Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Cicero

wenig zu ermitteln vermögen wie etwa der Maschinenspinner seinen Anteil
an dem fertigen Stück Leinwand, darum wäre es töricht, wenn wir unser
Glück, unsre Zufriedenheit auf das Bewußtsein unsrer Gerechtigkeit gründen
wollten. Was ein jeder von uns wert ist, das weiß allein Gott; wir können
und dürfen weder uns selbst noch andre richten. Aber eben darum brauchen
wir nicht vor Angst wahnsinnig zu werden, wenn wir in einem Gewissens¬
konflikt nicht mit Sicherheit zu ermitteln vermögen, was unsre Pflicht ist.
Haben wir nach reiflicher Erwägung einen Entschluß gefaßt, gegen den noch
ernstliche Bedenken obwalten, so darf uns das nicht weiter beunruhigen, denn
Gott, der die unendliche Vernunft ist, kann nicht unvernunftigerwei.se Un¬
mögliches von uns fordern und wird unsre Tat, die er so gewollt haben
muß, wie sie zustandekommt, in seinem Plane verwenden. Die Kirche hat
freilich noch ein zweites, weniger unbedenkliches Beruhigungsmittel erfunden,
das schon Ambrosius anpreist: man soll sich der Führung des Priesters an¬
vertrauen, der einem in zweifelhaften Fällen schon sagen wird, was das
Rechte sei. Auch dieses Beruhigungsmittel übrigens würde zulässig erscheinen,
wenn es die Kirche nur den wirklich Unselbständigen und Leitungsbe¬
dürftigen empföhle und sich nicht anmaßte, es allen ohne Unterschied aufzu-
zwingen.

Was die Kirche für die Masse getan hat, erkennt Zielinski an, fragt
jedoch, ob sie nicht im Verhältnis zur Gabe zu viel verlangt habe, wenn sie
das Opfer der Persönlichkeit forderte. "Vielleicht, vielleicht auch nicht", ant¬
wortet er; soviel aber sei sicher: sowie irgendwo eine Persönlichkeit erstehe,
fordere sie die Freiheit der Wahl, der Entschließung, als ihr Recht. Solche
Persönlichkeiten seien nun zur Zeit der Renaissance in Fülle erstanden, und
auch ihnen sei Cicero Erwecker und Führer gewesen, eben das, was oben als
sein Geist bezeichnet wurde, sei in ihnen erstanden. Die gewöhnliche Ansicht,
wonach die Leistung der Renaissance darin bestehe, daß Petrarca und die
Seinen die alten Autoren, darunter auch den Cicero, wieder zu Ehren ge¬
bracht, sei falsch; der Einfluß Ciceros auf Petrarca sei ein eminent persön¬
licher gewesen, nicht als ein beliebiger der alten Autoren, sondern als Cicero
habe er gewirkt. Das wird ausführlich dargestellt und die Renaissance als
eine individualistische, weltflüchtige Richtung von Menschen beschrieben, die mit
der Masse nichts zu schaffen haben, auf sie nicht einwirken wollten. (Eine
der Ursachen, aus denen sich Nietzsche den Renaissancemenschen verwandt
fühlen mußte.) "Der Renaissance folgten die Reformation und die Gegen¬
reformation; für unsre Frage werfen beide gleich wenig ab." Beide Be¬
wegungen standen eben dem ciceronianischen Geiste fremd, ja feindlich gegen¬
über. Dagegen hat Cicero, nicht durch seinen Geist, sondern stofflich, das
Erwachen und den Fortschritt der Realwissenschaften gefördert. Wenn Cicero
gegen die atomistische Zufallswelt einwendet: eine vom Himmel aufs Gerate¬
wohl ausgeschüttete Menge unzähliger Buchstaben werde nimmermehr in der


Cicero

wenig zu ermitteln vermögen wie etwa der Maschinenspinner seinen Anteil
an dem fertigen Stück Leinwand, darum wäre es töricht, wenn wir unser
Glück, unsre Zufriedenheit auf das Bewußtsein unsrer Gerechtigkeit gründen
wollten. Was ein jeder von uns wert ist, das weiß allein Gott; wir können
und dürfen weder uns selbst noch andre richten. Aber eben darum brauchen
wir nicht vor Angst wahnsinnig zu werden, wenn wir in einem Gewissens¬
konflikt nicht mit Sicherheit zu ermitteln vermögen, was unsre Pflicht ist.
