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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Sozialpolitik

Während einer Reihe von Jahren stand die Sozialpolitik im Reichstag
an der ersten Stelle. In dieser Session gebührt hingegen der Reichssincmzreform
der Vorrang, doch ist hinreichend dafür gesorgt, daß auch die Sozialreform nicht
zu kurz kommt. Und wenn -- was diesmal keineswegs der Fall ist -- der
Tisch des Hauses mit neuen sozialpolitischen Gesetzentwürfen nicht genügend
besetzt sein sollte, so hat es der Reichstag in seiner Hand, seiner "Initiative"
breitere Anwendung zu geben. Hierzu bietet besonders die gewohnte "große"
sozialpolitische Aussprache, die um den Gesamtctat des Reichsamts des Innern
einleitend anzuknüpfen pflegt, willkommne und eifrig benutzte Gelegenheit. Im
Februar dieses Jahres füllte die bunte Mannigfaltigkeit der betreffenden Ver¬
handlungen sechs volle Sitzungstage ans. Wer diesen parlamentarischen Aus¬
einandersetzungen bis zum Schluß gefolgt ist -- keine leichte und keine erquickliche
Aufgabe --, wird schwerlich den Eindruck empfangen haben, daß unsre sozial¬
politische Erkenntnis von der Breite der rednerischen Ausführungen und von der
Vielheit der zur Sprache gebrachten Themata einen wesentlichen Nutzen davon¬
getragen hat. Trotzdem möchten wir dieses Redetnrnier, so müßig es in manchen
Einzelheiten erscheinen mag, nicht missen, denn wir können dadurch in gewissem
Maße ungefähr zu eiuer Orientierung über die Stimmungen und Strömungen
des Reichstags mit Bezug auf die sozialpolitischen Dinge der Gegenwart ge¬
langen; das ist immerhin von einiger Bedeutung. Beileibe soll damit nicht
behauptet werden, daß sich aus der sprunghafter Behandlung von allerlei
mehr oder minder interessanten "Fragen" aus dem weiten Gebiete der Sozial¬
politik irgendwelche programmatische Richtlinien für den demnächst einzuschlagenden
sozialpolitischen Reichstagskurs entnehmen lassen, wir gewinnen aber einen
immerhin schätzenswerten Einblick in den Seelenzustand unsrer Volksvertretung.
Der sozialpolitische Puls der Herren Neichsboten in ihrer Gesamtheit schlüge
nun einmal nicht immer gleichmäßig, sondern wird von innern Erwägungen
und äußern Einwirkungen wesentlich beeinflußt. Das wird bestätigt finden, wer
sich danach umsieht, welche "aktuellen" Themata im Reichstag im Laufe einiger
Jahre den lautesten Widerhall gefunden haben. Diese Themata tauchen auf
und schweben nieder, je nachdem sich dort draußen auf dem Markte des Lebens
die begehrenden Stimmen in der einen oder in der andern Richtung am lautesten
erheben; die Anregungen und Wünsche aus dem Hause häufen sich, wenn Neu¬
wahlen vor der Tür stehn, lind werden zurückhaltender, wenn der Wahlkampf
ausgefochten ist nud wiederum "Ruhe im Lande" herrscht. Arbeitskämpfe, die
Bestrebungen des Mittelstandes, die Handwerkerbewegung, die Proteststimme
der Großindustrie und andres mehr lassen abwechselnd ihren Schatten in den
Reichstagssaal fallen und geben den Debatten Charakter und Färbung.

