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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

eine Gefahr sowohl für das heutige Deutsche Reich wie für die deutsche Natio¬
nalität überhaupt bezeichne. Ich behaupte uicht, daß die Gefahr akut ist,
aber ich bin überzeugt, daß sie uns umschleicht, um sich in einem gegebnen
Augenblick auf uns zu stürzen. Wann dieser Augenblick eintreten wird, vermag
natürlich niemand weder von uns noch von den slawischen Führern zu sagen,
denn wir sind keine Propheten. Wohl aber sind wir und jene imstande, uns
aus den uns umgebenden politischen, sozialen, wirtschaftlichen und nationalen
Zuständen sowie aus der Geschichte die Verhältnisse zu veranschaulichen, unter
denen die Gefahr akut werden kann. Meine Ausführungen seien deshalb mit
einem kurzen Ausblick auf die gedachten Verhältnisse beschlossen.

Zweifellos liegt der am meisten kritische Moment in den künftigen Be¬
ziehungen zwischen den Slawen in ihrer Gesamtheit und dem Deutschen Reich
als Nationalstaat in dem Augenblick, wo der greise Herrscher in Wien der
Politik den Rücken kehrt. Es ist keine Phrase, wenn Politiker behaupten,
Österreich werde überhaupt nur durch den Kaiser zusammengehalten. Ein
halbes Jahrhundert hat Kaiser Franz Joseph am Steuer seines Staatsschiffes
gestanden und sich in dieser Zeit bei allen Parteien und Nationalitäten eine
Achtung und Verehrung erworben, die weit über das Maß hinausgeht, das
sonst auch beliebten Monarchen von ihren Völkern entgegengebracht wird. Das
persönliche Verhältnis des Volks zum Monarchen zwingt gegenwärtig selbst
die radikalsten Führer, sich zu müßigen. Ob Deutsche, Tschechen oder Polen ---
solange der greise Herrscher an der Spitze steht, dürfte es kein Sozialist
wagen, das Volk zum Sturm gegen die Monarchie aufzufordern. Gegen das
Ministerium -- ja! gegen die verhaßten Deutschen ja! -- nicht gegen die
Krone!

Diese Rücksicht fällt weg, sobald ein junger Monarch die schwere Last der
Krone Habsburg auf sich nimmt. Was müßte er tun, um die stärksten Kreise
in der Gesellschaft an sich zu fesseln? Könnte er die Politik des allmählichen
Zurückweichens vor den slawischen Forderungen noch ein Menschenalter hindurch
fortsetzen und dadurch den Sieg der Polen und Tschechen über das Deutschtum
unabwendbar machen? Könnte er sich an die Spitze der Deutschen oder der
Polen stellen und einem von ihnen dadurch zur Hegemonie in Österreich ver¬
helfen? Wer könnte die sich aufdrängenden Fragen beantworten?! Auch ich möchte
den Versuch nicht wagen. Die angedeutete Situation kann jeden Augenblick
eintreten, und obwohl alle Welt darauf vorbereitet ist, würde sie doch immer
als eine gewaltige Überraschung wirken -- würde sie zu früh kommen. Denn
mit ihr werden so unendlich viel Verbindlichkeiten gelöst, daß sie bisher von
niemand vollständig überschaut werden können.

Weniger plötzlich und von langer Hand vorbereitet entwickeln.sich die
Verhältnisse auf dem Gebiete der internationalen Politik. Sind sie
auch nicht jedem Politiker gegenwärtig, so lassen sie sich durch ein eingehendes
Studium feststellen. Bisher ist für das Studium dieser Frage von deutscher


Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

eine Gefahr sowohl für das heutige Deutsche Reich wie für die deutsche Natio¬
nalität überhaupt bezeichne. Ich behaupte uicht, daß die Gefahr akut ist,
aber ich bin überzeugt, daß sie uns umschleicht, um sich in einem gegebnen
Augenblick auf uns zu stürzen. Wann dieser Augenblick eintreten wird, vermag
natürlich niemand weder von uns noch von den slawischen Führern zu sagen,
denn wir sind keine Propheten. Wohl aber sind wir und jene imstande, uns
aus den uns umgebenden politischen, sozialen, wirtschaftlichen und nationalen
Zuständen sowie aus der Geschichte die Verhältnisse zu veranschaulichen, unter
denen die Gefahr akut werden kann. Meine Ausführungen seien deshalb mit
einem kurzen Ausblick auf die gedachten Verhältnisse beschlossen.

Zweifellos liegt der am meisten kritische Moment in den künftigen Be¬
ziehungen zwischen den Slawen in ihrer Gesamtheit und dem Deutschen Reich
als Nationalstaat in dem Augenblick, wo der greise Herrscher in Wien der
Politik den Rücken kehrt. Es ist keine Phrase, wenn Politiker behaupten,
Österreich werde überhaupt nur durch den Kaiser zusammengehalten. Ein
halbes Jahrhundert hat Kaiser Franz Joseph am Steuer seines Staatsschiffes
gestanden und sich in dieser Zeit bei allen Parteien und Nationalitäten eine
Achtung und Verehrung erworben, die weit über das Maß hinausgeht, das
sonst auch beliebten Monarchen von ihren Völkern entgegengebracht wird. Das
persönliche Verhältnis des Volks zum Monarchen zwingt gegenwärtig selbst
die radikalsten Führer, sich zu müßigen. Ob Deutsche, Tschechen oder Polen -—
solange der greise Herrscher an der Spitze steht, dürfte es kein Sozialist
wagen, das Volk zum Sturm gegen die Monarchie aufzufordern. Gegen das
Ministerium — ja! gegen die verhaßten Deutschen ja! — nicht gegen die
Krone!