Haben wir nach reiflicher Erwägung einen Entschluß gefaßt, gegen den noch
ernstliche Bedenken obwalten, so darf uns das nicht weiter beunruhigen, denn
Gott, der die unendliche Vernunft ist, kann nicht unvernunftigerwei.se Un¬
mögliches von uns fordern und wird unsre Tat, die er so gewollt haben
muß, wie sie zustandekommt, in seinem Plane verwenden. Die Kirche hat
freilich noch ein zweites, weniger unbedenkliches Beruhigungsmittel erfunden,
das schon Ambrosius anpreist: man soll sich der Führung des Priesters an¬
vertrauen, der einem in zweifelhaften Fällen schon sagen wird, was das
Rechte sei. Auch dieses Beruhigungsmittel übrigens würde zulässig erscheinen,
wenn es die Kirche nur den wirklich Unselbständigen und Leitungsbe¬
dürftigen empföhle und sich nicht anmaßte, es allen ohne Unterschied aufzu-
zwingen.

Was die Kirche für die Masse getan hat, erkennt Zielinski an, fragt
jedoch, ob sie nicht im Verhältnis zur Gabe zu viel verlangt habe, wenn sie
das Opfer der Persönlichkeit forderte. „Vielleicht, vielleicht auch nicht", ant¬
wortet er; soviel aber sei sicher: sowie irgendwo eine Persönlichkeit erstehe,
fordere sie die Freiheit der Wahl, der Entschließung, als ihr Recht. Solche
Persönlichkeiten seien nun zur Zeit der Renaissance in Fülle erstanden, und
auch ihnen sei Cicero Erwecker und Führer gewesen, eben das, was oben als
sein Geist bezeichnet wurde, sei in ihnen erstanden. Die gewöhnliche Ansicht,
wonach die Leistung der Renaissance darin bestehe, daß Petrarca und die
Seinen die alten Autoren, darunter auch den Cicero, wieder zu Ehren ge¬
bracht, sei falsch; der Einfluß Ciceros auf Petrarca sei ein eminent persön¬
licher gewesen, nicht als ein beliebiger der alten Autoren, sondern als Cicero
habe er gewirkt. Das wird ausführlich dargestellt und die Renaissance als
eine individualistische, weltflüchtige Richtung von Menschen beschrieben, die mit
der Masse nichts zu schaffen haben, auf sie nicht einwirken wollten. (Eine
der Ursachen, aus denen sich Nietzsche den Renaissancemenschen verwandt
fühlen mußte.) „Der Renaissance folgten die Reformation und die Gegen¬
reformation; für unsre Frage werfen beide gleich wenig ab." Beide Be¬
wegungen standen eben dem ciceronianischen Geiste fremd, ja feindlich gegen¬
über. Dagegen hat Cicero, nicht durch seinen Geist, sondern stofflich, das
Erwachen und den Fortschritt der Realwissenschaften gefördert. Wenn Cicero
gegen die atomistische Zufallswelt einwendet: eine vom Himmel aufs Gerate¬
wohl ausgeschüttete Menge unzähliger Buchstaben werde nimmermehr in der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0454" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312805"/>
          <fw type="header" place="top"> Cicero</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1733" prev="#ID_1732"> wenig zu ermitteln vermögen wie etwa der Maschinenspinner seinen Anteil<lb/>
an dem fertigen Stück Leinwand, darum wäre es töricht, wenn wir unser<lb/>
Glück, unsre Zufriedenheit auf das Bewußtsein unsrer Gerechtigkeit gründen<lb/>
wollten. Was ein jeder von uns wert ist, das weiß allein Gott; wir können<lb/>