Man wird es begreiflich finde", daß sich die Regierung um so unbehag¬
licher fühlt, je gemischter der Chor ist, der sein Wunschprogramm vorträgt.
Graf Posadowsky hat sich gelegentlich -- es sind genau zehn Jahre her -- in
bittern Klagen ergangen, daß der Dilettantismus auf keinem andern Gebiete
so breitspurig auftrete wie auf dem der sozialen Gesetzgebung, und hat, "die


Unsre Sozialpolitik

Während einer Reihe von Jahren stand die Sozialpolitik im Reichstag
an der ersten Stelle. In dieser Session gebührt hingegen der Reichssincmzreform
der Vorrang, doch ist hinreichend dafür gesorgt, daß auch die Sozialreform nicht
zu kurz kommt. Und wenn — was diesmal keineswegs der Fall ist — der
Tisch des Hauses mit neuen sozialpolitischen Gesetzentwürfen nicht genügend
besetzt sein sollte, so hat es der Reichstag in seiner Hand, seiner „Initiative"
breitere Anwendung zu geben. Hierzu bietet besonders die gewohnte „große"
sozialpolitische Aussprache, die um den Gesamtctat des Reichsamts des Innern
einleitend anzuknüpfen pflegt, willkommne und eifrig benutzte Gelegenheit. Im
Februar dieses Jahres füllte die bunte Mannigfaltigkeit der betreffenden Ver¬
handlungen sechs volle Sitzungstage ans. Wer diesen parlamentarischen Aus¬
einandersetzungen bis zum Schluß gefolgt ist — keine leichte und keine erquickliche
Aufgabe —, wird schwerlich den Eindruck empfangen haben, daß unsre sozial¬
politische Erkenntnis von der Breite der rednerischen Ausführungen und von der
Vielheit der zur Sprache gebrachten Themata einen wesentlichen Nutzen davon¬
getragen hat. Trotzdem möchten wir dieses Redetnrnier, so müßig es in manchen
Einzelheiten erscheinen mag, nicht missen, denn wir können dadurch in gewissem
Maße ungefähr zu eiuer Orientierung über die Stimmungen und Strömungen
des Reichstags mit Bezug auf die sozialpolitischen Dinge der Gegenwart ge¬
langen; das ist immerhin von einiger Bedeutung. Beileibe soll damit nicht
behauptet werden, daß sich aus der sprunghafter Behandlung von allerlei
mehr oder minder interessanten „Fragen" aus dem weiten Gebiete der Sozial¬
politik irgendwelche programmatische Richtlinien für den demnächst einzuschlagenden
sozialpolitischen Reichstagskurs entnehmen lassen, wir gewinnen aber einen
immerhin schätzenswerten Einblick in den Seelenzustand unsrer Volksvertretung.
Der sozialpolitische Puls der Herren Neichsboten in ihrer Gesamtheit schlüge
nun einmal nicht immer gleichmäßig, sondern wird von innern Erwägungen
und äußern Einwirkungen wesentlich beeinflußt. Das wird bestätigt finden, wer
sich danach umsieht, welche „aktuellen" Themata im Reichstag im Laufe einiger
Jahre den lautesten Widerhall gefunden haben. Diese Themata tauchen auf
und schweben nieder, je nachdem sich dort draußen auf dem Markte des Lebens
die begehrenden Stimmen in der einen oder in der andern Richtung am lautesten
erheben; die Anregungen und Wünsche aus dem Hause häufen sich, wenn Neu¬
wahlen vor der Tür stehn, lind werden zurückhaltender, wenn der Wahlkampf
ausgefochten ist nud wiederum „Ruhe im Lande" herrscht. Arbeitskämpfe, die
Bestrebungen des Mittelstandes, die Handwerkerbewegung, die Proteststimme
der Großindustrie und andres mehr lassen abwechselnd ihren Schatten in den
Reichstagssaal fallen und geben den Debatten Charakter und Färbung.

