure Nachfolger." Der Kronprinz wußte aus böser Erfahrung, daß er dem Vater
auch in dieser Angelegenheit nicht widersprechen dürfe, und willigte ihm gegenüber
ein. Aber im Geheimen wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Ver¬
gewaltigung abzuwenden. Der Sohn kochte vor Wut: "Ich möchte lieber, schreibt
er in einem Briefe, das gemeinste Weibsstück von ganz Berlin haben, als eine
Betschwester mit einem Gesicht wie ein halbes Dutzend Mucker zusammengenommen."
Noch vierundzwanzig Stunden vor der angesetzten Hochzeit erschien ans Wien Graf
Seckendorff und überbrachte den Vorschlag Kaiser Karls des Sechsten, die Ver¬
lobung des Kronprinzen aufzulösen und ihn mit der zweiten Tochter des englischen
Königs Georgs des Zweiten zu verbinden. Aber Friedrich Wilhelm der Erste
geriet über diese Einmischung in heftigen Zorn: er würde sich durch keine Vorteile
der Welt bewegen lassen, seiner Ehre und Parole einen solchen Schandfleck anzu¬
hangen.

Freilich im Interesse der Prinzessin Elisabeth Christine und auch wohl im
Interesse Preußens wäre es besser gewesen, wenn die Braunschweiger unter diesen
Umständen auf die Eheschließung verzichtet hätten, aber man hoffte wohl, die Zeit
würde alle Gegensätze ausgleichen. Das geschah leider nicht; im Gegenteil, das
Leben der Kronprinzessin und spätern Königin wurde am preußischen Hofe zu einem
Martyrium. Dadurch, daß sie alle Zurücksetzungen, Kränkungen und Beleidigungen
willenlos hinnahm und sich immer wieder sklavisch vor ihrem gnädigen Herrn beugte,
statt auch dem königlichen Gemahl gegenüber ihre Stellung entschieden zu wahren
und den König für sein zuweilen beleidigendes Verhalten mutig zur Rechenschaft zu
ziehen, verschlimmerte sie ihre Lage immer mehr; sie gewinnt durch diese Schwäche
auch nicht unsre Sympathien. Liselotte von der Pfalz kam in ähnliche Verhältnisse
hinein; aber mit welcher Charakterstärke, mit welchem Mut und welcher Würde hat
sie ihre Persönlichkeit durchgesetzt! Nur eine Frau von solchem Charakter und Geist
hätte Friedrich dem Zweiten imponieren können. Der König zählte seine Gemahlin
tatsächlich nicht zu seiner Familie. Als er aus dem siebenjährigen Kriege heim¬
kehrte, umarmte er alle seine Verwandten, aber seiner Gemahlin machte er nur
eine Verbeugung mit den Worten: "Madame sind korpulenter geworden." Er
konnte noch roher sein: zu einem Diner, das Friedrich seiner Schwester Ulrike,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

manchen neuen Zug zu ihrem Charakterbilde geben, sind erst jetzt im Landesarchiv
zu Wolfenbüttel der Forschung eröffnet worden, und Eufemici von Adlersfeld-
Ballestrem hat sich der Arbeit unterzogen, diese Quellen für eine neue Biographie
zu benutzen, die unter dem Titel erschienen ist: Elisabeth Christine, Königin
von Preußen, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Das Lebensbild
einer Verläumder. Nach Quellen bearbeitet unter Verwendung zum Teil unbe¬
nützten Materials aus dem Braunschweigischen Landesarchiv zu Wolfenbüttel. Mit
einem Titelbilde. Berlin, Verlagsbuchhandlung von Alfred Schall, 1908.