und dürfen weder uns selbst noch andre richten. Aber eben darum brauchen<lb/>
wir nicht vor Angst wahnsinnig zu werden, wenn wir in einem Gewissens¬<lb/>
konflikt nicht mit Sicherheit zu ermitteln vermögen, was unsre Pflicht ist.<lb/>
Haben wir nach reiflicher Erwägung einen Entschluß gefaßt, gegen den noch<lb/>
ernstliche Bedenken obwalten, so darf uns das nicht weiter beunruhigen, denn<lb/>
Gott, der die unendliche Vernunft ist, kann nicht unvernunftigerwei.se Un¬<lb/>
mögliches von uns fordern und wird unsre Tat, die er so gewollt haben<lb/>
muß, wie sie zustandekommt, in seinem Plane verwenden. Die Kirche hat<lb/>
freilich noch ein zweites, weniger unbedenkliches Beruhigungsmittel erfunden,<lb/>
das schon Ambrosius anpreist: man soll sich der Führung des Priesters an¬<lb/>
vertrauen, der einem in zweifelhaften Fällen schon sagen wird, was das<lb/>
Rechte sei. Auch dieses Beruhigungsmittel übrigens würde zulässig erscheinen,<lb/>
wenn es die Kirche nur den wirklich Unselbständigen und Leitungsbe¬<lb/>
dürftigen empföhle und sich nicht anmaßte, es allen ohne Unterschied aufzu-<lb/>
zwingen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1734" next="#ID_1735"> Was die Kirche für die Masse getan hat, erkennt Zielinski an, fragt<lb/>
jedoch, ob sie nicht im Verhältnis zur Gabe zu viel verlangt habe, wenn sie<lb/>
das Opfer der Persönlichkeit forderte. &#x201E;Vielleicht, vielleicht auch nicht", ant¬<lb/>
wortet er; soviel aber sei sicher: sowie irgendwo eine Persönlichkeit erstehe,<lb/>
fordere sie die Freiheit der Wahl, der Entschließung, als ihr Recht. Solche<lb/>
Persönlichkeiten seien nun zur Zeit der Renaissance in Fülle erstanden, und<lb/>
auch ihnen sei Cicero Erwecker und Führer gewesen, eben das, was oben als<lb/>
sein Geist bezeichnet wurde, sei in ihnen erstanden. Die gewöhnliche Ansicht,<lb/>
wonach die Leistung der Renaissance darin bestehe, daß Petrarca und die<lb/>
Seinen die alten Autoren, darunter auch den Cicero, wieder zu Ehren ge¬<lb/>
bracht, sei falsch; der Einfluß Ciceros auf Petrarca sei ein eminent persön¬<lb/>
licher gewesen, nicht als ein beliebiger der alten Autoren, sondern als Cicero<lb/>
habe er gewirkt. Das wird ausführlich dargestellt und die Renaissance als<lb/>
eine individualistische, weltflüchtige Richtung von Menschen beschrieben, die mit<lb/>
der Masse nichts zu schaffen haben, auf sie nicht einwirken wollten. (Eine<lb/>
der Ursachen, aus denen sich Nietzsche den Renaissancemenschen verwandt<lb/>
fühlen mußte.) &#x201E;Der Renaissance folgten die Reformation und die Gegen¬<lb/>
reformation; für unsre Frage werfen beide gleich wenig ab." Beide Be¬<lb/>
wegungen standen eben dem ciceronianischen Geiste fremd, ja feindlich gegen¬<lb/>
über. Dagegen hat Cicero, nicht durch seinen Geist, sondern stofflich, das<lb/>
Erwachen und den Fortschritt der Realwissenschaften gefördert. Wenn Cicero<lb/>
gegen die atomistische Zufallswelt einwendet: eine vom Himmel aufs Gerate¬<lb/>