Man wird es begreiflich finde», daß sich die Regierung um so unbehag¬
licher fühlt, je gemischter der Chor ist, der sein Wunschprogramm vorträgt.
Graf Posadowsky hat sich gelegentlich — es sind genau zehn Jahre her — in
bittern Klagen ergangen, daß der Dilettantismus auf keinem andern Gebiete
so breitspurig auftrete wie auf dem der sozialen Gesetzgebung, und hat, „die


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[0578] Unsre Sozialpolitik Während einer Reihe von Jahren stand die Sozialpolitik im Reichstag an der ersten Stelle. In dieser Session gebührt hingegen der Reichssincmzreform der Vorrang, doch ist hinreichend dafür gesorgt, daß auch die Sozialreform nicht zu kurz kommt. Und wenn — was diesmal keineswegs der Fall ist — der Tisch des Hauses mit neuen sozialpolitischen Gesetzentwürfen nicht genügend besetzt sein sollte, so hat es der Reichstag in seiner Hand, seiner „Initiative" breitere Anwendung zu geben. Hierzu bietet besonders die gewohnte „große" sozialpolitische Aussprache, die um den Gesamtctat des Reichsamts des Innern einleitend anzuknüpfen pflegt, willkommne und eifrig benutzte Gelegenheit. Im Februar dieses Jahres füllte die bunte Mannigfaltigkeit der betreffenden Ver¬ handlungen sechs volle Sitzungstage ans. Wer diesen parlamentarischen Aus¬ einandersetzungen bis zum Schluß gefolgt ist — keine leichte und keine erquickliche Aufgabe —, wird schwerlich den Eindruck empfangen haben, daß unsre sozial¬ politische Erkenntnis von der Breite der rednerischen Ausführungen und von der Vielheit der zur Sprache gebrachten Themata einen wesentlichen Nutzen davon¬ getragen hat. Trotzdem möchten wir dieses Redetnrnier, so müßig es in manchen Einzelheiten erscheinen mag, nicht missen, denn wir können dadurch in gewissem Maße ungefähr zu eiuer Orientierung über die Stimmungen und Strömungen des Reichstags mit Bezug auf die sozialpolitischen Dinge der Gegenwart ge¬ langen; das ist immerhin von einiger Bedeutung. Beileibe soll damit nicht behauptet werden, daß sich aus der sprunghafter Behandlung von allerlei mehr oder minder interessanten „Fragen" aus dem weiten Gebiete der Sozial¬ politik irgendwelche programmatische Richtlinien für den demnächst einzuschlagenden sozialpolitischen Reichstagskurs entnehmen lassen, wir gewinnen aber einen immerhin schätzenswerten Einblick in den Seelenzustand unsrer Volksvertretung. Der sozialpolitische Puls der Herren Neichsboten in ihrer Gesamtheit schlüge nun einmal nicht immer gleichmäßig, sondern wird von innern Erwägungen und äußern Einwirkungen wesentlich beeinflußt. Das wird bestätigt finden, wer sich danach umsieht, welche „aktuellen" Themata im Reichstag im Laufe einiger Jahre den lautesten Widerhall gefunden haben. Diese Themata tauchen auf und schweben nieder, je nachdem sich dort draußen auf dem Markte des Lebens die begehrenden Stimmen in der einen oder in der andern Richtung am lautesten erheben; die Anregungen und Wünsche aus dem Hause häufen sich, wenn Neu¬ wahlen vor der Tür stehn, lind werden zurückhaltender, wenn der Wahlkampf ausgefochten ist nud wiederum „Ruhe im Lande" herrscht. Arbeitskämpfe, die Bestrebungen des Mittelstandes, die Handwerkerbewegung, die Proteststimme der Großindustrie und andres mehr lassen abwechselnd ihren Schatten in den Reichstagssaal fallen und geben den Debatten Charakter und Färbung. Man wird es begreiflich finde», daß sich die Regierung um so unbehag¬ licher fühlt, je gemischter der Chor ist, der sein Wunschprogramm vorträgt. Graf Posadowsky hat sich gelegentlich — es sind genau zehn Jahre her — in bittern Klagen ergangen, daß der Dilettantismus auf keinem andern Gebiete so breitspurig auftrete wie auf dem der sozialen Gesetzgebung, und hat, „die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/578>, abgerufen am 23.07.2024.