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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Drei vortrage Harnacks

Vierten und des fünften Jahrhunderts nicht gebunden sind, darin stimme ich mit
Harnack überein. Der dritte Vortrag zeigt, wie die Urchristengemeinden schon
als Erben der großartigen jüdischen Geschichte eine Weltmacht in xotentig,
waren, wie sie eine solche durch ihre Organisation, durch ihren materiellen
Besitz, durch die Aneignung aller geistigen Machtmittel schon im zweiten und
dritten Jahrhundert wirklich wurden, sodaß dem großen Konstantin gar nichts
andres übrig blieb, als die kirchliche Organisation zur Grundlage seines Reiches
zu machen. Freilich sei dieser damals allein offenstehende Weg ein gefährlicher
Weg. Der Staat müsse seinen eignen Grund unter den Füßen haben; er
möge sich freuen, eine geistige Macht, wie die christliche sei, in seinem Schoße
hegen zu dürfen, solle aber nie vergessen, daß er -- er selbst sei.

Die Vossische Zeitung hat diesmal kein höhnendes Wort gewagt, sondern
den großen Theologen mit der ihm gebührenden Ehrerbietung behandelt. Die
Germania erkennt zwar, wie schon bemerkt worden ist, Harnacks Vorzüge an,
findet aber, daß sich seine Vorträge in formeller Vollendung mit denen
katholischer Größen nicht messen können. Darüber läßt sich, als über eine
Geschmacksache, nicht streiten; als charakteristisch verdient nur erwähnt zu
werden, daß die zwei ersten von den fünf katholischen Größen, die sie über
Harnack stellt, die Modernisten Schelk und Kraus sind. Noch weniger ist sie
natürlich mit dem Inhalt des Vorgetragnen zufrieden. Besonders tadelnswert
findet sie es, daß Harnack an sehr wichtigen Einwürfen, die ihm gemacht
werden können, vorübergehe, ohne sie zu beachten, andre, die er erwähnt, mit
der Bemerkung abfertige: wer wird so vorwitzig sein, das wissen zu wollen!
Und sie stellt ihm den heiligen Thomas als Muster vor, der ja in der Tat
jede seiner Behauptungen genau formuliert, alle in seiner Zeit möglichen Ein¬
würfe dagegen der Reihe nach widerlegt und alle Fragen mit einem klaren
"ja" oder "nein" beantwortet. Wir Heutigen sind eben nicht mehr so naiv,
zu meinen, wir wüßten alles (das heißt wir heutigen Denker; die Kirch¬
gläubigen wie die Haeckelgläubigen sind beide darin noch ganz Mittelalter).
Wir wissen, daß wir nichts oder wenig wissen, und daß wir in Beziehung
auf die großen Welträtsel höchstens Vermutungen wagen dürfen. Wir sind
bescheidne Agnostiker, Hypothesenbauer und Relativisten geworden. Es ist
wahr, die Scholastik imponiert mit ihrer Kühnheit, Klarheit und Folgerichtigkeit.
Aber die Weltgeschichte beweist uns, daß diese Folgerichtigkeit zu Absurditäten
geführt hat, zum Beispiel zur Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes und
zu der von Hexen und Zauberern, die beide durch Tatsachen widerlegt werden.
Darum müssen wir auf jene Vorzüge, die nur der Ignorierung oder Leug-
nung unzweifelhafter Tatsachen zu danken sind, verzichten. Doch in Beziehung
auf einen engen Kreis von Tatsachen gebe ich der Germania recht. Auf eine
Frage, die ihrem vollen Inhalt nach auszusprechen hier der Raum fehlt,
muß die protestantische Theologie eine klare und unzweideutige Antwort geben:
ist die wunderbare Führung des jüdischen Volkes samt seinem Prophetentum,


Drei vortrage Harnacks

Vierten und des fünften Jahrhunderts nicht gebunden sind, darin stimme ich mit
Harnack überein. Der dritte Vortrag zeigt, wie die Urchristengemeinden schon
als Erben der großartigen jüdischen Geschichte eine Weltmacht in xotentig,
waren, wie sie eine solche durch ihre Organisation, durch ihren materiellen
Besitz, durch die Aneignung aller geistigen Machtmittel schon im zweiten und
dritten Jahrhundert wirklich wurden, sodaß dem großen Konstantin gar nichts
andres übrig blieb, als die kirchliche Organisation zur Grundlage seines Reiches
zu machen. Freilich sei dieser damals allein offenstehende Weg ein gefährlicher
Weg. Der Staat müsse seinen eignen Grund unter den Füßen haben; er
möge sich freuen, eine geistige Macht, wie die christliche sei, in seinem Schoße
hegen zu dürfen, solle aber nie vergessen, daß er — er selbst sei.

