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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Über die Forderung der j)ersönlichkeitserziel?ung

zu kleiden haben. Ich sage ausdrücklich die Form; denn gewiß wird ja die
sachliche Auffassung und Würdigung durch die Lehrer mit dieser Form nicht
erschöpft. Aber Form und Inhalt sollten doch in der möglichsten Überein¬
stimmung stehen. Dagegen sind es nun nicht Bilder lebendiger Persönlich¬
keiten oder doch wenigstens anschauliche und individuell charakterisierende Worte,
sondern konventionelle, formelhafte Schablonen, dem Außenstehenden oft schwer
oder gar nicht verstündliche Bezeichnungen, die zudem in jedem Lande wieder
anders lauten, bei uns etwa "ziemlich gut bis gut" oder "mittelmäßig bis
ziemlich gut", etwa noch mit "mittelmäßig in Klammern", wenn nicht gar
bloße Ziffern mit Dezimalen und Zentesimalen, in die diese Gesamtbeurteilung
der Schüler gekleidet wird. Selbst unsre reifsten Schüler entlassen wir nach
Vollendung des ganzen Bildungsgangs, den sie bei uns zu erreichen ver¬
mögen, ins Leben hinaus mit einer Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, die
sich neben einem mehr oder weniger formelhaften Worte wie "genügend" oder
"gut" in einer Ziffer wie etwa 4,08 oder, Wenns höher kommt, 5,97 Ausdruck
geben muß. Wo bleibt da das Persönliche? Und dieses rechnerische Er¬
gebnis beruht auf so unverbrüchlichen allgemeinen Normen, daß ein Verstoß
auch nur gegen einige Zentesimalen des Durchschnitts eine ernsthafte Verant¬
wortung in Aussicht stellt. Mit bessern: Rechte als über andre Seiten der
Schulentwicklung dürfte man hier vom Standpunkte der Persönlichkeits¬
erziehung aus von einem zu weitgehenden scholastischen Formalismus oder,
wie man weniger höflich auch zu sagen pflegt, von einem gewissen Chinesentum
reden. Die Macht der Zahl und der Formel in der Wissenschaft in allen
Ehren, aber einem so vielseitigen, feingegliederten, tiefwurzelnden, leben¬
sprühenden Organismus, wie er sich uns in der Persönlichkeit anch eines
werdenden Menschen darstellt, vermag sie doch nicht gerecht zu werden.

Und nun noch ein weiteres! Es ist ein alter Spruch, in seiner praktisch¬
technischen Bedeutung zwar verworfen von der exakten Wissenschaft, darum
aber doch wahr in einem tiefern, sittlichen Sinne: "Gold wird nur durch Gold
bewährt." So können auch Persönlichkeiten, soweit sie überhaupt der Beein¬
flussung von außen, also auch der Erziehung zugänglich sind, nur durch Per¬
sönlichkeiten gebildet werden. Darum schaffe man vor allem im Lehrer, man
achte aber auch im Lehrer die Persönlichkeit. Jenes ist freilich zunächst Auf¬
gabe von uns selber. Wie und nach welcher Richtung wir dieser Forderung
nachzukommen haben, das näher nachzuweisen ist hier nicht der Ort. Es
genügt die Grundregel auszusprechen, daß, was an Persönlichkeitsbildung der
Lehrer im Schüler zu Pflegen suchen muß, charaktervolle und selbständige
Eigenart, doch innerhalb der Schranken allgemein sittlich-menschlicher und be-^
ruflicher Pflicht, daß er das nach Maßgabe seiner eignen berechtigten indivi¬
duellen Art vor allem an sich selbst vorbildlich darstellen soll, eingedenk des
alten Schulmeisterspruches: lonZum sse lehr xer xiaeoexts., brevv et etlioax
psr WömM, das heißt auf unsre Aufgabe angewandt: am wirksamsten ist die


Grenzboten l 1909 51
Über die Forderung der j)ersönlichkeitserziel?ung

zu kleiden haben. Ich sage ausdrücklich die Form; denn gewiß wird ja die
sachliche Auffassung und Würdigung durch die Lehrer mit dieser Form nicht
erschöpft. Aber Form und Inhalt sollten doch in der möglichsten Überein¬
stimmung stehen. Dagegen sind es nun nicht Bilder lebendiger Persönlich¬
keiten oder doch wenigstens anschauliche und individuell charakterisierende Worte,
sondern konventionelle, formelhafte Schablonen, dem Außenstehenden oft schwer
oder gar nicht verstündliche Bezeichnungen, die zudem in jedem Lande wieder
anders lauten, bei uns etwa „ziemlich gut bis gut" oder „mittelmäßig bis
ziemlich gut", etwa noch mit „mittelmäßig in Klammern", wenn nicht gar
bloße Ziffern mit Dezimalen und Zentesimalen, in die diese Gesamtbeurteilung
der Schüler gekleidet wird. Selbst unsre reifsten Schüler entlassen wir nach
Vollendung des ganzen Bildungsgangs, den sie bei uns zu erreichen ver¬
mögen, ins Leben hinaus mit einer Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, die
sich neben einem mehr oder weniger formelhaften Worte wie „genügend" oder
„gut" in einer Ziffer wie etwa 4,08 oder, Wenns höher kommt, 5,97 Ausdruck
geben muß. Wo bleibt da das Persönliche? Und dieses rechnerische Er¬
gebnis beruht auf so unverbrüchlichen allgemeinen Normen, daß ein Verstoß
auch nur gegen einige Zentesimalen des Durchschnitts eine ernsthafte Verant¬
wortung in Aussicht stellt. Mit bessern: Rechte als über andre Seiten der
Schulentwicklung dürfte man hier vom Standpunkte der Persönlichkeits¬
erziehung aus von einem zu weitgehenden scholastischen Formalismus oder,
wie man weniger höflich auch zu sagen pflegt, von einem gewissen Chinesentum
reden. Die Macht der Zahl und der Formel in der Wissenschaft in allen
Ehren, aber einem so vielseitigen, feingegliederten, tiefwurzelnden, leben¬
sprühenden Organismus, wie er sich uns in der Persönlichkeit anch eines
werdenden Menschen darstellt, vermag sie doch nicht gerecht zu werden.