Die Verfasserin hat sich bemüht, das wenig günstige Bild, das die Geschicht¬
schreiber von dieser Königin zu entwerfen pflegen, wesentlich zu korrigieren und ihr
die im Leben versagt gewesne Gerechtigkeit im vollen Maße widerfahren zu lassen.
Elisabeth Christinens Schicksal war trotz ihrer hohen Stellung oder richtiger wegen
ihrer hohen Stellung neben einem Fürsten wie Friedrich dem Zweiten beklagenswert;
sie war das Opfer einer kurzsichtigen Kabinettspolitik, aber auch eines tiefen Grolls
und einer heftigen Reaktion, die der rücksichtslose Eigensinn Friedrich Wilhelms des
Ersten in seiner Familie, namentlich bei seiner Gemahlin Sophie Dorothea, seiner
Tochter Amalia und am schärfsten bei seinem Sohne Fritz hervorrufen mußte. Der
König preist die braunschweigische Prinzessin dem Sohne mit den Worten an: „Sie
ist ein gottesfürchtiges Mensch und dieses ist alles und comportable sowohl mit Euch
als mit den Schwiegereltern. Gott gebe seinen Segen dazu und segne Euch und
Eure Nachfolger." Der Kronprinz wußte aus böser Erfahrung, daß er dem Vater
auch in dieser Angelegenheit nicht widersprechen dürfe, und willigte ihm gegenüber
ein. Aber im Geheimen wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Ver¬
gewaltigung abzuwenden. Der Sohn kochte vor Wut: „Ich möchte lieber, schreibt
er in einem Briefe, das gemeinste Weibsstück von ganz Berlin haben, als eine
Betschwester mit einem Gesicht wie ein halbes Dutzend Mucker zusammengenommen."
Noch vierundzwanzig Stunden vor der angesetzten Hochzeit erschien ans Wien Graf
Seckendorff und überbrachte den Vorschlag Kaiser Karls des Sechsten, die Ver¬
lobung des Kronprinzen aufzulösen und ihn mit der zweiten Tochter des englischen
Königs Georgs des Zweiten zu verbinden. Aber Friedrich Wilhelm der Erste
geriet über diese Einmischung in heftigen Zorn: er würde sich durch keine Vorteile
der Welt bewegen lassen, seiner Ehre und Parole einen solchen Schandfleck anzu¬
hangen.

Freilich im Interesse der Prinzessin Elisabeth Christine und auch wohl im
Interesse Preußens wäre es besser gewesen, wenn die Braunschweiger unter diesen
Umständen auf die Eheschließung verzichtet hätten, aber man hoffte wohl, die Zeit
würde alle Gegensätze ausgleichen. Das geschah leider nicht; im Gegenteil, das
Leben der Kronprinzessin und spätern Königin wurde am preußischen Hofe zu einem
Martyrium. Dadurch, daß sie alle Zurücksetzungen, Kränkungen und Beleidigungen
willenlos hinnahm und sich immer wieder sklavisch vor ihrem gnädigen Herrn beugte,
statt auch dem königlichen Gemahl gegenüber ihre Stellung entschieden zu wahren
und den König für sein zuweilen beleidigendes Verhalten mutig zur Rechenschaft zu
ziehen, verschlimmerte sie ihre Lage immer mehr; sie gewinnt durch diese Schwäche
auch nicht unsre Sympathien. Liselotte von der Pfalz kam in ähnliche Verhältnisse
hinein; aber mit welcher Charakterstärke, mit welchem Mut und welcher Würde hat
sie ihre Persönlichkeit durchgesetzt! Nur eine Frau von solchem Charakter und Geist
hätte Friedrich dem Zweiten imponieren können. Der König zählte seine Gemahlin
tatsächlich nicht zu seiner Familie. Als er aus dem siebenjährigen Kriege heim¬
kehrte, umarmte er alle seine Verwandten, aber seiner Gemahlin machte er nur
eine Verbeugung mit den Worten: „Madame sind korpulenter geworden." Er
konnte noch roher sein: zu einem Diner, das Friedrich seiner Schwester Ulrike,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/678>, abgerufen am 12.12.2024.