Die Vossische Zeitung hat diesmal kein höhnendes Wort gewagt, sondern
den großen Theologen mit der ihm gebührenden Ehrerbietung behandelt. Die
Germania erkennt zwar, wie schon bemerkt worden ist, Harnacks Vorzüge an,
findet aber, daß sich seine Vorträge in formeller Vollendung mit denen
katholischer Größen nicht messen können. Darüber läßt sich, als über eine
Geschmacksache, nicht streiten; als charakteristisch verdient nur erwähnt zu
werden, daß die zwei ersten von den fünf katholischen Größen, die sie über
Harnack stellt, die Modernisten Schelk und Kraus sind. Noch weniger ist sie
natürlich mit dem Inhalt des Vorgetragnen zufrieden. Besonders tadelnswert
findet sie es, daß Harnack an sehr wichtigen Einwürfen, die ihm gemacht
werden können, vorübergehe, ohne sie zu beachten, andre, die er erwähnt, mit
der Bemerkung abfertige: wer wird so vorwitzig sein, das wissen zu wollen!
Und sie stellt ihm den heiligen Thomas als Muster vor, der ja in der Tat
jede seiner Behauptungen genau formuliert, alle in seiner Zeit möglichen Ein¬
würfe dagegen der Reihe nach widerlegt und alle Fragen mit einem klaren
„ja" oder „nein" beantwortet. Wir Heutigen sind eben nicht mehr so naiv,
zu meinen, wir wüßten alles (das heißt wir heutigen Denker; die Kirch¬
gläubigen wie die Haeckelgläubigen sind beide darin noch ganz Mittelalter).
Wir wissen, daß wir nichts oder wenig wissen, und daß wir in Beziehung
auf die großen Welträtsel höchstens Vermutungen wagen dürfen. Wir sind
bescheidne Agnostiker, Hypothesenbauer und Relativisten geworden. Es ist
wahr, die Scholastik imponiert mit ihrer Kühnheit, Klarheit und Folgerichtigkeit.
Aber die Weltgeschichte beweist uns, daß diese Folgerichtigkeit zu Absurditäten
geführt hat, zum Beispiel zur Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes und
zu der von Hexen und Zauberern, die beide durch Tatsachen widerlegt werden.
Darum müssen wir auf jene Vorzüge, die nur der Ignorierung oder Leug-
nung unzweifelhafter Tatsachen zu danken sind, verzichten. Doch in Beziehung
auf einen engen Kreis von Tatsachen gebe ich der Germania recht. Auf eine
Frage, die ihrem vollen Inhalt nach auszusprechen hier der Raum fehlt,
muß die protestantische Theologie eine klare und unzweideutige Antwort geben:
ist die wunderbare Führung des jüdischen Volkes samt seinem Prophetentum,


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[0403] Drei vortrage Harnacks Vierten und des fünften Jahrhunderts nicht gebunden sind, darin stimme ich mit Harnack überein. Der dritte Vortrag zeigt, wie die Urchristengemeinden schon als Erben der großartigen jüdischen Geschichte eine Weltmacht in xotentig, waren, wie sie eine solche durch ihre Organisation, durch ihren materiellen Besitz, durch die Aneignung aller geistigen Machtmittel schon im zweiten und dritten Jahrhundert wirklich wurden, sodaß dem großen Konstantin gar nichts andres übrig blieb, als die kirchliche Organisation zur Grundlage seines Reiches zu machen. Freilich sei dieser damals allein offenstehende Weg ein gefährlicher Weg. Der Staat müsse seinen eignen Grund unter den Füßen haben; er möge sich freuen, eine geistige Macht, wie die christliche sei, in seinem Schoße hegen zu dürfen, solle aber nie vergessen, daß er — er selbst sei. Die Vossische Zeitung hat diesmal kein höhnendes Wort gewagt, sondern den großen Theologen mit der ihm gebührenden Ehrerbietung behandelt. Die Germania erkennt zwar, wie schon bemerkt worden ist, Harnacks Vorzüge an, findet aber, daß sich seine Vorträge in formeller Vollendung mit denen katholischer Größen nicht messen können. Darüber läßt sich, als über eine Geschmacksache, nicht streiten; als charakteristisch verdient nur erwähnt zu werden, daß die zwei ersten von den fünf katholischen Größen, die sie über Harnack stellt, die Modernisten Schelk und Kraus sind. Noch weniger ist sie natürlich mit dem Inhalt des Vorgetragnen zufrieden. Besonders tadelnswert findet sie es, daß Harnack an sehr wichtigen Einwürfen, die ihm gemacht werden können, vorübergehe, ohne sie zu beachten, andre, die er erwähnt, mit der Bemerkung abfertige: wer wird so vorwitzig sein, das wissen zu wollen! Und sie stellt ihm den heiligen Thomas als Muster vor, der ja in der Tat jede seiner Behauptungen genau formuliert, alle in seiner Zeit möglichen Ein¬ würfe dagegen der Reihe nach widerlegt und alle Fragen mit einem klaren „ja" oder „nein" beantwortet. Wir Heutigen sind eben nicht mehr so naiv, zu meinen, wir wüßten alles (das heißt wir heutigen Denker; die Kirch¬ gläubigen wie die Haeckelgläubigen sind beide darin noch ganz Mittelalter). Wir wissen, daß wir nichts oder wenig wissen, und daß wir in Beziehung auf die großen Welträtsel höchstens Vermutungen wagen dürfen. Wir sind bescheidne Agnostiker, Hypothesenbauer und Relativisten geworden. Es ist wahr, die Scholastik imponiert mit ihrer Kühnheit, Klarheit und Folgerichtigkeit. Aber die Weltgeschichte beweist uns, daß diese Folgerichtigkeit zu Absurditäten geführt hat, zum Beispiel zur Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes und zu der von Hexen und Zauberern, die beide durch Tatsachen widerlegt werden. Darum müssen wir auf jene Vorzüge, die nur der Ignorierung oder Leug- nung unzweifelhafter Tatsachen zu danken sind, verzichten. Doch in Beziehung auf einen engen Kreis von Tatsachen gebe ich der Germania recht. Auf eine Frage, die ihrem vollen Inhalt nach auszusprechen hier der Raum fehlt, muß die protestantische Theologie eine klare und unzweideutige Antwort geben: ist die wunderbare Führung des jüdischen Volkes samt seinem Prophetentum,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/403>, abgerufen am 12.12.2024.