Diese Rücksicht fällt weg, sobald ein junger Monarch die schwere Last der
Krone Habsburg auf sich nimmt. Was müßte er tun, um die stärksten Kreise
in der Gesellschaft an sich zu fesseln? Könnte er die Politik des allmählichen
Zurückweichens vor den slawischen Forderungen noch ein Menschenalter hindurch
fortsetzen und dadurch den Sieg der Polen und Tschechen über das Deutschtum
unabwendbar machen? Könnte er sich an die Spitze der Deutschen oder der
Polen stellen und einem von ihnen dadurch zur Hegemonie in Österreich ver¬
helfen? Wer könnte die sich aufdrängenden Fragen beantworten?! Auch ich möchte
den Versuch nicht wagen. Die angedeutete Situation kann jeden Augenblick
eintreten, und obwohl alle Welt darauf vorbereitet ist, würde sie doch immer
als eine gewaltige Überraschung wirken — würde sie zu früh kommen. Denn
mit ihr werden so unendlich viel Verbindlichkeiten gelöst, daß sie bisher von
niemand vollständig überschaut werden können.

Weniger plötzlich und von langer Hand vorbereitet entwickeln.sich die
Verhältnisse auf dem Gebiete der internationalen Politik. Sind sie
auch nicht jedem Politiker gegenwärtig, so lassen sie sich durch ein eingehendes
Studium feststellen. Bisher ist für das Studium dieser Frage von deutscher


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[0592] Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat eine Gefahr sowohl für das heutige Deutsche Reich wie für die deutsche Natio¬ nalität überhaupt bezeichne. Ich behaupte uicht, daß die Gefahr akut ist, aber ich bin überzeugt, daß sie uns umschleicht, um sich in einem gegebnen Augenblick auf uns zu stürzen. Wann dieser Augenblick eintreten wird, vermag natürlich niemand weder von uns noch von den slawischen Führern zu sagen, denn wir sind keine Propheten. Wohl aber sind wir und jene imstande, uns aus den uns umgebenden politischen, sozialen, wirtschaftlichen und nationalen Zuständen sowie aus der Geschichte die Verhältnisse zu veranschaulichen, unter denen die Gefahr akut werden kann. Meine Ausführungen seien deshalb mit einem kurzen Ausblick auf die gedachten Verhältnisse beschlossen. Zweifellos liegt der am meisten kritische Moment in den künftigen Be¬ ziehungen zwischen den Slawen in ihrer Gesamtheit und dem Deutschen Reich als Nationalstaat in dem Augenblick, wo der greise Herrscher in Wien der Politik den Rücken kehrt. Es ist keine Phrase, wenn Politiker behaupten, Österreich werde überhaupt nur durch den Kaiser zusammengehalten. Ein halbes Jahrhundert hat Kaiser Franz Joseph am Steuer seines Staatsschiffes gestanden und sich in dieser Zeit bei allen Parteien und Nationalitäten eine Achtung und Verehrung erworben, die weit über das Maß hinausgeht, das sonst auch beliebten Monarchen von ihren Völkern entgegengebracht wird. Das persönliche Verhältnis des Volks zum Monarchen zwingt gegenwärtig selbst die radikalsten Führer, sich zu müßigen. Ob Deutsche, Tschechen oder Polen -— solange der greise Herrscher an der Spitze steht, dürfte es kein Sozialist wagen, das Volk zum Sturm gegen die Monarchie aufzufordern. Gegen das Ministerium — ja! gegen die verhaßten Deutschen ja! — nicht gegen die Krone! Diese Rücksicht fällt weg, sobald ein junger Monarch die schwere Last der Krone Habsburg auf sich nimmt. Was müßte er tun, um die stärksten Kreise in der Gesellschaft an sich zu fesseln? Könnte er die Politik des allmählichen Zurückweichens vor den slawischen Forderungen noch ein Menschenalter hindurch fortsetzen und dadurch den Sieg der Polen und Tschechen über das Deutschtum unabwendbar machen? Könnte er sich an die Spitze der Deutschen oder der Polen stellen und einem von ihnen dadurch zur Hegemonie in Österreich ver¬ helfen? Wer könnte die sich aufdrängenden Fragen beantworten?! Auch ich möchte den Versuch nicht wagen. Die angedeutete Situation kann jeden Augenblick eintreten, und obwohl alle Welt darauf vorbereitet ist, würde sie doch immer als eine gewaltige Überraschung wirken — würde sie zu früh kommen. Denn mit ihr werden so unendlich viel Verbindlichkeiten gelöst, daß sie bisher von niemand vollständig überschaut werden können. Weniger plötzlich und von langer Hand vorbereitet entwickeln.sich die Verhältnisse auf dem Gebiete der internationalen Politik. Sind sie auch nicht jedem Politiker gegenwärtig, so lassen sie sich durch ein eingehendes Studium feststellen. Bisher ist für das Studium dieser Frage von deutscher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/592>, abgerufen am 23.07.2024.