Und nun noch ein weiteres! Es ist ein alter Spruch, in seiner praktisch¬
technischen Bedeutung zwar verworfen von der exakten Wissenschaft, darum
aber doch wahr in einem tiefern, sittlichen Sinne: „Gold wird nur durch Gold
bewährt." So können auch Persönlichkeiten, soweit sie überhaupt der Beein¬
flussung von außen, also auch der Erziehung zugänglich sind, nur durch Per¬
sönlichkeiten gebildet werden. Darum schaffe man vor allem im Lehrer, man
achte aber auch im Lehrer die Persönlichkeit. Jenes ist freilich zunächst Auf¬
gabe von uns selber. Wie und nach welcher Richtung wir dieser Forderung
nachzukommen haben, das näher nachzuweisen ist hier nicht der Ort. Es
genügt die Grundregel auszusprechen, daß, was an Persönlichkeitsbildung der
Lehrer im Schüler zu Pflegen suchen muß, charaktervolle und selbständige
Eigenart, doch innerhalb der Schranken allgemein sittlich-menschlicher und be-^
ruflicher Pflicht, daß er das nach Maßgabe seiner eignen berechtigten indivi¬
duellen Art vor allem an sich selbst vorbildlich darstellen soll, eingedenk des
alten Schulmeisterspruches: lonZum sse lehr xer xiaeoexts., brevv et etlioax
psr WömM, das heißt auf unsre Aufgabe angewandt: am wirksamsten ist die


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[0397] Über die Forderung der j)ersönlichkeitserziel?ung zu kleiden haben. Ich sage ausdrücklich die Form; denn gewiß wird ja die sachliche Auffassung und Würdigung durch die Lehrer mit dieser Form nicht erschöpft. Aber Form und Inhalt sollten doch in der möglichsten Überein¬ stimmung stehen. Dagegen sind es nun nicht Bilder lebendiger Persönlich¬ keiten oder doch wenigstens anschauliche und individuell charakterisierende Worte, sondern konventionelle, formelhafte Schablonen, dem Außenstehenden oft schwer oder gar nicht verstündliche Bezeichnungen, die zudem in jedem Lande wieder anders lauten, bei uns etwa „ziemlich gut bis gut" oder „mittelmäßig bis ziemlich gut", etwa noch mit „mittelmäßig in Klammern", wenn nicht gar bloße Ziffern mit Dezimalen und Zentesimalen, in die diese Gesamtbeurteilung der Schüler gekleidet wird. Selbst unsre reifsten Schüler entlassen wir nach Vollendung des ganzen Bildungsgangs, den sie bei uns zu erreichen ver¬ mögen, ins Leben hinaus mit einer Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, die sich neben einem mehr oder weniger formelhaften Worte wie „genügend" oder „gut" in einer Ziffer wie etwa 4,08 oder, Wenns höher kommt, 5,97 Ausdruck geben muß. Wo bleibt da das Persönliche? Und dieses rechnerische Er¬ gebnis beruht auf so unverbrüchlichen allgemeinen Normen, daß ein Verstoß auch nur gegen einige Zentesimalen des Durchschnitts eine ernsthafte Verant¬ wortung in Aussicht stellt. Mit bessern: Rechte als über andre Seiten der Schulentwicklung dürfte man hier vom Standpunkte der Persönlichkeits¬ erziehung aus von einem zu weitgehenden scholastischen Formalismus oder, wie man weniger höflich auch zu sagen pflegt, von einem gewissen Chinesentum reden. Die Macht der Zahl und der Formel in der Wissenschaft in allen Ehren, aber einem so vielseitigen, feingegliederten, tiefwurzelnden, leben¬ sprühenden Organismus, wie er sich uns in der Persönlichkeit anch eines werdenden Menschen darstellt, vermag sie doch nicht gerecht zu werden. Und nun noch ein weiteres! Es ist ein alter Spruch, in seiner praktisch¬ technischen Bedeutung zwar verworfen von der exakten Wissenschaft, darum aber doch wahr in einem tiefern, sittlichen Sinne: „Gold wird nur durch Gold bewährt." So können auch Persönlichkeiten, soweit sie überhaupt der Beein¬ flussung von außen, also auch der Erziehung zugänglich sind, nur durch Per¬ sönlichkeiten gebildet werden. Darum schaffe man vor allem im Lehrer, man achte aber auch im Lehrer die Persönlichkeit. Jenes ist freilich zunächst Auf¬ gabe von uns selber. Wie und nach welcher Richtung wir dieser Forderung nachzukommen haben, das näher nachzuweisen ist hier nicht der Ort. Es genügt die Grundregel auszusprechen, daß, was an Persönlichkeitsbildung der Lehrer im Schüler zu Pflegen suchen muß, charaktervolle und selbständige Eigenart, doch innerhalb der Schranken allgemein sittlich-menschlicher und be-^ ruflicher Pflicht, daß er das nach Maßgabe seiner eignen berechtigten indivi¬ duellen Art vor allem an sich selbst vorbildlich darstellen soll, eingedenk des alten Schulmeisterspruches: lonZum sse lehr xer xiaeoexts., brevv et etlioax psr WömM, das heißt auf unsre Aufgabe angewandt: am wirksamsten ist die Grenzboten l 1909 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/397>, abgerufen am 23.07.2024.