wohl ausgeschüttete Menge unzähliger Buchstaben werde nimmermehr in der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0454] Cicero wenig zu ermitteln vermögen wie etwa der Maschinenspinner seinen Anteil an dem fertigen Stück Leinwand, darum wäre es töricht, wenn wir unser Glück, unsre Zufriedenheit auf das Bewußtsein unsrer Gerechtigkeit gründen wollten. Was ein jeder von uns wert ist, das weiß allein Gott; wir können und dürfen weder uns selbst noch andre richten. Aber eben darum brauchen wir nicht vor Angst wahnsinnig zu werden, wenn wir in einem Gewissens¬ konflikt nicht mit Sicherheit zu ermitteln vermögen, was unsre Pflicht ist. Haben wir nach reiflicher Erwägung einen Entschluß gefaßt, gegen den noch ernstliche Bedenken obwalten, so darf uns das nicht weiter beunruhigen, denn Gott, der die unendliche Vernunft ist, kann nicht unvernunftigerwei.se Un¬ mögliches von uns fordern und wird unsre Tat, die er so gewollt haben muß, wie sie zustandekommt, in seinem Plane verwenden. Die Kirche hat freilich noch ein zweites, weniger unbedenkliches Beruhigungsmittel erfunden, das schon Ambrosius anpreist: man soll sich der Führung des Priesters an¬ vertrauen, der einem in zweifelhaften Fällen schon sagen wird, was das Rechte sei. Auch dieses Beruhigungsmittel übrigens würde zulässig erscheinen, wenn es die Kirche nur den wirklich Unselbständigen und Leitungsbe¬ dürftigen empföhle und sich nicht anmaßte, es allen ohne Unterschied aufzu- zwingen. Was die Kirche für die Masse getan hat, erkennt Zielinski an, fragt jedoch, ob sie nicht im Verhältnis zur Gabe zu viel verlangt habe, wenn sie das Opfer der Persönlichkeit forderte. „Vielleicht, vielleicht auch nicht", ant¬ wortet er; soviel aber sei sicher: sowie irgendwo eine Persönlichkeit erstehe, fordere sie die Freiheit der Wahl, der Entschließung, als ihr Recht. Solche Persönlichkeiten seien nun zur Zeit der Renaissance in Fülle erstanden, und auch ihnen sei Cicero Erwecker und Führer gewesen, eben das, was oben als sein Geist bezeichnet wurde, sei in ihnen erstanden. Die gewöhnliche Ansicht, wonach die Leistung der Renaissance darin bestehe, daß Petrarca und die Seinen die alten Autoren, darunter auch den Cicero, wieder zu Ehren ge¬ bracht, sei falsch; der Einfluß Ciceros auf Petrarca sei ein eminent persön¬ licher gewesen, nicht als ein beliebiger der alten Autoren, sondern als Cicero habe er gewirkt. Das wird ausführlich dargestellt und die Renaissance als eine individualistische, weltflüchtige Richtung von Menschen beschrieben, die mit der Masse nichts zu schaffen haben, auf sie nicht einwirken wollten. (Eine der Ursachen, aus denen sich Nietzsche den Renaissancemenschen verwandt fühlen mußte.) „Der Renaissance folgten die Reformation und die Gegen¬ reformation; für unsre Frage werfen beide gleich wenig ab." Beide Be¬ wegungen standen eben dem ciceronianischen Geiste fremd, ja feindlich gegen¬ über. Dagegen hat Cicero, nicht durch seinen Geist, sondern stofflich, das Erwachen und den Fortschritt der Realwissenschaften gefördert. Wenn Cicero gegen die atomistische Zufallswelt einwendet: eine vom Himmel aufs Gerate¬ wohl ausgeschüttete Menge unzähliger Buchstaben werde nimmermehr in der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/454
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/454>, abgerufen am 23.07.2024.